Das Lyriktelefon

Eine Kooperation des Schauspiels Stuttgart mit dem
Deutschen Literaturarchiv Marbach
Live am Telefon
Wochentags ab 17:00 Uhr
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Théatrophone berühmt: Mit Hilfe des Telefons wurden damals Opern- und Theateraufführungen in die Salons des Pariser Bürgertums übertragen – live. Nicht nur der Schriftsteller Marcel Proust gehörte zu den begeisterten Zuhörern dieses telefonischen Theaters.
Dial-A-Poem nannte der amerikanische Performancekünstler und Lyriker John Giorno 1968 seine Aktion, bei der auf Tonbändern aufgenommene Gedichte telefonisch abgehört werden konnten.
In Zeiten reduzierter sozialer Kontakte, in denen unsere Bühnen geschlossen sind, entdecken wir das Telefon als künstlerisches Medium wieder. Am Lyriktelefon lesen Schauspielerinnen und Schauspieler des Schauspiels Stuttgart Zuhörerinnen und Zuhörern live Gedichte vor. Der Fernsprecher imaginiert persönliche Anwesenheit. So werden die eigenen vier Wände zum Raum für Fantasien, ja zur Bühne.

Krisenzeiten sind Hochzeiten der Nachbarschaftshilfe: Für das Lyriktelefon kooperiert das Schauspiel Stuttgart mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, das im Literaturmuseum der Moderne die Ausstellung „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“ zeigt. So stehen im Lyriktelefon Dichterinnen und Dichter im Vordergrund, deren Handschriften in Marbach zu sehen sind. Ab dem 21. Januar lesen Ihnen unsere Schauspieler*innen live Gedichte vor. Zuerst von Rainer Maria Rilke und Hilde Domin, danach von Mascha Kaléko und Erich Kästner. Ab dem 01. März folgen Jörg Fauser und Else Lasker-Schüler. Ab dem 19. März steht die Naturlyrik mit Gedichten von Ingeborg Bachmann, Bertolt Brecht, Joseph von Eichendorff, Hans Magnus Enzensberger, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Hölderlin, Erich Kästner, Sarah Kirsch, Gertrud Kolmar, Christian Morgenstern und Rainer Maria Rilke im Fokus.

Weitere Folgen sind geplant mit Helga M. Novak, Gottfried Benn, Ivan Goll, Hermann Hesse, Robert Gernhardt, Günter Grass und Peter Rühmkorf. Eine besondere Folge des Lyriktelefons präsentiert Gedichte für Kinder.

Zum Abschluss erwartet die Zuhörer*innen ein „Best of“ mit den Lieblingsgedichten der Schauspieler*innen aus allen bisherigen Folgen.

Wochentags außer mittwochs, jeweils von 17 bis 19 Uhr ist das Lyriktelefon aktiv. Die Schauspieler*innen rufen Sie zum gebuchten Zeitpunkt an, um Ihnen eine Auswahl von Gedichten persönlich am Telefon vorzulesen. Buchen Sie einfach Ihren kostenlosen, zwanzigminütigen Time Slot.

Textauswahl: Ingoh Brux (Schauspiel Stuttgart), Christina Schlögl (Schauspiel Stuttgart), Sarah Tzscheppan (Schauspiel Stuttgart) und Jan Bürger (Deutsches Literaturarchiv Marbach)

In Kooperation mit

Pressestimmen

SWR2 Kultur am Mittag
10. Mär 21
Dramaturgin Christina Schlögl im Gespräch mit Astrid Tauch
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Deutschlandradio Kultur Lesart
25. Jan 21
Schauspieler Klaus Rodewald und Jan Bürger (Literaturarchiv Marbach) im Gespräch mit Étienne Roeder
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Frankfurter Allgemeine Zeitung
Susanne Preuß, 11. Mär 21
Kreativ in der Krise
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SWR 4 Aktuell
27. Mai 20
Schauspieler Elmar Roloff im Gespräch mit Verena Neuhausen
Zum Beitrag
WDR 3 Resonanzen
25. Mai 20
Mitinitiator Jan Bürger vom Deutschen Literaturarchiv Marbach im Gespräch mit Sebastian Wellendorf
Zum Beitrag
WDR 5 Scala
25. Mai 20
Mitinitiator und Dramaturg Ingoh Brux im Gespräch mit Rebecca Link
Zum Beitrag
Deutschlandfunk Kultur Fazit
24. Mai 20
Schauspieler Klaus Rodewald im Gespräch mit Britta Bürger
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Ab Mo – 10. Mai 21

„Best of“ mit den Lieblingsgedichten der Schauspieler*innen aus allen bisherigen Folgen

Ab Mo – 26. Apr 21

Naturlyrik 2 mit Peter Huchel, Sarah Kirsch, Johannes Bobrowski und Richard Leising.

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Zu den Gedichten

Best-of Lyriktelefon

Ensemblemitglied Klaus Rodewald über die besondere Erfahrung des Lyriktelefons

„Beim ersten Telefonat war ich noch recht aufgeregt. Es ist wie ein Blind Date. Ich sitze mit meinem Stapel an Gedichten am Schreibtisch und weiß nie, wer am anderen Ende der Leitung ist. Vor uns liegen zwanzig Minuten, die völlig offen sind. Manche hocken beim Zuhören konzentriert auf dem Sofa. Andere sind gerade mit ihren Kindern auf dem Spielplatz. Jemand, für den der Anruf eine Überraschung sein sollte, sagte: `Nein, wir kaufen nichts!´ Eine Frau erwischte ich in der U-Bahn. Ich ließ sie in Ruhe aussteigen, und als ich sie ein paar Minuten später anrief, lag sie in einem Park unter einem Baum und beschrieb mir die Baumkrone, in die sie beim Zuhören blickte, im Hintergrund zwitscherten Vögel. Inzwischen
freue ich mich auf die Gespräche, mir fällt auf, wie sehr die Menschen nach Lyrik dürsten – und nach Live-Erlebnissen. Auch mir geht es so. Viele applaudieren oder lachen, es entstehen zutiefst bewegende Momente. Eine ältere Dame sagte: `Ich zahle Ihnen alles Geld der Welt, wenn Sie zu mir kommen, auf meinem Balkon sitzen und lesen.´ Einen Mann, der querschnittgelähmt ist und in einem Pflegeheim lebt, rief ich um achtzehn Uhr an. Er sagte: `Sie sind der erste Mensch, mit dem ich heute spreche.´
Wenn ich dann vorlese, entwickeln sich richtige Theatermomente, nur ohne Bühne, ohne Grenzen. Ich rief Leute in Australien an, Vietnam, den USA, Indien, Österreich, Frankreich – es sind Deutsche, die im Ausland leben, oder Leute, die einfach deutschsprachige Lyrik hören wollten. Eine Vietnamesin antwortete mir mit einem vietnamesischen Gedicht. Eine Inderin gab mir indische Weisheiten mit. All das verbindet. Es ist ein schönes Gefühl, diese
Verbindung herzustellen, durch die Sprechmuschel hindurch Räume zu öffnen – allein durch die Stimme.“

Ensemblemitglied Valentin Richter

„Das Lyriktelefon war eine geniale Idee und die aseptischste Kontaktform mit dem Publikum. So nah und intim waren sich Spielende und Rezipienten noch nie. Was für ein Glück in dieser oft tristen Zeit. Ich erinnere mich noch, wie ich nach meiner `Premiere´ beim Lyriktelefon an die Organisator*innen schrieb: `Gerade hatte ich meine ersten drei Anrufe beim Lyriktelefon und ich bin absolut begeistert. Ich war schon sehr lange nicht mehr aufgeregt vor einer `Premiere´ und nun, da es vorbei ist, bin ich ganz beflügelt und glücklich. Es hat wahnsinnig Spaß gemacht und dieser unglaublich nahe Kontakt (obwohl man sich doch so fern ist) war beeindruckend. Ich hatte sogar einen Hobby-Lepidopterologen am Telefon und eine Christensen-Expertin. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass das mir so eine Freude bereitet und mich meinem Beruf wieder so nahebringt. Nach dem Parcours nun die nächste spannende Erfahrung in einem anderen Umgang mit unserem so vermissten Publikum.“

Naturlyrik 2

Am 26. April 2021 geht es weiter mit Naturlyrik. Diesmal stehen eine Autorin und drei Autoren im Mittelpunkt, die in der DDR gelebt haben und mit dem politischen System in massive Konflikte gerieten. Gelesen werden Gedichte von Peter Huchel (1903-1981) und der studierten Biologin Sarah Kirsch (1935-2013), die beide nach Westdeutschland emigrierten. Außerdem stehen Tier- und Landschaftsbeschreibungen von Johannes Bobrowski (1917-1965) und dem vergleichsweise unbekannten Richard Leising (1934-1997) auf dem Programm. Die Nachlässe von allen vieren werden im Deutschen Literaturarchiv aufbewahrt. Richard Leising galt seit der Veröffentlichung seiner ersten Gedichte in den 70er Jahre als eine der interessantesten Stimmen der jüngeren Lyrik. Allerdings hörte er überraschenderweise auf zu veröffentlichen. „Ich blieb und habe mich an Ort und Stelle entzogen“, sagte er einmal. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Dramaturg an Kinder- und Jugendtheatern. Erst nach der Wende erlebte er mit dem Band „Gebrochen deutsch“ eine Art Comeback.
Der Lyriker Peter Huchel, 1975 zu Gast im Marbacher Literturarchiv; Foto: Mathias Michaelis, DLA Marbach.
In ihren persönlichen Mitteilungen bewies die Dichterin Sarah Kirsch immer wieder Humor: Bierdeckel, adressiert an den Schriftsteller Karl Mickel; DLA Marbach.

Naturlyrik 1

Bäume, Blumen, Landschaften, Jahreszeiten und Tiere, das sind die typischen Themen der Naturlyrik. Der Mensch setzt sich in Beziehung zur Natur, verschmilzt mit ihr und fühlt sich dort geborgen. Goethe besingt den Mond, Eichendorff führt durchs Zwielicht romantischer Seelenlandschaften und Mörike sehnt sich nach der „ew ́gen Mutterquelle“. Dabei hat ihre Innerlichkeit der Naturlyrik auch den Verdacht der Weltflucht eingetragen. Ihre verklärten Naturidyllen seien Rückzugsorte vor der Zivilisation. Im 20. Jahrhundert hat sich unser Blick auf die Natur grundsätzlich verändert und mit ihr auch das Naturgedicht. Nicht zuletzt wegen massiver Naturzerstörungen verwandelte sich der Sehnsuchtsort in das Schreckensbild von einer bedrohten, wenn nicht sogar zerstörten Natur. Wie kann man angesichts der ökologischen Krise überhaupt noch von Naturlyrik sprechen? „Grün ist gut. Naturschutz, Ökologie, Nachhaltigkeit - niemand scheint etwas gegen die Natur zu haben,“ schrieb Hans Magnus Enzensberger in seinem Gedichtband Natürliche Gedichte (2004). „Nur die Naturlyrik hat einen schlechten Ruf.“ Diesem schlechten Ruf möchten wir entgegentreten.

Jörg Fauser

Jörg Fauser, 1944 geboren, gilt als Enfant terrible, Pionier der deutschen Beat-Literatur, unbeirrbarer Reporter und begnadeter Kolumnist. Bekannt wurde er mit Bestsellern wie „Der Schneemann“ (1981) und „Rohstoff“ (1984), doch sein Leben lang schrieb er neben Romanen, Erzählungen und Essays auch Gedichte. 1987 – in der Zeit seiner größten literarischen Erfolge – verunglückte er unter ungeklärten Umständen tödlich bei München auf der Autobahn: Offenbar war er dort zu Fuß unterwegs. Sein rätselhafter Tod trug mit dazu bei, dass Fauser zum Mythos wurde. Zu denjenigen, die sich auf Fauser berufen und immer wieder auf ihn hinweisen, gehören Friedrich Ani, Benjamin von Stuckrad-Barre und Michael Köhlmeier. Derzeit erscheint bereits die dritte Ausgabe seiner gesammelten Werke im Diogenes Verlag.
Die meisten von Jörg Fausers Gedichten scheinen direkt auf der Straße, in Bars, in guten und sehr schlechten Hotels geschrieben worden zu sein. Ihr Ton ist rau und direkt, die Sujets sind mitunter obszön. Selten nimmt Fauser ein Blatt vor den Mund, und Tabus scheinen nur dazu da, sie hinter sich zu lassen. Manchmal klingt Fauser aber auch so zärtlich und verletzlich wie nur wenige Lyriker seiner Generation. Und dann wundert man sich nicht, dass Else Lasker-Schüler seine Lieblingsdichterin war.

Else Lasker-Schüler

Heute ist die überragende Bedeutung von Else Lasker-Schüler fast unumstritten. 1869 wurde die Dichterin und Dramatikerin im heutigen Wuppertal geboren. Zu ihren Bewunderern und Freunden zählten Karl Kraus, Franz Marc und Gottfried Benn. In der Weimarer Republik galt sie als Institution, und 1932 wurde ihr der renommierte Kleistpreis verliehen. Als Jüdin musste Else Lasker-Schüler 1933 in die Schweiz fliehen. Von dort reiste sie wiederholt nach Palästina. 1945 starb sie in Jerusalem. Ihr letzter Gedichtband Mein blaues Klavier erschien 1943 ebendort in einer Auflage von nur 330 Exemplaren.
1967 schrieb der 23-jährige Jörg Fauser über Else Lasker-Schüler einen seiner ersten größeren Essays. Dort heißt es: „Ihr Mythos lässt sich so schwer in Fakten eines bürgerlichen Lebens übertragen wie eine orientalische Legende. Die Chronisten haben es schwer mit ihr, die sogar, als sie einen wesentlich jüngeren Mann heiratete, den Schriftsteller Herwarth Walden (ein Name, den sie ihm gab und unter dem er bekannt wurde), ihr Geburtsjahr neun Jahre vordatierte und so, als man ihren 50. Geburtstag feierte, schon fast 60 war. […] Die Durchdringung ihres Lebens mit ihrer Poesie bis zu jener Vollendung, in der eins mit dem anderen unauslöslich verbunden ist, macht – abgesehen von der Gewalt ihrer poetischen Sprache, der Tiefe und der Weite ihrer Imagination, der klassischen Einfachheit ihrer Form – heute so sehr wie eh und je die Faszination ihrer Gestalt und Dichtung aus.“ So gesehen wundert man sich nicht, dass Else Lasker-Schüler für Jörg Fauser und viele andere jüngere Dichterinnen und Dichter zum Vorbild wurde.

Der Nachlass von Jörg Fauser und ein bedeutender Teilnachlass von Else Lasker-Schüler befinden sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a. N. – Im Literaturmuseum der Moderne wird nach dem Lockdown auch weiterhin die Ausstellung „Planet Motzstraße. Else Lasker-Schülers Lebenszeichen aus Berlin“ mit bislang unbekannten Briefen, Postkarten und Zeichnungen zu sehen sein.
Else Lasker-Schüler: Postkarte an Nicolaas Beversen vom 21. Dezember 1921 aus den Beständen des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Abschließend porträtiert die Dichterin sich selbst als "Jussuf, Prinz von Theben".

Mascha Kaléko

Mascha Kaléko ist legendär dafür, dass in ihren Gedichten, wie die Rezitatorin Gisela Zoch-Westphal einmal festgestellt hat, „Poesie und Witz“ mit existenzieller, ja „hoffnungsloser Heimatlosigkeit“ aufeinandertreffen. Mit sieben Jahren kam die 1907 geborene Mascha mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus Galizien nach Deutschland. Von 1918 an lebte Kaléko in Berlin, wo sie in den frühen 30er Jahren mit Kabarett- und Zeitungsgedichten, vor allem aber durch ihr im Rowohlt-Verlag 1933 veröffentlichtes Lyrisches Stenogrammheft bekannt wurde. Vieles an ihren Gedichten erinnert an Erich Kästner und Kurt Tucholsky, aber zugleich ergreift hier unverkennbar eine junge, unabhängige Frau das Wort.
Kaléko war Jüdin, bald nach ihren ersten Erfolgen zwangen die Nationalsozialisten sie zum Schweigen und 1938 ins Exil. Mit ihrem Mann Chemjo Vinaver und ihrem Sohn zog sie zunächst nach New York. Fortan war ein Gefühl der Fremdheit prägend für ihr Leben. Vor allem nach dem überraschenden Tod ihres Sohnes und dem Umzug nach Israel war ihr letzter Lebensabschnitt überschattet von Einsamkeit.
1975 starb Mascha Kaléko in Zürich an Krebs. Ihre Lyrik allerdings wurde postum immer populärer. 1977 erschien der Gedichtband In meinen Träumen läutet es Sturm (1977), der sowohl eine Auswahl der frühen Berliner Lyrik als auch in den USA entstandene Texte und einige Gedichte aus ihren letzten Jahre enthielt. Die später erschienenen Bände Sei klug und halte dich an Wunder und Mein Lied geht weiter gehören zu den meistverkauften Lyrik-Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts. Kalékos Gedichte sind auf einzigartige Weise humorvoll, nüchtern, zynisch und ergreifend zugleich. Vor allem ihr Gespür für Pointen überrascht immer wieder.
Mascha Kalékos Nachlass liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Ihr Werk wird von Gisela Zoch-Westphal verwaltet.
Mascha Kalékos Mitgliedskarte für den 'Schutzverband Deutscher Schriftsteller', 1932; Foto: DLA Marbach.

Erich Kästner

Mit gesellschaftskritischen Gedichten und Essays machte Erich Kästner – 1899 in Dresden geboren – in der Weimarer Republik von sich reden. 1931 festigte der Roman Fabian seinen Ruf. Kästner war bekennender Gegner des Nationalsozialismus. 1933 wurden auch seine Bücher neben der Berliner Staatsoper verbrannt. „Ich war der einzige der vierundzwanzig [Schriftsteller], der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizuwohnen. […] Es war widerlich.“ Dennoch konnte er auch weiterhin im In- und Ausland publizieren, wenn auch unter Pseudonym.
Nach Kriegsende blieb er politisch aktiv und engagierte sich als Pazifist gegen die Remilitarisierung und die atomare Aufrüstung. Seine größten Erfolge hatte Kästner mit den Kinderbüchern Emil und die Detektive (1929), Pünktchen und Anton (1931) und Das fliegende Klassenzimmer (1933). Daneben schrieb er Zeit seines Lebens Gedichte. In ihnen fanden seine Nachdenklichkeit, sein Humor und sein kritischer Blick zueinander.
Erich Kästner starb 1974 in München. Sein schriftstellerischer Nachlass wird im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt. Einige Stücke aus diesem Bestand sind in der Dauerausstellung des Literaturmuseums der Moderne zu sehen, etwa die Manuskripte seiner Romane Emil und die Detektive und Fabian.
Erich Kästners Werke erscheinen im Atrium Verlag, der auch seine Rechte verwaltet.
Erich Kästner, fotografiert von Erich Ohser, 1927; Foto: DLA Marbach.

Hilde Domin

Noch als Studierende wurden Hilde Domin – geboren 1909 als Hildegard Dina Löwenstein – und ihr Ehemann Erwin Walter Palm gezwungen, zunächst nach Italien, dann nach England und schließlich in die heutige Dominikanische Republik zu emigrieren. Beide stammten aus jüdischen Familien. Domin hatte in Heidelberg und Berlin Sozial- und Staatswissenschaften studiert und sich früh mit den Gefahren, die von Hitler ausgingen, beschäftigt. Im Exil wurde sie zur Dichterin. Sich selbst nannte sie „eine Sterbende, die gegen das Sterben anschrieb“. Das Paar kehrte 1954 nach Europa zurück. Fünf Jahre später erschien Hilde Domins erster Gedichtband Nur eine Rose als Stütze im S. Fischer Verlag.
In Domins Werk spiegeln sich die Erfahrungen von Flucht und Exil wider. Gefühle von Instabilität aller Beziehungen und Fremdheit in der eigenen Heimat prägten Domins Leben auch nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. Über fünf Jahrzehnte hinweg entstanden weitere Gedichtbände, aber auch Erzählungen, der Roman Das zweite Paradies (1968)und eine Fülle von Essays. 2006 starb Hilde Domin in Heidelberg, ihr Nachlass liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Zu ihrem 100. Geburtstag erschienen im S. Fischer Verlag ihre Sämtlichen Gedichte (herausgegeben von Nikola Herweg und Melanie Reinhold) sowie der Band Die Liebe im Exil. Briefe an Erwin Walter Palm aus den Jahren 1931-1959 (herausgegeben von Jan Bürger und Frank Druffner), mit dem ihr umfangreiches Briefwerk erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Kärtchen von Hilde Domin an ihren späteren Mann Erwin Walter Palm, undatiert, Heidelberg, im Frühjahr 1931 (DLA Marbach)

Rainer Maria Rilke

1975, zu Rainer Maria Rilkes 100. Geburtstag, stellte Hilde Domin fest: „Es war eine der Verblüffungen meiner Rückkehr nach Deutschland, 1954, wie abgewertet Rilke hier war, während er in Lateinamerika neue Übersetzer anzog. Wer etwas auf sich hielt, empfahl Trakl, als den ungleich Bedeutenderen.“
Dieser Befund gehört lange der Vergangenheit an: Im 21. Jahrhundert ist Rilke als einer der wichtigsten Vertreter der literarischen Moderne fast unumstritten. Gedichte wie „Archaïscher Torso Apollos“ oder „Der Panther“ stellen für Menschen aus allen Altersgruppen den Inbegriff von Lyrik dar. Die Erkundung der eigenen Innenwelt in der Natur, mit anderen oder auch in Dingen, wie sie Rilke mit seiner Dichtung vorführt, fasziniert nach wie vor.
Rilkes Leben und literarisches Schaffen um die Jahrhundertwende waren geprägt von Begegnungen mit verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern, darunter Auguste Rodin oder die Mitglieder der Künstlerkolonie in Worpswede sowie ausgedehnten Aufenthalten und Reisen in Frankreich, Italien und Russland.
Bedeutende Teile seines Nachlasses befinden sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach, und einige seiner Manuskripte und Briefe sind dort im Literaturmuseum der Moderne zu sehen. 2017/18 sorgte die Ausstellung Rilke und Russland für Aufsehen, die in Marbach und Moskau gezeigt wurde. Der von Thomas Schmidt herausgegebene Ausstellungskatalog ist nach wie vor lieferbar.
Briefe Rainer Maria Rilkes aus dem Archiv des Insel Verlags, DLA Marbach

Inger Christensen

Die Dänin Inger Christensen (1935-2009) gehörte zu den großen Stimmen der literarischen Avantgarde. International bekannt wurde sie mit den umfangreichen Gedichtzyklen „Det“ (dt. „Das“) von 1969 und „Alfabet“ (dt. „Alphabet“) aus dem Jahr 1981, dem sie die Fibonacci-Folge zugrunde gelegt hat. Diese Zahlenreihe wurde nach dem italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci benannt: In ihr besteht jedes Glied der Reihe aus der Summe der beiden vorangehenden Zahlen (also: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13…). In Inger Christensens Langgedicht entsteht durch das Ordnungsmuster der Zahlenfolge ein untergründig regelmäßiges Wachstum, das an biologische Phänomene erinnert. Die Nähe der Lyrikerin zu den Naturwissenschaften kommt nicht von ungefähr, denn nach dem Abitur hatte sie Biologie und Chemie studiert.
Ein Echo dieser naturwissenschaftlichen Vergangenheit scheint auch ihr heute wohl bekanntester Gedichtzyklus zu sein: Das Requiem „Sommerfugledalen“ von 1991, das Hanns Grössel vier Jahre später hervorragend für die deutsche Ausgabe der Werke Inger Christensens im Kleinheinrich-Verlag übersetzte.
Spätestens seitdem gehören die Sonette aus „Das Schmetterlingstal“, aus denen wir lesen, zu den einflussreichsten Gedichten der europäischen Gegenwartsliteratur.
Christensen sagte einmal, sie selbst habe erst spät verstanden, dass der klassische Sonettenkranz ein genauso überzeugendes System sei wie die Fibonacci-Folge. Ihre Lesungen aus dem „Schmetterlingstal“ gehörten zu den Höhepunkten vieler Lyrikfestivals, weltweit. Der Übersetzer, Rundfunkredakteur und Essayist Hanns Grössel, der so viel für sie getan hat, starb 2012. Sein Nachlass liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Eine Neuausgabe des „Schmetterlingstals“ ist in der Bibliothek Suhrkamp erschienen.

Handschriftenprobe von Inger Christensen, Foto: Jan Bürger

Paul Celan

Vor bald 100 Jahren wurde Paul Celan in Czernowitz geboren. Dies ist einer der Anlässe dafür, dass wir im „Lyriktelefon“ eine Auswahl von Gedichten aus seinem eigentlichen Debüt „Mohn und Gedächtnis” von 1952 lesen. Der schmale Gedichtband erschien in der Deutschen Verlags-Anstalt, die ihren Sitz damals in der Stuttgarter Neckarstraße hatte, also ganz in der Nähe der Staatstheater. Für Lyrik war das Buch sofort außerordentlich erfolgreich, wobei von der Kritik erschreckend oft ausgeblendet wurde, dass es sich bei ihm um eine der frühesten dichterischen Auseinandersetzungen mit der Shoah in der Bundesrepublik handelte.
Weltberühmt wurde die „Todesfuge“, die das Zentrum des Bandes bildet. Für unsere Lesung haben wir kürzere Gedichte aus „Mohn und Gedächtnis“ ausgewählt, die Celan in all seiner thematischen Vielfalt und auch in seiner Rätselhaftigkeit zeigen. Manche von ihnen wirken verspielter als die berühmtesten Celan-Gedichte, andere offen erotisch, so wie das Gedicht „Corona“, das aufgrund seines Titels in den vergangenen Monaten eine irritierende Berühmtheit gewonnen hat.
Von „Mohn und Gedächtnis“ gibt es einen Reprint der Erstausgabe mit einem Nachwort von Jan Bürger.
Paul Celans Nachlass liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Zahlreiche Dokumente werden seit Mai in der Ausstellung „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“ im Literaturmuseum der Moderne gezeigt.

Gertrud Kolmar

Obwohl die 1894 in Berlin geborene und 1943 in Auschwitz ermordete Gertrud Kolmar zu den wichtigsten deutschsprachigen Lyrikerinnen gehört, sind ihre Werke einem breiteren Publikum immer noch recht unbekannt. Zu Lebzeiten konnte Kolmar als Jüdin, die auch nach 1933 in Deutschland blieb, drei Bücher veröffentlichen, wobei das Erscheinen ihres Gedichtbands „Die Frau und die Tiere“ 1938 schon mit der Reichspogromnacht und der Auflösung der letzten zugelassenen jüdischen Verlage zusammenfiel. Von 1941 an war Gertrud Kolmar Zwangsarbeiterin.
Ihren Gedichten ist die Unterdrückung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten nur indirekt anzumerken. Sie beeindrucken vor allem durch ihre überbordende Sinnlichkeit und Expressivität. Im „Lyriktelefon“ lesen wir Beispiele aus Kolmars Zyklus „The German Sea“, der wohl Ende 1934 entstanden ist. Die Autorin hatte den Plan, diese Gedichte als Übersetzungen aus dem Englischen zu tarnen und zu veröffentlichen, was ihr allerdings nicht gelang. Außerdem lesen wir u. a. „Verwandlungen“, eines ihrer bekanntesten Gedichte, und „Die Dichterin“ aus „Die Frau und die Tiere“.
Eine hervorragende Gesamtausgabe der Lyrik Gertrud Kolmars ist im Göttinger Wallstein Verlag erschienen. Ihr kleiner Nachlass mit Manuskripten und Briefen, der die Grundlage dieser Ausgabe war, findet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Friedrich Hölderlin

Auch 250 Jahre nach seiner Geburt in Lauffen am Neckar ist Friedrich Hölderlin einer der geheimnisvollsten Lyriker deutscher Sprache geblieben. Hölderlin zu lesen, das war nie einfach. Vielleicht findet man am besten Zugang zu seinen Gedichten, wenn man sich zunächst einmal möglichst unbefangen auf ihre rhythmischen Schönheiten einlässt. Viele seiner Verse bleiben regelrecht im Ohr. Daher ist es kein Zufall, dass manche von ihnen sprichwörtlich wurden – etwa „Was bleibet aber, stiften die Dichter“. Doch wer weiß schon noch, dass diese Sentenz am Ende von Hölderlins 1803 entstandener Hymne Andenken steht? Im Lyriktelefon wird Andenken vollständig gelesen.

Außerdem haben wir Hyperions Schicksalslied, An Diotima (Komm und siehe die Freude…), Der Winkel von Hahrdt, Die Heimat, Abendphantasie, das oft im Schulunterricht behandelte Hexametergedicht Die Eichbäume und nicht zuletzt Hölderlins berühmtes Hälfte des Lebens ausgewählt.

Die meisten überlieferten Handschriften Hölderlins werden heute in unmittelbarer Nachbarschaft der Stuttgarter Staatstheater aufbewahrt, im Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek. Demnächst werden hier viele seiner Manuskripte in der wegen der Corona-Krise verschobenen Jubiläumsausstellung „Aufbrüche – Abbrüche. 250 Jahre Friedrich Hölderlin“ zu sehen sein. Seit dem 23. Mai 2020 geöffnet ist die Ausstellung „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“ im Marbacher Literaturmuseum der Moderne.

Alle Informationen zum Hölderlin-Jubiläum, das nicht nur in Baden-Württemberg gefeiert wird, finden Sie hier.

Nelly Sachs

Neben Paul Celan ist die 1891 in Berlin geborene Nelly Sachs die große Stimme der Überlebenden des Holocaust. Noch am 16. Mai 1940 konnte die Jüdin zusammen mit ihrer Mutter nach Stockholm fliehen. So entgingen die beiden der Deportation in ein Lager. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Nelly Sachs zu den ersten, die über die Schrecken der Schoah schrieben. Bereits 1947 wurde in Ostberlin ihr Band In den Wohnungen des Todes gedruckt, aus dem wir die Gedichte Lange haben wir das Lauschen verlernt!, Chor der Steine und eines der Gebete an den toten Bräutigam ausgesucht haben.

Mit der schmalen Sammlung Flucht und Verwandlung, die 1959 in der Deutschen Verlags-Anstalt veröffentlicht wurde, etablierte sich Nelly Sachs im westdeutschen literarischen Leben. Der Verlag hatte damals seinen Sitz in der Stuttgarter Neckarstraße. Aus Flucht und Verwandlung lesen wir einige unbekanntere Gedichte voller Rhythmus und Melancholie: Kommt einer von ferne, Wer zuletzt hier stirbt, Jäger mein Sternbild, Zwischen deinen Augenbrauen, So weit ins Freie gebettet, Tänzerin bräutlich und Kind Kind im Orkan des Abschieds. Das für Sachs ungewöhnlich leichte und direkte Auf dem Markt findet sich in ihrer Sammlung Fahrt ins Staublose, die 1961 im Suhrkamp Verlag erschien. Der Suhrkamp Verlag betreut seither ihr Gesamtwerk.

1966 wurde Nelly Sachs gemeinsam mit Samuel Joseph Agnon der Nobelpreis für Literatur verliehen. In der Laudatio hieß es damals: „Ihr lyrisches und dramatisches Werk gehört jetzt zu den großen Klagen der Literatur, aber das Gefühl der Trauer, welches sie inspirierte, ist frei von Haß und verleiht dem Leiden der Menschheit Größe.“
Nelly Sachs starb vor 50 Jahren in Stockholm, wo heute ihr Hauptnachlass aufbewahrt wird. Eine zweite bedeutende Sammlung ihrer Manuskripte findet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach.