Zuschauerkritiken

Finden Sie es reizvoll, mehrmals jährlich in einer Premiere zu sitzen und gleich danach eine Kritik über das Stück zu schreiben, die auf unserer Website veröffentlicht wird? Dann schreiben Sie bitte ein paar Zeilen über Ihre ganz persönliche Motivation an:
julia.schubart@staatstheater-stuttgart.de

Zu „Der Zauber­lehrling“

Ach, der Alte und die Jungen! – Beide sind magic! - von Heike Butsch

Es ist zunächst wie so oft beschrieben und beklagt:
Der alte Zaubermeister, kraftlos, erfolglos geworden, resigniert, am Ende, dem Galgenstrick näher als der Zauberschnur. No more magic. Und die vier Jungen, die Zauberlehrlinge werden wollen, aber –laut Urteil des Meisters – nichts können und für ihn ungeeignet erscheinen. Für ihn haben sie no magic. Sie wollen mehr chillen, haben wenig Willen, sind ohne Power und Ziele. Es ist nicht so, dass sie nichts können. Aber ihre Beweggründe und ihr Können dienen der Sache nicht, sind nicht wesentlich für den Beruf des Zauberers. Ob man Klavier spielen oder Goethes Ballade vom Zauberlehrling auswendig aufsagen kann, ist nicht von Bedeutung. Und ob man als Kind gerne bei Zaubershows war, ist letztendlich auch nicht entscheidend. Den Jungen aber scheint diese Ausbildung gerade recht: Große Wirkung mit wenig Aufwand! Und immer schön auf die „work-life balance“ achten!
Angesprochen auf seinen eigenen Werdegang, sieht der alte Meister den Weg seiner Ausbildung vor sich und es lodert das verloren geglaubte Feuer wieder in ihm auf, die Magic, die ihn im Leben antrieb und voranbrachte. Und das ist auch die erste Erkenntnis für die Jungen: Jeder Mensch braucht jene innere Zauberkraft, die ihn motiviert, beflügelt und wachsen lässt. Die zweite Erkenntnis ist dann: Jeder Mensch muss für sich entdecken, was für ihn die Magic auslöst, was ihn verzaubert, was ihn befeuert, was ihm Kraft und Antrieb gibt. Jeder muss erkennen, wo seine Talente, Fähigkeiten und Möglichkeiten liegen.
Aufgewühlt von seiner Vergangenheit, angerührt und wohl spürend, was er bei den Jungen anbahnen und grundlegen könnte, willigt er in ihre Ausbildung ein und wird ihr Meister. Er spürt seine Verantwortung, Verpflichtung und Berufung, sein Wissen weiterzugeben und bei den Jungen ihr persönliches Feuer anzuzünden, ihre Magic zu entfachen.
Bald entdeckt er mit ihnen ihre Talente und Neigungen. Er erkennt die Vorzüge ihrer Jugend und findet wieder Lust an Späßen. Er nimmt sie aber auch hart ran, vermittelt Fachwissen, lästigen Bürokram und lässt sie üben. Die Lehrlinge wiederum erkennen, dass sie vom alten Meister viel lernen können, dass er es gut mit ihnen meint und er sich wahrhaft um ihre gute Ausbildung bemüht. Es entsteht ein Verhältnis von Geben und Nehmen, von gegenseitiger Wertschätzung und Achtung. Das führt beim Meister und den Lehrlingen zu einem neuen Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl.
Eines Tages, als der Meister geht, um neues Unterrichtsmaterial zu beschaffen, werden die vier Lehrlinge übermütig und kreieren eine neue Zaubernummer. In Anlehnung an Goethes Ballade tanzen sie zuerst mit und um einen Besen und lassen sich dann von ihm immer wieder neuen Schaum für ihre chillige Badewannennummer bringen. Sie sind ausgelassen und fröhlich. Als sie das Ganze nicht mehr stoppen können und der Schaum das ganze Haus unter Wasser setzt, geraten sie in Verzweiflung. Da kommt der Meister zurück und vermag den Besen zu stoppen. Er sieht die Bescherung und die Folgen ihres Versuchs. Er ärgert sich, ist aber nachsichtig, als er ihre zerknirschten Entschuldigungen hört. Er nimmt es, wie es ist: Ein misslungener Versuch. Die Lehrlinge fühlen sich klein, aber der Meister nennt sie dennoch „Kollegen“. Die Lehrlinge begreifen, was der Meister ihnen von Anfang an gesagt hatte: Zauberer werden dafür bezahlt, dass sie das Publikum täuschen und austricksen. Aber sie selbst müssen ihr Handwerk beherrschen. Hinter ihrer Kunst steckt Können! Von Nichts kommt nichts! Für diese Art von Magic muss man hart lernen und üben!
Die Jungen gehen und sagen, dass sie die Sache in Ordnung bringen wollen.
Der Meister sieht seine Aufgabe erfüllt. Wieder ist er am Ende, aber mit Würde und Respekt. Er tritt ab, wie es einem Zaubermeister gebührt: Mit Magic! Er entschwindet hinter einem Tuch, fährt auf in den Himmel. Pschsch! Husch! Weg!
Das Ende bleibt offen. Werden die jungen Zauberer am nächsten Tag wirklich wieder kommen und in Ordnung bringen, was sie angerichtet haben? Werden sie das Vermächtnis und das Erbe des Meisters annehmen und fortführen? Werden sie ihre persönlichen Gaben zu Aufgaben machen?
Die ewig drängende und immer aktuelle Frage bleibt: Wie werden sich die Jungen den Gegebenheiten und den Aufgaben der Welt stellen? Haben sie genug Wissen, Können, Kraft, Ziele, Visionen, Magic? Werden sie die Erde bebauen und bewahren, das Wunder und den Zauber allen Lebens sehen und achten? Oder werden sie nur ihren Spaß suchen, Schaum schlagen, Seifenblasen und Luftnummern produzieren?
Das Musical schafft es in unterhaltsamer und trefflicher Weise, die Sprache und Eigenheiten der Alten und Jungen darzustellen, ihre Wirkung aufeinander aufzuzeigen und im Spiegelbild eigenes Erkennen zu ermöglichen. Es zeigt, dass Alt und Jung zusammengehören und wichtig füreinander sind.
Nach der Veranstaltung wartete ich am Ticketautomaten in der Tiefgarage. Eine ältere Dame bat ihre Tochter, Eintrittskarten für die Enkel zu besorgen, – für einen nochmaligen, gemeinsamen Besuch des Musicals. Das sagt alles – und hat Magic!

Der Zauber­lehrling - von Karolin Wojcik

„No Magic“ prangt in Großbuchstaben zu Beginn des Stückes. Was den Zuschauer bei Der Zauberlehrling erwartet, hat aber definitiv eine Magie inne.

Der Zaubermeister, Herr Schleck, möchte sich an einem Strick das Leben nehmen. Er sieht weder Hoffnung noch Lebenssinn. Als Noah, Felix, Noelle und Eufemia seine Zauberschule betreten, ist Herr Schleck alles andere als begeistert. Mit den Tugenden und Werten der jungen Leute kann er absolut nichts anfangen.
Er beschließt trotzdem, sie als Azubis einzustellen und ihnen seine Zauberkunst näher zu bringen. Das Resultat ist nichts weiter als pures Chaos.
Nach einem Abend, den die Azubis mit tiefgründigen Gesprächen in einer Badewanne verbringen, scheint das Chaos perfekt: Ein Wasserschaden im gesamten Gebäude der Zauberschule und unbändige Wut des Meisters, „Herr Schreck“.
Kurz scheint die Situation ausweglos. Die Azubis erkennen aber schnell, dass sie zu weit gegangen sind, und gemeinsam mit dem Zaubermeister schaffen sie es, die Situation zu retten und sich ihren Lebenswelten anzunähern.

Eine Ode an das Zusammenleben von Jung und Alt wurde mit dieser Inszenierung von Der Zauberlehrling geschaffen. Der Hochmut und die Gelassenheit der Jugend prallen auf die Rationalität und Vernunft der älteren Generation. Das anfängliche Unverständnis gegenüber dem anderen wandelt sich während des Stückes zu einem Voneinander-Lernen und Bereichern der eigenen Realität.

Neu inszenierte Lieder mit aktuellen Bezügen, moderne Jugendsprache gepaart mit einer gewählten Ausdrucksweise, authentische Charaktere, Elemente einer Zaubershow, überraschende Effekte und eine Geschichte mit Tiefgang, die zum Nachdenken anregt, zeichnen das Stück aus.

Eine sehr kurzweilige Inszenierung eines Klassikers, welche ein schwieriges Thema humorvoll näherbringt und Eindruck hinterlässt.

Zu „Der große Wind der Zeit“

Der große Wind der Zeit - von Inge Amrouch

Stephan Kimmig inszeniert Joshua Sobols „Spannungsdrama“, welches uns über mehrere Generationen beginnend mit der heutigen Zeit bis zurück in die 1930er Jahre ins Nazideutschland nach Berlin führt, vor dem Hintergrund des Konflikts Israel-Palästina.
Gleich zu Anfang eine Anmerkung: Ich hätte erwartet, dass vielleicht die aktuelle Lage Israel Palästina auch mit eingeflochten wird. Eventuell hat man diese bewusst weggelassen, um nicht zu sehr politisch zu sein, bzw. ohne offenes und etwas hoffnungsvolles Ende dazustehen.
Die absoluten Hauptcharaktere im Stück sind die junge Libby, Top-Verhörspezialisten beim israelischen Militär, und ihre charismatische Urgroßmutter Eva.
Libby begegnet beim Verhör dem Palästinenser Adib, der als Historiker in England lebt. Dieses Verhör gibt uns einen guten Einblick in die für beide Seiten unangenehme Situation. Jeder scheint die Welt des anderen zu kennen. Doch eigentlich zweifeln beide und die Vergangenheit belastet sie.
Libby ist verzweifelt, hervorragend verkörpert von Camille Dombrowsky. Sie braucht Antworten von ihrem geliebten Opa Dave. Bei ihm taucht das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva auf. Die uns mit auf Zeitreise nimmt und Libby so einiges offenlegt. Eva ist mega präsent und füllt den ganzen Raum. Sie ist laut, ging immer ihren eigenen Weg und ließ sich nicht von anderen abbringen, wenn sie ein Ziel vor Augen hatte. Und sie ist fest davon überzeugt, „Libby ist Eva!“ Libby versteht zu Anfang gar nichts mehr und verzweifelt immer mehr. Sie muss endlich ihren geliebten Großvater Dave treffen und ihn befragen zur Familiengeschichte.

Je mehr die beiden Frauen zusammen sind, fügt sich immer wieder etwas dazu. Im Leben der beiden und auch beim Großvater, alle wollen etwas bewirken und scheitern dann doch wieder an dem im Hintergrund immer präsenten Israel-Palästina-Konflikt, der so fest in den Familien verankert ist, dass es keine Chance auf Glück zu geben scheint.
Großvater Dave sticht als mega cooler Zeitgenosse heraus. Er und Eva sind die, die sich ihre Freiheiten immer genommen haben und leider bei den wichtigsten Entscheidungen dann doch eingeknickt sind. Oder einfach hier nicht stark genug waren, um für ihr Glück zu kämpfen gegen die Widerstände aus der eigenen Familie.
Was besonders auffällt: Libbys Eltern sind genauso mit sich selbst beschäftigt wie Evas Eltern, das prägt die Frauen, weil sie sich nicht verstanden fühlen.
Genau passend zur jeweiligen Zeit, finde ich, ist die Kleidung von Evas Eltern, der Menschen im Kibbuz oder bei Dave und auch allen anderen Schauspielern gewählt. So sind die verschiedenen Zeiten gut erkennbar. Für Eva selbst hätte ich mir gerne noch etwas mehr Glitzer und Glamour gewünscht, für die wilde Zeit in Berlin.
Herauszuheben ist das Bühnenbild, eine sich drehende Betonfassade, auf der sich das komplette Stück gut abbilden lässt. Es wirkt kahl und unfertig, bzw. oberflächlich und nüchtern, was optimal die Stimmung bei vielen Situationen widerspiegelt.
Das Ende der Geschichte hat mir sehr gut gefallen, lässt es doch die Zukunft zwischen Libby und Adib offen. So besteht doch ein Funken Hoffnung, dass die beiden einen gemeinsamen Weg finden, irgendwo außerhalb von Israel und Palästina.

Töchter Zions – quo vadis Israel? Joshua Sobols „Der große Wind der Zeit“ weht verstörend aktuell - von Christine Kohler

„Alles ist möglich und alles ist unmöglich!“ – so wird das Publikum eingestimmt auf einen langen Theaterabend, der tief in die Geschichte Israels, dem Land der Juden, eintaucht, das sich seit dem 7. Oktober 2023 wieder mit der Frage konfrontiert sieht, wie seine Existenz auf Dauer gesichert werden kann.

Eine riesige, sich drehende dreistöckige Bauruine aus massivem Beton füllt die Bühne – oder ist es ein Unterstand oder ein Schießstand oder ein Sprungturm? Das Bild ist Symbol für die harte Wirklichkeit, mit der sich die Völkerschaften in diesem historisch begehrten Landstrich zwischen Mittelmeer und Jordan seit Generationen konfrontiert sehen.
Der über 500 Seiten umfassende Roman des Dramatikers Joshua Sobol von 2017 – Vorlage für das Theaterstück, das er selbst verfasst hat – erzählt ein jüdisches Familienepos über vier Generationen und zugleich die Geschichte Israels bis in die heutigen Tage.

Libby, voll Vitalität dargestellt von Camille Dombrowsky, Offizierin der israelischen Armee und Verhörspezialistin, steht kurz vor ihrem Entlassungsurlaub nach 30 Monaten Militärdienst. Ihre letzte Befragung eines vermeintlichen Terroristen, der sich als Historiker aus London mit palästinensischen Wurzeln herausstellt, endet irritierend. Adib, gespielt von Felix Strobel, fordert Wiedergutmachung für die Vertreibung seiner Großmutter durch Libbys Großvater. Libby fährt daraufhin – anstatt nach Hause – zu ihrem Großvater Dave in den Kibbuz. Dave, sympathisch gespielt von Sebastian Röhrle, ein altgewordener Rebell, der durch kluges Geschäftsgebaren zum Millionär geworden ist, fährt inzwischen am liebsten auf seiner Harley Davidson durch die Wüstenregionen Israels und der umgebenden Länder. Im Haus von Dave stößt Libby auf das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva und taucht fasziniert in ihre Welt ein. Eva, gespielt von Paula Skorupa, Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Wien, war eine starke, lebenslustige Frau, die in den frühen dreißiger Jahren Kibbuz, Mann und Kind verließ und in Berlin als Tänzerin auftrat, bevor sie, bedroht von den Nazis, in ihren Kibbuz zurückkehrte und Guerillakämpferin wurde.
Libby begibt sich auf Spurensuche ihrer Familie, die sie zurückführt in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Zionismus fällt auf fruchtbaren Boden bei Juden in Europa, die, zunächst vor allem in Russland und Osteuropa, zunehmend verfolgt und vertrieben werden. Fluchtpunkt und Ziel der Juden ist das Land der alttestamentarischen Israeliten. Die Kibbuz-Idee entsteht bei den ersten Einwanderern im britischen Mandatsgebiet Palästina. Die Inszenierung durch Stefan Kimmig folgt diesen unterschiedlichen Schauplätzen im Verlauf der Zeiten. Sie reichen vom Kibbuz in Palästina, über das Berlin der 20er Jahre mit Abstecher zur Clique um Bertolt Brecht, von Eva Lederjackett genannt, und seine Dreigroschenoper, über das bürgerliche Wien der reichen jüdischen Eltern, Guerrillakämpfe vor der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 bis in die heutigen Tage. Dabei wechselt das Geschehen dynamisch vom Bühnenraum ins Publikum.
Das Gedächtnis ist die Grundlage der Intelligenz. Ohne Gedächtnis wird die Realität unlesbar. – so die Überzeugung des Autors Joshua Sobol. Den blinden Herkunftsfanatismus zwischen den beiden Völkerschaften, die ihre nationale Identität unter britischer Herrschaft geformt hatten, sieht er als Quelle allen Unheils, das diese Weltregion bis heute bestimmt.

Wie aber wird das Unheil begrenzt oder gar beendet? Libby, die beim Lesen der Tagebücher immer mehr die Identität ihrer Urgroßmutter Eva annimmt – „Libby ist ich“ -, ist überzeugt, dass es ohne Besserung der Menschen keine Besserung der Welt geben wird. Kann Liebe, vor allem polyamore Liebe hier abhelfen? Das war die Idee des Kibbuz. Doch Eva hat diese Welt verlassen, um ihre Freiheit im Ausdruckstanz in Berlin zu suchen – Paula Skorupa bekommt für ihren ekstatischen Tanz einen extra Szenenapplaus. Begleitet von dramatischen Klängen aus der E-Gitarre ist diese Freiheit schon bald vorbei. Sie kehrt über Wien zurück ins vermeintlich sichere Palästina: I tell you we must die.

Die Geschichte changiert zwischen weltpolitischen Krisen im arabischen und europäischen Raum und persönlichen Geschichten, denn ohne Menschen keine Weltgeschichte. So liebte einst Libby Jussuf, der bei Kämpfen in Gaza verbrannte, Dave liebte die Palästinenserin Jamila, die sich aber nicht erfüllte, weil jeder bei seiner Familie blieb. Am Ende gibt es ein versöhnliches Wiedersehen zwischen Dave und Jamila und zarte Bande spinnen sich zwischen Libby und Adib. Alle wünschen sich Liebe außerhalb der Welt und außerhalb der Zeit und reichen dem Publikum die Hände. Ist das möglich oder unmöglich?

Wie wird die Geschichte weitergeschrieben? Das Bühnenbild von Katja Haß lässt die Frage offen: bleibt es bei der Bauruine, die irgendwann einmal abgerissen wird, oder bleibt es ein ewiger Schießstand oder ein Sprungturm, der auch nichts Gutes verspricht?
Auf die Frage, was sich der Autor von der Aufführung wünsche, antwortete er: „Ich möchte, dass das Publikum nach der Vorstellung die Lust verspürt, das zu hinterfragen, was es für gegeben hält, und Spaß daran hat, bequeme Narrative auszuhöhlen.“ In diesem Sinne kann man die Inszenierung als vollen Erfolg werten. Langanhaltenden Applaus gibt’s für die gelungene Uraufführung in deutscher Sprache.

Zu „Das Portal“

Zuschauerkritik: Das Portal - von Alina Plitman

Wenn der Mensch nur sowieso ein Idiot ist, der sich durch die ganze Aufklärung zurück zu einem Feudalisten entwickelt, darf man einem solchen Publikum überhaupt noch vertrauen? Das Publikum ist das Wichtigste im Theater, oder? Für wen das Ganze, wenn nicht für das Publikum, vorausgesetzt, man „kennt das eigene Publikum in- und auswendig“.

Diejenigen, die das wissen sollten, werden überzeugt sein, dass keine(-r) die weltfremden Probleme des Theaterbetriebs verstehen kann, und niemand wird sich doch für ein Theaterstück über Theater interessieren. Was ist das für ein Theater?

Ein Theater fängt doch immer mit einem Aufhänger an, oder? Nein, Quatsch! Das Theater fängt mit einem Pförtner an, dem Menschen mit der „mit Abstand der meisten Macht im Theater“.

Nichts dergleichen! Einen Neuling muss man doch zunächst abholen und richtig in das Theater-Haus – aber noch nicht in die Theater-Familie! – einführen. Wer trifft denn als Erster den Neuling? Natürlich „die wichtigste Gestalt im Haus“, ein nicht-mehr-Schauspieler mit klassischer Ausbildung und Inspizient. Ein was? Egal. Einen unvorbereiteten Neuling muss man zuerst fertig machen. Fertig für das richtige Theater, versteht sich.

Die Theater-Familie ist deswegen eine Familie, weil die Schauspieler – die ewigen Kinder, die Nimmer-Erwachsenen – die ganze Welt wie einen Stummfilm erleben. Die musikalische Begleitung befreit jede Fantasie und macht den Lebensprozess zu einer Reihe unendlich ineinander übergehender Inszenierungen. Lasst uns doch die Kostüme wie eine Mischung aus Oscar Schlemmer und Lego Movie machen! Lass sie doch. So lange spielen, bis „ein transzendenter Apfel vom Baum des Theaterhimmels“ auf den Kopf eines Theater-Newton fällt. Dann darf er versuchen, die Regie des Stücks zu Philosophie zu machen und zurück – nichts geht über das Spiel!

Lasst uns das Publikum in den „Zustand einer kognitiven Dissonanz“ durch „eine Lösung eines supra-technologischen Problems“ bringen! Im Graben, genau dort, „zwischen Objekt und Bedeutung“ … nein, besser „zwischen Sprache und Welt“ … nein, doch zwischen Welt und … warte, ja! „zwischen Welt und Erfahrung“, da ist genug Platz dafür, werden wir unser Publikum begraben! Exakt!
Was für ein Bullshit, übertreib jetzt nicht!
Wieso?
Das ist kein Bullshit, siehst du das denn nicht? Das ist bloß eine „kleine Diskrepanz“, die uns die „Externalisierung unserer Sterblichkeit“ verdeutlicht. Jetzt im Ernst.
Ach, hör doch auf!
Spielverderber! Das ist unerträglich! Du hast überhaupt keinen Sinn für Humor.
Lass sie doch.

Theater ist auch ein Haus. Ein altes gutes Haus muss seine Gespenster verbergen. Poltergeister. Wie sieht denn ein Poltergeist aus? Wie ein dreiköpfiger russischer Zmey Gorynich. Warum auch nicht? Drei ist eine magische Zahl. Drei Köpfe sind sehr gut, um Komplotte zu schmieden. Und – voilà – ein Theater-Haus ist kein Haus mehr, und eine Theater-Familie ist für einen Putsch reif. Na, warum denn nicht? Ist doch alles nur ein Spiel.

Und jetzt, pass ganz genau auf, kommen Blitz und Donner – oder war das zuerst Donner und dann Blitz? Egal, und Wasserüberflutung und Feuerbrand in einem. Und die Elektrizität funktioniert nicht, natürlich, sonst gibt es einen Kurzschluss. Und die Hölle geht los.

Was machen jetzt die (Pseudo-)Intellektuellen? Sie streiten miteinander über die Fassung. Es geht doch nicht, dass ein 700 Seiten schweres Stück aus 300 Seiten Fußnoten, 50 Seiten Fremdtext, 150 Seiten Manifest (nein, nein, nicht das Manifest von Marx, ein anderes dieses Mal), 100 Seiten Morsecode und letztendlich aus 100 Seiten der eigentlichen Verwechslungskomödie, die teils eine Hommage, teils eine Persiflage ist, besteht. Eklektische Stücke sind immer noch im Trend, ich sag‘s dir! – Nein, das geht überhaupt nicht, so eine Fassung. Und erzähl mir bloß nichts vom menschlichen Ringen um Größe, und –- es glaubt dir sowieso keiner.

Perfekter Zeitpunkt zum Streiten, denn die Ratten haben das sinkende Schiff bereits verlassen. Der Putsch rollt aus, „der überflüssigste Mensch im Theater“ wird zum Co-Autor und zum Intendanten, und … und …

Der Wichtigste im Theater sollte eigentlich der Intendant sein, ein Superheld, der seinen nackten Körper furchtlos vor jede Schießscharte wirft. Nichts geht über das Theater. Sein Theater. Nichts geht über die Premiere. Seine Premiere – nicht die dieses Schickimicki-Regisseurs, der ein „Sandwich“ wie ein „Ssänduuitsch“ ausspricht und meint alles zu dürfen, nur weil er selbst „eine Busfahrkarte zum Hit inszenieren kann“.

Nein! Der Wichtigste im Theater ist der Intendant. Und Punkt. Und keine Widerrede! Zumindest bis dahin, bis das Theater-Haus mit der ganzen Theater-Familie den Bach herunter geht.

Dann wird endlich klar, dass ohne SIE nichts im Theater geht. Nein, keiner Frau, einer Offenbarung, der treuen, ergebenen, mächtigen. Auch wenn von ihr nur ein Haarschopf am Ende bleibt.

Der Rest wird von der ur-ewigen Fresser-in verschluckt.

Zur Uraufführung von Nis-Momme Stockmanns „Das Portal“ am Stuttgarter Schauspielhaus - von Kendra Mäschke

Als gleich zu Beginn des Abends der (echte!) Intendant die Bühne betritt, schwant dem erfahrenen Theaterpublikum Böses – und tatsächlich, wie befürchtet, wird der krankheitsbedingte Ausfall „eines Schauspielers“ verkündet, aber die „Allzweckwaffe Sebastian Röhrle“ habe die Rolle innerhalb 48 Stunden übernommen. Aufatmen im Publikum, die Show kann beginnen. Als sich dann ganz klassisch hinter ihm der rote Vorhang hebt, blickt das Publikum auf eine quasi leere Bühne, einzig ein Flügel steht dort, auf welchem Charlie Casanova den Abend musikalisch großartig untermalen wird. Ansonsten kann als bühnenbildnerisches Element hauptsächlich die Beleuchtung zählen, die im Laufe des Abends situationsbezogen z.B. einen Abgrund oder einen See auf die Bühne zaubert.

Der (gespielte) Intendant hält einen skurrilen Eröffnungsmonolog und schon ist man mittendrin im Fritsch’schen Kasperltheater – die beteiligten Figuren schleichen, hüpfen, watscheln über die Bühne, dass es einem Wimmelbuch gleicht. Bettina Helmi hat fast alle Schauspieler und Schauspielerinnen in cartooneske Uniformen gesteckt, die stark an Playmobilfiguren erinnern, inklusive Beinausschnitten und helmartiger Perücken, dass es allein eine Freude ist, die Schauspieler nur anzusehen. Ein Schelm, wer dabei an den letztjährigen Welterfolg einer anderen Plastikpuppe denkt! Einzig Charlie Casanova trägt in ihrer Rolle am Klavier ein Harlekin-Kostüm; in ihrer zweiten Rolle als DHL-Bote gleicht auch sie einer Plastikpuppe, geschminkt wie eine Geisha.

Die Tatsache, dass es kein Bühnenbild gibt, an dem sich die Akteure abarbeiten können, zwingt die Schauspieler natürlich zu mehr Interaktion, was sicherlich im Sinne des Stücks ist. Es geht um das Theater, um die verschiedenen narzisstischen Egos, die sich innerhalb dieses Mikrokosmos begegnen. Sinnbildlich dafür sicher das sehr körperliche „Duell“ zwischen dem Intendanten Geldoff (Sebastian Blomberg) und dem Chefdramaturgen Eisenstern (Sebastian Röhrle), beide fantastisch in ihren überspitzen Manierismen. Generell fordert Fritsch in seiner Inszenierung viel Körperlichkeit von den Beteiligten; manchen gelingt das besser als anderen, der Grat zwischen gekonntem Slapstick und albernem Klamauk ist schmal.

Wenn der Intendant regelmäßig an Schnüren durchs Bild gezogen oder von oben herabgelassen wird, immer dabei seine Referentin Irma (in Form einer Perücke), ist das urkomisch. Ebenso, wenn die Dramaturgen-Riege, einem Sumo-Ringer gleich, nach vorne an die Bühnenkante stapft, um sich zu beraten. Einiges ist overacted, fast pantomimisch, aber vermutlich „soll das so“, schließlich referiert Geldoff auch irgendwann vor dem Autor des namensgebenden Stücks: „[Ohne euch Autoren] wäre das Theater ja Tanz oder Pantomime, was einiges bedeutend einfacher machen würde, aber ja nicht geht, wir sind ja ein Sprech-Theater-Betrieb […]“. Man muss Slapstick mögen und sich auf die Skurrilität des Abends einlassen.

Nis-Momme Stockmann hat seinem Stück ein Schiller-Zitat vorangestellt: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Vermutlich könnte man auch Shakespeare zitieren: „All the world’s a stage, and all the men and women merely players.” Der Autor zeichnet ein satirisches Bild der Menschen am Theater, von denen man als regelmäßiger Theatergänger und Mensch, der sich mit dem Theater befasst, viele (wieder)erkennt: den Inspizienten, der (vermutlich richtigerweise) meint, dass er die wichtigste Person am Haus sei – was allerdings der Pförtner (Michael Stiller im Albert Einstein-Look) ebenfalls von sich meint; den exaltierten Jung-Regisseur, der dem armen Schauspieler in prätentiöser Verschwurbeltheit erklärt, wie er ein Sandwich zu essen hat; der schmierige Dramaturg, der sich an die Jungschauspielerin ranschmeißt, was diese mit einem fulminanten Monolog über Gleichstellung quittiert. Das alles anzusehen macht viel Spaß. Leider verliert sich der Abend zwischendrin – vielleicht gewollt – immer wieder ein wenig im Chaos.

Es geht um das Theater im Theater, vielleicht ein bisschen “l’art pour l’art“, jedenfalls um eine Persiflage des Theaterbetriebs als solchen und als Zuschauer fragt man sich, wo die Satire endet und die ernsthafte Aufarbeitung beginnt. Vermutlich sind aber die Grenzen fließend.

Zum Schluss wird noch der (echte!) Regisseur Fritsch höchstselbst an Seilen von oben herabgelassen, direkt in eine (Altpapier?)-Tonne, seine Arbeit also schon bei der Premiere „in die Tonne gekloppt“. Und als man Sebastian Röhrle, der diese schnelle Übernahme so grandios gemeistert hat, besonders euphorisch mit Applaus bedenkt, beschleicht einen das Gefühl, selbst Teil dieses Theaters geworden zu sein – der Text saß ja schon extrem gut, genau wie das Kostüm. Und warum taucht er, samt Fotos im Programmheft und auf der Website auf? All the world’s a stage…

Zu "Ein dunkles, dunkles,
dunkles Blau"

Sequenzen der Stadt - von Marie Grützner

Simon Stephens lässt auf der Bühne ein verwobenes Netz mehrerer Figuren entstehen, die sich nahestehen, miteinander verwandt sind oder sich zufällig im Stadtraum begegnen. In einer Reihe von Szenen, Dialogen und Monologen der unterschiedlichen Konstellationen erhalten die Zuschauer:innen Einblick in die Schicksale und Familientragödien jeder einzelnen Figur. Es handelt sich um gescheiterte, ängstliche, traurige und einsame Existenzen in verschiedenen Lebensphasen. Um ihren Alltag zu meistern, klammern sie sich an etwas, wie Musik, Tanz, Erinnerung, Arbeit oder Zigaretten, fest.

Ein Tag in Stuttgart

Nicola und Christof – Nicola pflegt ihren im Sterben liegenden Freund, der schon kaum mehr die Augen öffnen kann, und erweckt ihn einen letzten Tag zum Leben, um ihre Trauer für einen Moment zu vergessen. Sie schwelgen in Erinnerungen und lassen sich an ihre Lieblingsorte in der Stadt leiten.
Walter und Matheus – Walter ist Witwer und nun liegt sein Sohn im Sterben. Er kann sich jedoch nicht überwinden, in Nicolas Wohnung zu gehen, um ihn zu sehen. Seine Arbeit, der Verkauf von Autos, ist für ihn die einzige Ablenkung von seiner Traurigkeit. Matheus, Onkel von Christof, saß drei Jahre wegen Kindesmissbrauch im Gefängnis und ist psychisch labil. Er ist nervös, kratzt sich am Körper, fühlt sich unwohl in seiner eigenen Haut und schlägt sich selbst auf den Kopf. Mit strengem Ordnungswahn, den er sich im Gefängnis angeeignet hat, kann er im Alltag bestehen. Walter gewährt ihm eine letzte Begegnung mit Christof, möchte ihn danach aber nie wieder sehen.
Karolina und Benjamin – Karolina wird in Kürze ihren besten Freund Christof verlieren, kümmert sich um ihre demenzkranke Mutter und ihre große Liebe verliebt sich gerade in eine andere Frau. Sie ist nervös, gestresst, und klopft sich permanent abwechselnd an die Handkante und die Brust zum emotionalen Stressabbau. Sie sieht der Zukunft pessimistisch entgegen, da in ihren Augen die Autos die Welt verbrennen werden und die Gebäude verrotten werden, während ihr Bruder bei Porsche arbeiten wird und ein Kind erwartet – zwei konträre Welten treffen aufeinander.
Marie und Tomas – Marie ist eine zerstreute Persönlichkeit. Sie hat ihren Sohn verloren und zeigt ihre Traurigkeit in ihrer gebückten Haltung und ihrer leicht aggressiven, paranoiden Art. Sie ernährt sich von Zigaretten und Kaffee und durch ihre Kopfhörer kann sie sich in ihre melancholische einsame Welt zurückziehen. Tomas, eine zufällige Begegnung in der Stadt, bringt für einen Moment etwas Leichtigkeit in ihr Leben – sie tanzen und verlieren sich dabei.
Lukas und Karl – Sie sind Nachbarn, hatten jedoch in den letzten Jahren nicht viel miteinander zu tun, bis Lukas seine einsame, verletzliche Seite zeigt und seinen Nachbarn zum Essen einlädt.
Die Sequenzen der unterschiedlichen Konstellationen lösen sich im Spielablauf gegenseitig dynamisch ab, teilweise überlagern sie sich. Die starken emotionalen Momente werden aufgelockert durch amüsante Annäherungsversuche zwischen den zufälligen Begegnungen und die Unbeholfenheit der Figuren. Tanz und Musik bringen Leichtigkeit ins Spiel.
Inmitten der Bühne hängt ein großer, rechteckiger Rahmen von der Decke, der aus einem feinmaschigen Gitterrost-Schacht konzipiert ist. Durch sein enormes Gewicht bewegt er sich träge, sobald die Schauspieler:innen damit interagieren. Ist es der enge Rahmen, den uns die Stadt vorgibt, der uns Grenzen setzt?
Auf eine schwarze Leinwand im Hintergrund werden digital weiße Sätze in handschriftlicher Form eingeblendet. Diese erinnern an lose Gedanken oder eine Matrix – lose Gedanken aus dem Notizbuch von Simon Stephens, welches er bei seiner Recherche in Stuttgart befüllt hat. Nur einzelne Worte sind greifbar, da die Sätze übereinander gelagert sind und sich dynamisch in horizontaler oder vertikaler Richtung über die Leinwand bewegen. Gelegentlich wird ein Gedankengang einer Person eingeblendet, mitunter eine Tätigkeit, die nicht schauspielerisch ausgeführt wird. Letzteres folgt keiner weiteren Logik und ist im Spielablauf nicht unbedingt erforderlich.
Der Klimawandel, welcher als Hauptthema des Stückes angekündigt wird, verliert sich stark. Vielmehr wird der Schwerpunkt auf die einzelnen Familientragödien und persönlichen Ängste gelegt. Dahingehend ist das Stück ehrlich. Die Figuren sind echt. Niemand zu extrem und aufgesetzt. Kein Spannungsbogen, nur die bloße Aneinanderreihung der Sequenzen in den unterschiedlichen Figurenkonstellationen. Die Bezüge zu Stuttgart machen es nahbar. Kein Bühnenbild-Wechsel (außer der Projektion im Hintergrund), kein Kostüm-Wechsel. Die Monologe, Dialoge und Gefühlswelten sind entscheidend. Und die Emotionen kommen im Zuschauerraum zweifellos an. Ein Stück, das einen zweiten Besuch nahezu benötigt, um die zahlreichen Facetten jeder einzelnen Figur, sowie die Komplexität der verschiedenen Erzählebenen, die Simon Stephens vereinen möchte, vollständig wahrzunehmen.

Zu "Jeeps"

Theater in der Warte­halle des Erbens – von S. G.

Wir sitzen in der Wartehalle des Kammertheaters. Zum Bühnen-Amtszimmer des Jobcenters geht es die bekannten vier Stufen hinauf zum Podest, über das wir sonst zum Eingang des Kammertheaters gelangen. Blassblau-funktionale Wände trennen hier die Vor- von der Hinterbühne, markieren jene Amtsstube deutscher Staatlichkeit, in denen über Wohl und Wehe der Bürger:innen entschieden wird. Ein einfacher Tisch, aus vielen Wartebereichen bekannte lochgemusterte Plastiksitzschalen auf Freischwinger-Stahlrohren strahlen die übliche funktionale Amtsgewalt aus, mit der die Beamt:innen hier ihres Amtes walten.

Wobei die Amtsleute in Jeeps zwei Männer sind, zu deren wichtigsten Anliegen gehört, sich über ihren eigenen Status Gewissheit zu verschaffen, innerhalb und außerhalb ihres Amtshandelns. Armin ist Sachbearbeiter in der Leistungsgewährung und sieht sich qua Senioritätsprinzip in der Rolle des Vorgesetzten, während der jüngere und noch korrekter denkende, fühlende, handelnde Kollege Gabor sie beide immer wieder als gleichrangig bezeichnet. Diese Gleichrangigkeit endet für ihn freilich spätestens an den Türen seines geländegängigen Großraumfahrzeugs, in dem er nicht nur die volle Übersicht im Straßenverkehr hat, sondern auch sehr sehr steile Treppenstufen auf einem eigens eingerichteten Erlebnisparcours für eben solche Gefährte begeistert hinunterfahren kann. Armin ist seinem jüngeren Kollegen jedoch einiges an Lebens- und Amtserfahrung hinaus, das ist ihm äußerlich anzumerken, denn seine Gräue ist wesentlich vielschichtiger und verspielter: Der mittegraue Anzug ist aufgehübscht durch ein polyesterglänzendes Hemd in grau-abstrahierter Tiger-Optik, die gräulich-grünliche Pflanzenmusterkrawatte hängt auf halb acht, während die Fake-Krokoleder-Boots durch einen Gürtel in Schlangenoptik komplementiert werden. Sein Haar ist ebenso verworren wie sein restliches Erscheinungsbild, in der vordersten Reihe ist sicherlich seine Fahne noch zu riechen. Gabor trägt seinen grauen Anzug hingegen korrekt und Ton in Ton mit grauer Krawatte und Hemd, Grüße an Loriot!

Optisch aufregender präsentieren sich hingegen die beiden Kundinnen des Jobcenters. Maudes altersadäquat dunkelrot gefärbtes Haar bringt endlich optisch Stimmung in die Stube, genauso wie sie auf ihrem Kleid mit großflächigem Druck und Rohrschach-Test (wir sehen doch den Schattenriss einer Bühnensituation?) zum Ausdruck kommt. Ihre roten Lederstiefel runden den Auftritt ab. Maude hat als ältere der beiden Frauen einige Erfahrung mit dem Jobcenter, kennt alle Mitarbeiter:innen, weiß genau, wie diese agieren, spricht fließend Amtsdeutsch, wenn sie nicht gerade eine ihrer durchaus komischen Wortfindungsstörungen hat. Ihre Künstlernatur umschreibt einen uns bekannten Handwerker als einen mit „Penishut“, was tatsächlich einleuchtet. Maude lebt seit Jahren von staatlicher Unterstützung, ist eine „Hartz-4-Betroffene“. Dass sie und Armin nicht schon außerhalb der Amtsgewalt zueinander gefunden haben, verwundert, sie würden vermutlich ein ganz gutes Team abgeben. Der Gang der Dinge bringt sie in die Rolle einer Mentorin von Silke, die junge Verrückte, die ihre jugendliche Sportlichkeit der Kleidung mit blauer Bluse, Perlenkette und Stilettos auf höhere Level bringt. Als Tochter eines Politik- und Geschichtslehrers erreicht sie lokale Berühmtheit mit ihren Laptop-Taschen-Designs. Als jener Vater stirbt und ihr die Konstruktion des Stücks ihr Erbe vorenthalten möchte, überfällt sie kurzerhand das Jobcenter, bringt sich mit vielleicht nur vorgetäuschter Waffengewalt nun in die Machtposition einer Verzweifelten, die das Erbe des Vaters antreten möchte, aber vom System daran gehindert wird. Ihre Geiselnahme verkehrt die Verhältnisse.

Jeeps ist rasant inszeniert, lässt seine Schauspieler:innen glitzern und strahlen, bringt andauernd neue urkomische Situationen zu ungeheurer Wirkung. Zur Kurzweiligkeit trägt die Zeit- und Handlungsstruktur des Stückes bei: Die dargestellten Stationen auf dem Weg zur Geiselnahme und durch sie hindurch werden immer wieder durch Interview-artige Situationen der Schauspieler:innen durchbrochen, in denen uns in der Wartehalle des Kammertheaters immer wieder die Auswirkungen staatlicher Maßnahmen, begangen durch die Beamten des Jobcenters, kommentiert werden. Das Timing sowohl als auch die witzigen Dialoge bringen einen sehr unterhaltsamen Theaterabend mit spritzig agierenden Schauspieler:innen hervor.

Die Grundidee von Jeeps könnte durchaus als grotesk empfunden werden: Die Vermögens- oder genauer Erbschaftsverteilung per „Eierstocklotterie“ wird durch eine tatsächliche Erbschaftslotterie ersetzt. Für jedes neue Erbe können Interessierte ein Los beantragen. Hierbei sollte allerdings penibel auf Formfehlerfreiheit geachtet werden, sonst kann ein solcher Antrag zum Beispiel wegen Rechtschreibfehlern vom unbestechlichsten Mitarbeiter des Jobcenters ohne Ansehen der Person auch abgelehnt werden, wie es Silke im Erbfall ihres Vaters erleben muss.

Das eigentlich Groteske des Abends könnte allerdings auch darin zu suchen sein, die realen Verhältnisse vorgeführt zu bekommen: Wer beim Pfandsammeln erwischt wird, bekommt vom 4 Euro 86 tiefen Regelsatz für Essen am Tag den Pfanderlös abgezogen, weil es sich bei Flaschensammeln um eine selbständige Tätigkeit handelt.

Zu "Zeit wie im Fieber"

von Susanne Frey

Sind wir Menschen müde für Veränderungen?
Bin ICH zu müde oder zu bequem dazu, etwas zu verändern?
Will ich im Angesicht vieler Ungerechtigkeiten dieser Welt und meiner eigenen Unzufriedenheit so weiterleben?
Will ich überhaupt etwas verändern und wenn ja, was und vor allem wie? Und wie will ich in der Zukunft leben?

Diese Fragen lassen mich nicht mehr los, seitdem ich das Stück Zeit wie im Fieber von Björn SC Deigner gesehen habe. Ein Stück, das gnadenlos das anspricht, was schief läuft in unserer Zeit.
Da gibt es die zwei Protagonisten Lena, dargestellt von Sylvana Krappatsch, und Julie, gespielt von Paula Skorupa, die miteinander heftig über die Missstände zwischen den Menschen, in der Gesellschaft und Politik, auf diesem Planeten diskutieren. Auch ihr eigenes Verhalten stellen sie in Frage: „Wie nur konnten wir so sein?“ Oder Julie: „Ich erschrecke vor mir selbst“.
Sie prangern die Scheinheiligkeit, die Ungerechtigkeit, die Gleichgültigkeit, den Hass oder auch die Untätigkeit, den Gleichmut der Menschen, die wankende Demokratie an. Menschen werden mit Äffchen verglichen, die nach der Autorität rufen. Der Mensch, ein Automat ohne Seele. Mit vielen ihrer Aussagen beschreiben sie genau das, was auch mich und viele Menschen in meinem Umfeld zunehmend beschäftigt und belastet.
Im Laufe ihrer Reise durch eine Stadt treffen sie auf verschiedene Personen: Die Ärztlerin, einen Bäcker, einen Nachbarn, einen König, eine wutige Bürgerin und ein talentiertes Pferd. Auch sie haben eigene Lebensmodelle und Weltbilder, mit denen sie Lena und Julie und auch die Zuschauer konfrontieren: So etwa der Bäcker, der Werte wie christliche Menschenliebe, Großmut, Recht auf Ordnung hochhält, aber den Hungrigen nichts von seiner Brezel abgibt. Ein König, der sich die Frage stellt „Wohin geht die Macht?“
Verwirrt hat mich allerdings der Auftritt des talentierten Pferdes. Der Sinn seines Auftrittes bzw. die gewünschte Aussage erschließen sich mir nicht.
Das Stück beschreibt in eindrücklicher Weise die Missstände, die wir alle in der aktuellen Zeit spüren: eine Politik, der die Menschen ausgeliefert sind. Eine Gesellschaft, in der der schnöde Mammon dominiert und sich immer weiter radikalisiert, Kriege, Ungerechtigkeit, Einsamkeit, … Menschen, die dabei entweder in eine Starre verfallen oder ins Gegenteil verkehren, indem sie voller Hass und Wut sind und diesen Hass auf der Straße oder in fragwürdigen Gruppierungen ausleben.
Es ist eine verzweifelte, bedrückende, teilweise resignierte Stimmung, die während der kompletten Aufführung zu spüren ist. Interessant finde ich den Einsatz eines selbst spielenden Klaviers, das durch bestimmte Tonabfolgen oder Lieder, z.B. „Die Gedanken sind frei“, diese Stimmungen unterstreicht.
Dennoch gibt es immer wieder kurze Sequenzen, in denen Humor durchblitzt und das Publikum zum Lachen bringt.
Der Zuschauer wird ohne Lösung entlassen, dennoch – wer genau zuhört – entdeckt für sich doch immer wieder kleine Lösungs(an)sätze:
„Wir brauchen lachenden Mut“, „Man muss klein anfangen“, „Man muss bei sich anfangen“, „Es braucht Mut in den Köpfen und ein offenes Herz“.
Die Schauspielerinnen und Schauspieler beeindrucken sehr durch ihre engagierte und authentische Darstellung, das Bühnenbild ist aufs Wesentliche beschränkt und lenkt dadurch nicht von dem Geschehen ab.
Zeit wie im Fieber ist ein anspruchsvolles und auch anstrengendes Stück, das mich sehr beschäftigt hat. Ein Stück, das zum Nachdenken anregt. Ein Stück, über das man diskutieren muss!

Zu "Offene Zweier­beziehung"

Nach beiden Seiten offen – von Cindy Cordt

Antonia, die Ehefrau (Therese Dörr), liegt auf einem Sofa in einer nach modernen Standards spießig eingerichteten Wohnung, ihr Ehemann (Gábor Biedermann) zieht derweil alle Register von schmeichlerisch bis rabiat, um ihr Alter Ego aus dem Badezimmer zu locken, nicht etwa, weil er dringende Bedürfnisse hat,­ die hat er natürlich auch, erfahren wir später, sondern weil er sie von einem vermeintlichen Selbstmord abzuhalten versucht. Dies wird im Verlauf des Stückes zum wiederkehrenden Element.

Vielleicht kennen einige Zuschauer:innen die toxischen Strukturen, mit denen die Ehe der beiden durchwebt ist. Diejenigen, die noch an die ewige Liebe glauben, werden von den beiden Protagonist:innen dann aber auch schnell eingeweiht, überzeugt, korrumpiert und auf die jeweilige Seite gezogen. Es gilt Partei zu ergreifen für eine der beiden Boykotteur:innen der Beziehung. Schnell wird klar, der Schuldigere, derjenige, der in dieser „Offenen Zweierbeziehung“ immer ein wenig schlechter, schwitzender, weinerlicher daherkommt, ist der Ehemann.
In dem Stück von Franca Rame und Dario Fo sitzen zwei auf einem Sofa, wollen reden, vielleicht vordergründig eine Ehe retten doch in dem rasanten Schlagabtausch wird deutlich: Die an den Mann gekettete Frau muss nicht reden, zuhören und verstehen, sondern ihren Selbstwert erkennen und sich befreien. „I want to break free“ – Freddy Mercury‘s musikalischer Befreiungsschlag und der von Therese Dörr wie ein Schwert geschwungene Staubsauger kündigen es bereits an. Doch die zum Zeitpunkt der Stückentstehung getroffenen Aussagen von Franca Rame und somit mögliche politische Anspielungen finden nicht recht Platz im Stück, macht aber nichts, das Spiel der beiden Hauptdarsteller:innen reicht aus, eine Komödie über (Miss-)Achtung genügt, um einen gelungenen Abend zu gestalten. Die feministischen Seitenhiebe von Franca Rame sind nur latent deutlich, aber ich habe mich beispielsweise über die Wandelbarkeit vom geschniegelten Ehemann zum zerzausten Sohn und die Umnutzung von Brille zur Playstation-Konsole ebenso gefreut wie über die Ratschläge an die Frauen im Publikum, die ich trotz oder wegen des ironischen Untertons sicher beherzigen werde.

Neben dem Ehemann im grauen Outfit und dem retardierenden Sohn stellen Franca Rame und Dario Fo der sich freistrampelnden Frau noch zwei weitere Männer an die Seite: den traurig dreinblickenden Paolo und die Stimme aus dem Off, den nuklearen Traummann, der mit Professorentitel endlich den Selbstwert aufpolieren darf. Ein bisschen habe ich die Hoffnung, dass der Selbstwert vorher dagewesen ist und der Verehrer nur deswegen angebissen hat. Denn in der Mitte des Stückes konnte die Pantomime von Therese Dörr noch keine Fische an Land ziehen. Dies natürlich geschah selbstverständlich nur im immer wieder selbstreflexiv erwähnten Stück, denn das Publikum hat längst angebissen, bei beiden großartigen Darsteller:innen.

Aber so weit ist es noch nicht, erstmal folgen ca. 90 Minuten Rechtfertigungen von Affären oder Buhlen um die Publikumsgunst mit Eis und Sekt und dies mit vollem Körpereinsatz, in den Kulissen hängend, immer gewahr, dass das alles nur ein Stück ist und die Premierenparty naht. Manche derben Witze über nervöse Aerophagie verzeihe ich, da sie dazu dienen, dass klar wird, dass die Zweierbeziehung, egal ob an einer oder beiden Seiten offen, zu nichts Gutem führen kann.

Drei sind einer zu viel, und der Dritte ist der Teddybär, der für vieles steht und, nachdem er gekuschelt und zwischen beiden zerrissen wird, am Ende sterben muss. Und hier lugt doch ein bisschen die Tragik hervor, wenn Gabór Biedermann sich mit Früchten an empfindlichen Stellen bedroht und Therese Dörr vor ihrem Ehemann Selbstbewusstsein mimend die Beine übereinander schlägt, die sie eigentlich lieber breit machen würde.

So ist der Teddy auch nicht die einzige Leiche, es kommt zum zweiten Showdown. Nun lässt der Ehemann die Hose runter, wechselt ins Bad, wo aber die scheinbar verzweifelte Ehefrau vom Anfang auch immer noch mit Selbstmordgedanken weilt, oder? Die beiden übertrumpfen sich, geben vermeintliche Lügen zu. Und es gibt ihn doch, den Traummann und die Veränderung, die Achtung für das andere Geschlecht und schließlich den Schuss, das Arschloch hat sich umgebracht, es lebe das Arschloch, und die Premierenparty kann beginnen.

Zu "Was ihr wollt"

Nichts ist so, wie es ist – von Thomas Daferner

So spricht der Narr in Was ihr wollt, einer (Tragik)-Komödie von William Shakespeare, welche am Freitag, dem 22. September 2023 im Stuttgarter Schauspiel unter der Regie von Burkhard C. Kosminski, Premiere hatte. Das Stück stammt ursprünglich aus dem Jahre 1601 nach einer Vorlage aus 1581.

Bei einem Schiffbruch werden Viola und ihr Zwillingsbruder Sebastian, die beiden sehen sich täuschend ähnlich, getrennt. Jeder glaubt vom anderen, er sei ums Leben gekommen. Herzog Orsino begehrt Gräfin Olivia. Olivia, in grenzenloser Trauer um ihren verstorbenen Bruder, will von Orsino allerdings nichts wissen.
Viola kommt in das Land des Herzogs Orsino nach Illyrien, verkleidet sich als Mann und tritt unter dem Namen Cesario in die Dienste des Herzogs ein. Cesario, in Wirklichkeit Viola, verliebt sich in den Herzog, welcher Cesario als Bote zu Gräfin Olivia schickt, um ihr seine Liebesbekundungen zu überbringen. Olivia, eigentlich in Trauer, verliebt sich Hals über Kopf in Cesario, der in Wirklichkeit Viola ist. Und dann gibt es da noch Antonio, den Kapitän und Retter Sebastians, der für Sebastian aus Liebe alles tun würde. Nicht zu vergessen Sir Toby und Sir Andrew, Verwandte von Olivia, beide ständig betrunken und Maria, die Kammerfrau von Gräfin Olivia. Alle drei spielen Malvolio, dem Haushofmeister von Olivia, einen üblen Streich. Malvolio macht sich aufgrund eines fingierten Briefes vor Gräfin Olivia, welche er anhimmelt, nun derart lächerlich, dass er in Folge dessen für verrückt gehalten und eingesperrt wird.
Letztendlich erkennen sich Viola und Sebastian wieder, Herzog Orsino und Viola finden sich, ebenso Olivia und Sebastian (Sebastian sieht genauso aus wie Viola als Cesario) und Sir Toby und Maria. Happy End aber nicht für alle, denn – und hier liegt die Tragik – Sir Andrew, Malvolio, der Kapitän und der Narr bleiben hier auf der Strecke.

Eine Verwechslung, in welcher Geschlechter und Stände keine Rolle spielen. Alles gerät durcheinander. Zu Shakespeares Zeiten wurden alle Rollen mit Männern besetzt. Frauen gab es auf der Bühne nicht. Hier liegt die Komik. Viola, zu Shakespeares Zeiten von einem Mann gespielt, spielt eine Frau, die sich als Mann verkleidet. Olivia verliebt sich in einen Mann, der eigentlich eine Frau ist. Rollen- und Geschlechtertausch, der Adel bleibt nicht unter sich. In der heutigen Inszenierung wird die Rolle des dem Alkohol verfallenen Onkels der Gräfin, Sir Toby, von einer Frau gespielt, nämlich Anke Schubert, und zwar so, dass ich es als Zuschauer nicht gemerkt hatte. Paula Skorupa spielt Viola und Sebastian, Katharina Hauter die Gräfin. Beide so gut, dass das erotische Kribbeln zwischen der Gräfin und Cesario (Viola) sicht- und spürbar ist. Matthias Leja als Malvolio, vor Glück so sprühend, als er den gefälschten Brief erhält, und so in sich zusammengefallen, als er in seiner Rolle dem Wahnsinn nahe ist.
Hochkarätiger geht Schauspielkunst und Theater nicht. Genial gespielt die Zeitlupenszene beim Duell der beiden Junker.

Als Bühnenbild dienen unter anderem Spiegel bzw. Glas. Die Protagonisten erscheinen doppelt. Zum Schluss wird, da Viola und Sebastian von einer Schauspielerin gespielt wird, eine Figur projiziert. Aber nicht nur Glas, denn die unterschiedlichen Handlungsstränge müssen sich auch im Bühnenbild widerspiegeln und später zusammenfügen.

Die Inszenierung ist von Witz, Humor und Ironie geprägt. Der Narr ist durch seine Dialoge daran maßgeblich beteiligt. Er spielt auf Instrumenten, singt „Perfect Day“. Die Musik versetzte mich gedanklich in die Renaissance in ein Amphitheater, wie passend. Der gesprochene Text ist oft am Original, unter anderem aber auch mit einem kleinen Zweizeiler von Heinz Erhardt gespickt. Und somit gelungen und in jedem Fall empfohlen anzusehen.

Und der Titel: Was ihr wollt? Nun, was will ich oder wollen wir? Was suchen wir? Unterm Strich kommt es wie‘s kommt und es ist ja vielleicht auch egal.

„Was ihr wollt“ oder Liebe im Land der Narren Shakespeares heiteres Spiel beglückt - Premiere am Schauspiel Stuttgart - von Christine Kohler

„Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter“ - Orsino, Herzog von Illyrien, philosophiert über die Liebe und der Narr hört gar nicht damit auf, mit seinem Saiten- und Harmonikainstrument Sonett an Sonett zu spielen und zu singen. Da muss der Theaterabend dann schon zu Ende gehen, ehe er sein Närrischsein aufgibt. Gilt das auch für die Liebe? Höret sie nimmer auf? Man darf gespannt sein.
Entstanden wohl in den Jahren 1599/1600, schreibt Shakespeare die Komödie, eine einfach gestrickte Fabel vom Zwillingspaar Viola und Sebastian, das sich im Sturm auf hoher See verliert und am Ende nach Liebesirrungen und Wirrungen wiederfindet. Sie spielt in den zwölf Rauhnächten zwischen Weihnachten und Dreikönigstag. Shakespeare nennt seine Komödie auch Twelfth Night; or What You Will. In dieser Zeit feierten die Menschen ausschweifende, dem Karneval ähnliche Feste gegen das Grauen und die Ängste vor der winterlichen und der eigenen Dunkelheit. Burkhard C. Kosminski hat Was ihr wollt am Schauspiel Stuttgart inszeniert.

Um die große und einzige oder auch die getäuschte Liebe zu finden, muss bei Shakespeare ein Verkleidungsspiel her, das die Akteure aber schnell überfordert: den Herzog selbst – Peer Oscar Musinowski-, Olivia, die Gräfin von edler Schönheit - Katharina Hauter -, Viola als Cesario und Sebastian - Paula Skorupa - und den armseligen Malvolio - Matthias Leja, und auch die sonstigen Schelme.

Hundertfach gespiegelt im Labyrinth schwimmt Viola an Land: „Wie heißt dieses Land?“ Illyrien ist es, heute Albanien oder irgendein Land? Die Suche oder auch Sucht nach Liebe verlangt von der Androgynen die Verkleidung als Cesario, denn nur so kann sie des Herzogs Nähe finden. Doch dieser hat Olivia im Sinn und diese wiederum verfällt Cesario blitzartig mit Leidenschaft – Liebe auf Umwegen und immer begleitet das Geschehen auf der Bühne der Narr, der keinen Spiegelvorhang braucht, um der Wahrheit ins Auge zu schauen. Intelligent sind seine Lieder und Einwürfe und immer sichert er sich damit sein Einkommen. Felix Strobel – dem diese Rolle zufällt, glänzt mit k-und-k-gefärbter Stimme, und manchmal auch auf bayrisch. Seine Musik umspielt den Abend voll Poesie – Hans Platzgumer hat sie entworfen. Nichts ist so wie es ist – sagt der Narr, und Liebe finden ist wie die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Schon auf dem Weg ins Theater begegnete er den Zuschauern und kalauerte so vor sich hin.
Der Narr ist nicht allein mit seinen Narreteien und Shakespeares Komödie wäre keine, wenn nicht noch weitere Akteure die Szenen bespielten – und dies zum Besten und zum Genüsslichsten der Zuschauer. Da sind der versoffene Sir Toby, Olivias Onkel – Anke Schubert – und Sir Andrew, ein verkommenes Subjekt, Freund von Toby und hinter Olivia her – Klaus Rodewald – und da ist auch noch Maria, das Hausmädchen von Olivia – Christiane Roßbach, die im köstlichen Terzett dem Affen Zucker geben. Malvolio, Olivias Haushofmeister – Matthias Leja – spielt den Affen großartig bis zur bösen Neige: Jupiter hat’s vollbracht. Slapstickszenen wechseln mit derben Sprüchen wie „Grüß Gott, Sie Arsch“ und Gedichten wie dem Bodenseegedicht: „Ach tut mir mein Herz so weh, wenn ich im Glas den Boden seh!“.
Mit den Szenen korrespondieren perfekt Bühnenbild - Florian Etti - und Kostüme - Ute Lindenberg: das Bühnenbild, einmal ein Spiegelvorhang mit hundert oder tausend Brechungen, dann wieder drei rote bodenlange Samtvorhangbahnen über der kreisenden Rundbühne begleiten vortrefflich. Die Kostüme passen sich der Dramaturgie des Geschehens an: zwischen triadischem Ballett – Olivia einmal als Trauernde in Schwarz, dann als Braut mit Korsett und Strapsen, Sir Toby und Sir Andrew als Clochards und Haderlumpen gekleidet, Maria als Mamsell mit weißem Schürzchen auf schwarzem üppigem Kleid und naturgemäß Malvolio in sein Schicksal gekleidet, einmal als Galan und das andere Mal als gelb bestrumpfter armer Clown.
Zurück zur Liebe. Am Ende finden sich die Paare, wenn auch auf Umwegen. Wenn der Herzog über die Liebe der Männer sagt: „Denn so wie ich sind alle Liebenden, unstet und launenhaft in jeder Regung, das stete Bild des Wesens ausgenommen, das ganz geliebt wird“, hat er sich schon betrogen, denn nicht Olivia ist’s am Ende, sondern Viola, die er bekommt. Und wenn er weiter faselt: „Wähle sich das Weib doch einen ältern stets! So fügt sie sich ihm an, so herrscht sie dauernd an des Gatten Brust“, oder „Denn Mädchen sind wie Rosen: Kaum entfaltet, ist ihre holde Blüte schon veraltet“, dann irrt er doch gewaltig. Olivia dagegen nimmt’s leicht: „Nun walte, Schicksal“ - das hat schon Stil, obwohl auch sie einen anderen bekommt, Sebastian.
Es ist schwierig mit der Liebe. Verkleidung allein macht’s nicht. Der Narr hält uns den Spiegel vor und tausendfach sehen wir die Wahrheit. Eine Zuschauerin teilt noch vor der Vorstellung gegen ihn aus: „Der nervt mi jetz scho!“ Welch ein grandioses Vorurteil, denn es war am Ende zwar nicht, wie gesungen wird, „Just a perfect day!“, dafür ein perfekter Abend. Das Publikum dankt mit langanhaltendem Applaus!

Zu "forecast:ödipus"

See for Yourself – von S. G.

Griechischer Mythos bietet schon seit antiker Dramenwelt immer wieder die Grundlage für jeweils zeitgenössische, moderne Adaptionen und Interpretationen, er zieht sich in seinen Grundaussagen durch die Jahrhunderte der schönen Künste. Uns heute hier mit solch theatraler Verve vorzuführen, wie wir in den Abgrund der Menschheitsgeschichte blicken, ohne die Ausmaße wirklich zu verstehen, ist eine der großartigsten Leistungen, die Theater erbringen kann.

Zu schauen gibt’s viel in Stefan Puchers fantastischer Inszenierung: Eine Arena mit verspiegelten Banden, ein weißes Gerüst mit Treppen und Podesten vor pinkem Nebelwolkenhimmel, eine riesengroße weiße Medusa als Projektionsfläche, schwarze Krallenhände von der Decke, die Orakel- Priesterin Pythia in neongrünem Kostüm, Ödipus mit Glitzerpailletten, Iokaste in goldfarbenen Geschwulsten, eine sterbende Priesterin als Skelett, eine Dienerin in Lackleder, eine Botin mit etwas zu knappem Edel-Kleid, der blinde Seher Teiresias in Vanitas-Tüll, Kreon im Business-Anzug über antiken Motiven auf dem Shirt, ein greiser Chor ganz in geschmackvollstem Beige, eine künstliche Video-Gestalt.

Das Schau-Spiel ist ebenso reichhaltig: Besonders eindrücklich agiert ein greiser Chor, der mal zu live erzeugten Techno-Klängen tanzt, dann auch wieder am Stock geht und schließlich stumm zuschauend teilnahmslos nur herumsteht. Ödipus taumelt über die Bühne und erkennt wie immer als letzter sich selbst als das Problem. Iokaste regt sich mächtig auf, stirbt und tritt danach mit hängenden Augäpfeln noch einmal auf. Dienerin und Botin tragen bei zur Aufklärung, dürsten dabei jedoch noch viel mehr nach Wasser. Pythia weissagt überlebensgroß als Projektion, hilft dabei anfangs nicht durch völlige Klarheit in den Aussagen allen direkt auf die Verstehens-Sprünge, was sich im Laufe des Abends aber dann doch auch noch stark ändert. Teiresias kann zwar nicht schauen, ist dennoch selten um einen launigen Kommentar verlegen. Die Anmerkungen der Tastatur zu Beginn des Spiels bereiten uns auf das folgende Grauen vor und wünschen uns dabei viel Spaß.

Zu hören sind die klugen Verse des 1986 geborenen Thomas Köck, die Sophokles’ antiken Dramentext verweben mit einem immer wieder sarkastischen Ton der Verzweiflung über unser ganz eigenes Wegschauen von der Katastrophe der Erderhitzung. Seine Sprache ist wenig subtil, entfaltet dabei auch durch ihren Sprachwitz einen kraftvollen Kommentar zu sowohl Ödipus’ als auch unserem Umgang mit der Welt.

Zu sehen ist ein starker Theaterabend, der den Balken aus den Augen der Zusehenden drücken möchte. Diese Katastrophen so unterhaltsam und schockierend zugleich gezeigt zu bekommen, das stellt ein dermaßen eindrückliches Theatererlebnis dar, dass manch Premierenbesucher:in gegruselt wegschaut. Dem Wunsch des greisen Chores nach einem Zurück in die Normalität folgt tosender Applaus und ein beklommener Gang aus dem Saal. See for yourself! Auf dass jede Vorstellung restlos ausverkauft sein möge.

Und wer nicht nur geschaut, sondern auch gesehen hat, könnte nach dem Besuch der Vorstellung auf ähnliche Ideen kommen, wie sie Luisa Neubauer im Interview nach einem Vortrag auf der OMR Konferenz am 10.05.2023 formuliert (Quelle: YouTube „Luisa Neubauer – Cut the Bullshit“, www.youtube.com/watch?v=3RRJSx7_sbA):

„die Welt besser machen
also irgendwer muss doch was tun
und wir sind alle irgendwer
und wir müssen irgendwann was machen
und irgendwas irgendwann ist immer jetzt“

Im Glanz der Apokalypse - von Cindy Cordt

Regisseur Stefan Pucher setzt die Figur des Ödipus in eine Welt, in der Experten Daten liefern. Mit diesen Daten und Fakten lavieren sie um die Wahrheiten, die niemand hören will, herum. Ein krankes System, beherrscht von unhinterfragtem beharrlichem Wachstum. Das Schicksal der Hauptfigur – einst durch einen Orakelspruch vorgezeichnet – trieb ihn auf einer schnellspurigen Straße in den Kotflügel seines Vaters und kurz darauf in die Arme seine Mutter.
Der Mythos ist bekannt, aber auch einiges von dem, was mit bissigen Anspielungen im Wortgefecht laut oder vom greisen Chor gerappt wird, sollte uns bekannt vorkommen. Die Tatsachen von Thomas Köck, Autor des Stückes, in die verknitterten Münder des Trios gelegt, zeugen von desillusionierenden Menschenbildern und Schwabenträumen.

Pythia (Katharina Hauter), Orakel von Delphi, umnebelt von Rauschmitteln, weissagt in kryptischen Versen, die Teiresias, der blinde Seher (Michael Stiller) verdreht und uminterpretiert, wie es opportun erscheint. In Trance gibt sie naiv und ungefiltert wieder, sie könnte eine hippe Influencerin sein, versteht aber das Spiel nicht, welches Teiresias, wie ein Kobold immer wieder auftauchend und intrigant agierend, gekonnt beherrscht.

Die Bühne wirkt wie ein dystopisches Musical-Setting, auf der die Schauspieler crossgedresst auftreten oder überlebensgroß projiziert werden. Nicht nur das Sterben einer Priesterin stellt sich im überdrehten Zickzackkurs dar, die Agonie der Welt ist mit Lack und Leder aufgehübscht. Celina Rongen galoppiert im Angesicht des Todes mit Plateauschuhen über die Bühne, monologisiert und fällt mit ihrem „gothic“ Partydress zu Boden. Die Kostüme bestehen aus viel Stoff und resultieren sicher aus einigen Stunden an der Nähmaschine, aber groteske Menschlichkeit gräbt sich durch die drapierten Anspielungen an den Sonnenkönig und zeigt jenseits aller Lust am Kostüm darstellerisches Können. Ödipus (Thomas Hauser) zeigt versiert sein Innerstes, beißt sich auf die Lippen, schmollt, hofft, wimmert.
Es bleibt visuell: Eine mit Medusenhaar umkränzte KI kommentiert immer wieder mit monotoner Stimme das Geschehen, gibt Regieanweisungen oder Fakten von sich, ansonsten Videogames und weiter geile Abrissparty.

Neben der Suche nach dem Mörder des Laios und der Hoffnung auf ein Ende der Heimsuchung, scheint Pythia allein vage begriffen zu haben, dass ihr Verantwortung zukommt: Nach Worten folgen Taten, diese haben Folgen, wie auch das Verhalten der Menschen, denen schon längst keine Götter mehr entschuldigend zur Seite springen.

Worin liegt nun aber die Tragik, die mit so viel Glamour, Pailletten und Tüll auf die Bühne gebracht wird? In dem Schicksal, in das sich Ödipus selbst verstrickt, oder der parallelen Bedrohung aus Hitze, Pandemie und Klimawandel, auf die wir durch unser Verhalten im viel zitieren SUV zusteuern. Dramaturgisch klasse ineinander gewoben und gespiegelt knallen hier ein Helden-Schicksal und gegenwärtige Krisen aufeinander.

Die drei greisen Schwaben aus der Mitte der Gesellschaft (Teresa Annina Korfmacher, Jannik Mühlenweg und Valentin Richter) fordern mal wohlstandswutschnaubend, mal flehen sie im Angesicht ihrer Zukunft um Weissagung. Expertenmeinungen sind begehrt, aber – das weiß nicht nur Teiresias – auf die Ratschläge hören werden sie nicht.

Im weiteren Verlauf wird nun Polybos Tod verkündet und es folgt auch bald ein Reality-Bericht von der Reaktion seines vermeintlichen Sohnes, herrlich vorgetragen mit vielen splatterhaften Details von Josephine Köhler, um dann noch durch den Auftritt von eben dieser als Sohn des Laios entlarvten Ödipus – vom Wahnsinn gestreift mit blutverschmiertem Gesicht und Augäpfeln in den Händen knetend – ausgekostet zu werden.

Es ist offensichtlich, die Welt der Männer und ihrer Expansionen ist am Ende, kein Kollektiv kann helfen, kein Narrativ darüber hinwegtäuschen.

Der Spiegel wird uns vorgehalten, wir glotzen rein, verfolgen, wie Iokaste (Therese Dörr) quasi via Snapchat mit virtuellem Krönchen vor dem Ende allen Wachstums warnt, aber obwohl wir kräftig nicken, machen wir weiter wie bisher. Ihr Appell und auch der von Pythia, das System zu ändern verebbt im lasziven Torkeln beider Frauen, mal treppauf mal treppab. Die Kamera immer dabei, nah an den aufgerissenen Augen oder abgerissenen Augäpfeln, doch dadurch entsteht Distanz. Die realen Körper sind bis auf die Beine von einer Leinwand bedeckt, die Talking Heads flirren vor unseren Augen.

Ödipus erkennt „ich bin es“, wir ducken uns weg. Die schauspielerische Leistung des kompletten Ensembles war famos. Auch wenn wir mit Schuldeingeständnissen zögerlicher sind und vermutlich viele Besucher:innen nach einem Gläschen Sekt mit dem SUV abgerauscht sind und auch ich - hab zwar keine ET in Weinbergnähe - muss zugeben, den Text tippe ich in einen Apple. So machen wir weiter wie bisher und hatten wenigsten einen genussvollen Abend in der Plastikhölle. Wissen tun wir es ja nicht erst seit heute, doch auf die Art und Weise kann man sich die düstere Zukunft gern noch öfter weissagen lassen, zumindest solange wir noch zu der Hälfte der Menschheit gehören, die qua westlichem Standortvorteil noch applaudieren können. „Lebt einfach weiter“ back to normal, aber grandios war‘s.

Zu "Don Carlos"

Don Carlos – Das Hohelied der deutschen Sprache Fulminante Premiere am Schauspiel Stuttgart - von Christine Kohler

„Ich habe sehr viel Unglück mit meinen Müttern.“

Im fahlen Licht der Neonröhren, auf (beinahe) leerer Bühne, klagt Prinz Carlos, in femininen Federschmuck gekleidet, sein Lebens- und Liebesleid hinaus ins Publikum. Man weiß es schon: es wird nicht gut ausgehen, und doch ist man gespannt auf die Fortsetzung von Schillers „Dramatischem Gedicht“ in fünf Akten.
Schillers Drama hat seinen Ursprung in der Geschichte Spaniens im 16. Jahrhundert. Das Weltreich König Philipps II., ererbt vom großen Karl V., wird despotisch mit Unterdrückung und Gewalt sowie mit Hilfe der kirchlichen Inquisition verteidigt. Zarte Versuche, sich dieses Würgegriffs zu entledigen, werden brutalstmöglich niedergeschlagen. So auch in Flandern und Brabant, den heutigen Niederlanden. Don Carlos, der Kronprinz, so viel historische Wahrheit muss sein, ist eigentlich ungeeignet, die Nachfolge anzutreten und wird vom Vater von der Erbfolge ausgeschlossen. Schiller aber macht daraus am Ende des 18. Jahrhunderts – das Stück wird geschrieben zwischen 1782 und 1787 unter dem Eindruck der Ideale der Aufklärung – eine rührende Familiengeschichte in historischer Verkleidung, in der es um Intrigen am spanischen Hof, um Fragen des Machterhalts in Spanien und den beherrschten Ländern und vor allem um den tödlichen Vater-Sohn-Konflikt um die geliebte Mutter geht. Königin Elisabeth von Valois war einst dem Infanten Carlos versprochen, ehe sie der König sich zur Frau nahm.
Mit ungeheurer Sprachgewalt entwickelt sich das Schillersche Drama. Die Inszenierung von David Bösch stellt diese ausdrucksstarke, virtuose, höchst diffizile Sprache vor alle dramaturgischen Finessen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler begeistern in ihren Monologen und Dialogen auf allerhöchstem Niveau. Nichts darf den Fluss der Jamben stören. Die Schauplätze des Dramas wechseln auf der spartanisch eingerichteten Drehbühne zwischen den Gemächern der Königin, des Königs, der intriganten Prinzessin von Eboli und einem dubiosen Kloster.
Zurück zur Geschichte. Der labile, zwischen Liebe und Hoffnungslosigkeit schwankende Infant wird von seinem alten Freund Marquis von Posa in die reale Welt zurückgeholt, der ihm die wahren Zustände im Reich eröffnet und sich für die Freiheit der Niederlanden verkämpfen will. Für seine Vision von einem besseren Staat auf der Grundlage von Toleranz und Freiheit braucht er Carlos als Verbündeten. Mit ihm gemeinsam will er seine Idee in die Tat umsetzen. Es gelingt ihm zunächst, Don Carlos dafür zu gewinnen. Dieser versucht vergeblich seinen Vater zu überzeugen, ihn statt des Herzogs Alba als Heerführer nach Flandern zu schicken. Er wirbt mit gespielter Zuneigung, doch wird sein Ansinnen abgeschlagen: „Mir gefallen die Söhne nicht, die bessre Wahlen treffen, als ihre Väter. Solche Kranke wie du, mein Sohn, verlangen gute Pflege und wohnen unterm Aug‘ des Arzts. Du bleibst.“ Carlos: „Mein Geschäft ist aus!“ Don Carlos und der Marquis sind die zentralen Figuren des Dramas. Felix Strobel und David Müller – mit seinem markanten Profil kommt er Schiller schon sehr nahe – spielen ihre Rollen famos und hingebungsvoll: der eine den Verfechter von Freiheit, Tugend und Menschlichkeit, der andere die hin- und hergerissene labile Memme zwischen großer Liebesträumerei und großer Tat. Fabelhafte schauspielerische Leistung!
Marquis von Posa hinterlässt auch bei König Philipp II. großen Eindruck. Er wird zum König bestellt, nachdem sich dieser von seinen bisherigen ständigen Beratern, dem Herzog von Alba und seinem schleimigen Beichtvater Domingo - ideal besetzt mit Reinhard Mahlberg - enttäuscht sieht. Er begibt sich in die Hand von Posa, bis er bemerkt, dass auch dieser nun sein eigenes Spiel im Verbund mit Carlos und der Königin spielt. Matthias Leja in geckigem Glitzeranzug spielt den König mit seiner ganzen Machtfülle fast ohne emotionale Schwächen. Sein Geschäft ist der Machterhalt, und in Herzog Alba, gespielt von Michael Stiller mit stoischer Hingabe in Militärmontur, findet er, nach zwischenzeitlichem Zweifel, seinen kongenialen Geschäftspartner. Alba: „An der Krone funkeln die Perlen nur, und freilich nicht die Wunden, mit denen sie errungen ward.“ Ein Schelm, der beim Auftritt dieser Beiden nicht an heutige Feldzüge zum Zwecke des Machterhalts denkt.

Die beiden Frauen, Königin Elisabeth und Prinzessin von Eboli, gespielt von Frida-Lovisa Hamann und Katharina Hauter, bringen Farbe ins Drama, nicht nur was ihre Kostüme betrifft. Liebe hin, Liebe her, Love is in the air. Sie verwirren nicht nur Don Carlos, auch der König ist hier nicht ganz emotionslos. An ihrer Seite sind die Männlein grau und beinahe machtlos. Das Intrigenspiel der Eboli und das Hin und Her der Königin kostet letztlich dem Marquis das Leben – und am Ende auch der Königin und dem Infanten: „I follow you“ – in den Tod. „Unterwerfung will ich sehen“ – so lautet das Credo des Königs im Verbund mit der Kirche. Ja, die Kirche, in Gestalt des Großinquisitors des Königreichs, setzt dem Drama die Krone auf: Krone und Kirche - eine Einheit zur Unterdrückung der Freiheit.
Das Publikum feierte einen furiosen Theaterabend! Schillers großartige Sprachgewalt sollte zum schulischen Pflichtprogramm gehören – ein Beitrag für mehr Deutsch, auch auf unseren Schulhöfen.

Gedankenfreiheit unter Neonröhren - David Bösch inszeniert Friedrich Schillers „Don Carlos“ am Schauspiel Stuttgart - von Kendra Mäschke

Als sich der Vorhang im Schauspielhaus hebt, zeigt sich dem Publikum ein karges Szenario: Sechs Stühle, teils liegend, auf der (Dreh-)Bühne verteilt – später taucht durch die Drehung der Bühne noch ein Schreibtisch auf, an dem Philipp, König von Spanien, seinen bürokratischen Pflichten nachgeht – darüber ein Himmel aus Neonröhren, ansonsten sind die Schauspieler auf sich allein gestellt. Später schiebt die Prinzession von Eboli, statt der von Schiller geschriebenen Ottomane, noch kurz ein Sofa auf die Bühne, auf dem sie dann irgendwann mit dem Thronfolger liegt – ein schönes Bild für die Psychoanalyse, die beide vermutlich nötig hätten.
David Bösch setzt durch sein spartanisches Bühnenbild den Fokus seiner Inszenierung deutlich auf die schauspielerische Interaktion; einzig die Kostüme von Pascale Martin bieten Raum für Interpretation und unterstreichen die Charakteristika der Figuren: Domingo tritt in einem purpurnen Jogginganzug auf („Versprach er Ihnen nicht den ersten Purpur, den Spanien vergeben würde?“ fragt Don Carlos gleich im ersten Akt), der Herzog von Alba sieht aus wie eine Fidel Castro-Parodie, mit einer Bomberjacke, deren Camouflage-Muster bei näherem Hinsehen aus Blumen zusammengesetzt ist. Die Prinzessin von Eboli kommt in verschiedenen, recht trashigen 80er-Jahre-Looks daher, der König trägt einen pompigen Brokat-Anzug mit protziger Amtskette, und der namensgebende Protagonist ein durchsichtiges, schwarzes Hemd mit schwarzen Federn auf den Schultern – ein Look irgendwo zwischen George Michael und Jon Snow aus „Game of Thrones“.
Diese Konzentration auf die Figuren funktioniert: Die Schauspieler tragen den Abend mitsamt seiner komplexen Handlung voller Irrungen und Wirrungen. Vor allem Katharina Hauter als Prinzessin von Eboli brilliert; sie schmachtet, bettelt, weint, zürnt und intrigiert, bevor auch sie letzten Endes vor der Macht des Monarchen und dem System resigniert. Ihr Wandel von der braven Prinzessin, die den jungen Prinzen anhimmelt, zur erbost rauchenden Femme fatale ist eindrucksvoll.
Matthias Leja gibt einen König Philipp, dem man den Widerling ohne Einschränkung abkauft – ein gutes Gegenbild zu Felix Strobels Don Carlos, der oftmals fast zart wirkt, mit dem Federkleid auf den Schultern, an der Liebe zu seiner Mutter verzweifelnd.
Am Ende wirken sie beide, Philipp und Carlos, ziemlich zerstört und desolat, nicht nur in Spiel und Körpersprache: Don Carlos hat „Federn lassen“ müssen, sein Schulterschmuck fehlt, das Hemd hängt aus der Hose, er ist barfuß, genauso wie sein Vater, der zwar noch seine Brokathose trägt, dafür aber nur noch ein schwarzes Unterhemd.
Musikalisch wird der Abend hauptsächlich von Lykke Lis „I Follow Rivers“ untermalt, teils mit Gesang und Klavierbegleitung, teils rein instrumental. Bösch streut immer wieder traumähnliche Sequenzen zwischen der Königin und Don Carlos ein, die andeuten, was hätte sein können: glückliche Zweisamkeit, begleitet von „I follow you, deep sea, baby“. Aber der Textinhalt kippt natürlich immer: „I follow you, dark doom, honey“ und ebenso endet jedes dieser Traumbilder abrupt.
Was Traumbilder angeht sind natürlich auch diese ein Motiv des Stücks: Während Don Carlos von einem Leben mit der Königin träumt, träumt die Prinzessin von Eboli von einem Leben mit Don Carlos, der Herzog von Alba und Domingo träumen von Macht und der Marquis von Posa träumt vom „kühne[n] Traumbild eines neuen Staates“ und von „Gedankenfreiheit“.
Letzten Endes verzweifeln und scheitern alle Figuren an ihren Traumbildern. Die Intrigen von Domingo und dem Herzog von Alba gehen nicht auf, der Marquis von Posa opfert sich für seinen Freund Don Carlos, der König muss um seine Macht bangen und liefert seinen eigenen Sohn an den Großinquisitor aus.
Ein wichtiger Aspekt sowohl hier als auch für die gesamte Inszenierung ist das Lichtdesign von Jörg Schuchardt. Während die Traumsequenzen im hinteren Teil der Bühne stattfinden, zart und warm von der Seite beleuchtet, finden die Konflikte vorne und frontal beleuchtet oder unter dem Licht der Neonröhren statt. Zum Schluss senken diese sich auf Hüfthöhe, der König wandelt darin umher, von allen verlassen und gebrochen. Grandios beleuchtet ist auch der Dialog mit dem Großinquisitor aus dem Off: Nur König Philipp steht auf der kahlen Bühne, mitten in einem riesigen Kreuz aus Licht.
David Böschs Inszenierung endet mit einem der Traumbilder, einem letzten Aufbäumen der Hoffnung, dass es doch noch eine Liebesgeschichte zwischen Don Carlos und Königin Elisabeth geben könne. Dann fällt ein Schuss, Carlos bricht getroffen zusammen; ein zweiter Schuss, und wie um klarzustellen, dass es keine Hoffnung gibt, lässt Bösch auch Elisabeth sterben, ganz nach Lykke Li: „Oh, I beg you, can I follow?“

Zu "Die Präsidentinnen"

Präsidialer Kaffeeklatsch in der Jauchegrube - von Cindy Cordt

Vielleicht sind Fäkalien das Ergebnis eines ganz natürlichen, im menschlichen Körper ablaufenden Prozesses. Vielleicht sammelt sich in ihnen das Abscheuliche unserer Spezies oder es sind einfach Häufchen, die von nicht erfüllten Sehnsüchten übrig geblieben sind. In dem Stück Die Präsidentinnen wird diese Frage in einer bescheiden eingerichteten Wohnung verhandelt. Kein Luxus, Sparen ist heilig. Der Prunk sammelt sich in der Glotze und das Überdimensionale steckt im Detail. Das Bühnenbild besteht aus einem hellblauen Sofa mit gigantischen Ausmaßen, auf diesem sitzen Erna und Grete. Im Kontrast zur Inneneinrichtung wirken ihre Extremitäten, die den Boden nicht erreichen, kindlich klein. Die beiden Frauen starren auf den Fernseher und schwadronieren über Sparsamkeit und Verkehr, landen dann immer wieder bei den Ausscheidungen, zu denen ihre Alltagssorgen verdaut wurden. Zu ihren Füßen sitzt Mariedl. Dies alles ergibt ein Tryptichon, das man als Spiegel unserer Gesellschaft sehen kann und sodann feststellen muss, dass der Spiegel eine „Drecksau“ ist.
Werner Schwab hält ihn uns vor und hantiert mit seinem Stück, welches er als „Fäkaliendrama“ einordnete, kunstvoll mit Wortspielen, die Amélie Niermeyer sinnreich um derb Komödiantisches herum laviert und so distinguierten Slapstick produziert. Wenn die Protagonistinnen wie hypnotisiert auf die Fernsehbilder schauen und dann auf dem Sofa wie Kinder herumklettern, ungelenk zum Sitzen kommen, stoßen Themen wie Inzest und religiöser Eifer auf. Weil diese Themen aber beiläufig auftauchen, bezeugen sie umso mehr die Verruchtheit der Gesellschaft, in denen diese menschlichen Makel alltäglich sind. Anke Schubert ist Erna, mit wilden Locken und neuer Haube will sie sich mit religiösem Eifer den Lebensdreck vom Leibe halten doch zwischen den Sofakissen lukt immer wieder ihr dem Alkohol verfallener Sohn Hermann hervor. Das er ihr partout keine Enkel schenken will, bereite ihr Verdruss. Mit glühende Worten schildert sie ihre Misere. Christiane Roßbach sitzt als Grete selbstbewusst und üppig neben ihr, doch auch ihre Träume, die sie mal sehnsuchtsvoll mal vulgär preisgibt – wir wissen es – sind unerfüllbar. „Das Geschlechtliche treibt das Menschliche aus“ und der Frust über die Unerfüllbarkeit führt immer wieder zu Missgunst, welche sich in kindlicher Kabbelei ausdrückt, die aber schließlich ernst wird. Mit dem Rücken gegen die Sofakissen gedrückt, den Blick immer wieder starr auf die Fernseh- Traum-Bilder gerichtet, sitzen die beiden älteren Frauen da. Celina Rongen als Mariedl sitzt zu ihren Füssen, mit großartigem Minenspiel Mitgefühl heischend. Verhuscht stakst sie immer wieder zur Heizung, klettert, turnt und gibt in ihren Verrenkungen und Verschlingungen auch ihre Sehnsüchte preis. Die strähnigen Haare, die schlaksige Figur und die geringschätzigen Blicke der anderen Frauen weisen sie als Außenseiterin aus, doch sie kämpft mit ihrer unglaublichen Begabung und fanatischem Eifer ekelerregend um Aufmerksamkeit und darum, von den Mitmenschen gebraucht zu werden.
Nach den Schablonen von Märchenfilmen fantasieren die drei sich ihre Wunschwelt herbei, mit starr nach vorn gerichteten Augen, der Fernseher vor ihnen. Nur die Jungfrau Maria zieht ihren Blick von der unwirklichen rosigen Zukunft nach oben und Mariedl bringt sie dann wieder zurück auf den Boden und noch tiefer in den Unterleib und in die Fäkaliengruben.
Ein bisschen sind wir ja schon an Scheiße gewöhnt, wurde sie doch oft schon von Künstlern in Dosen gefüllt und verkauft, dennoch ekeln wir uns lustvoll, wenn Mariedl wunderbar unterhaltsam und ausführlich beschreibt, wie ihr Arm im Abort versinkt. Wir stellen uns die Mikroben vor, die an ihrem Körper hinaufkrabbeln. Wenn wir dann so richtig im dem Bild versunken sind, das Celina Rongen mit ihrer schrillen Stimme vor unsern Augen aufpoppen lässt, dann ziehen Erna und Grete die Aufmerksamkeit wieder aus der Gosse auf die Couch, wo sie sich wie Kinder beschimpfen und an den Haaren ziehen. Erna verachtet die Geilheit Gretes, Grete mokiert sich wiederum über deren Geiz. Aber nach einem „Ich habe das nicht so gemeint“ ist die Welt schon wieder in Ordnung und der Kühlschrank hält zumindest die kleinen Wünsche in Form von Wein in rauen Mengen nicht hinter der biederen Holzvertäfelung zurück. „Ein guter Film zeigt das Leben, wie es sein könnte“, Christian Schmid als Bühnenbildner wiederum die Wohnung einer Rentnerin, hinter deren Fassade menschlicher Unrat brodelt. Die Papstmesse wird immer wieder unterbrochen von Jauche, Stuhl und Gefasel von Arbeit, Glaube, Sex und Hoffnung auf die Hauptrolle im eigenen Film. Menschlichkeit ist mal prall und lustvoll, mal traurig und mal geifernd, von den drei wunderbaren Schauspielerinnen gespielt. Mit ganzer Hingabe und vollem Körpereinsatz kämpfen die drei Protagonistinnen darum, ihr Wünsche erzählen zu dürfen und um ihren Platz auf dem Sofa. Mariedl strengt sich ganz besonders an, wir verfolgen, wie sie am glatten Heizkörper abrutscht, nicht aufgibt.
Man empfindet fast schon Zärtlichkeit, wenn man den Berichten über ihre zurecht-fabulierten Großtaten in der Kloschüssel lauscht. Wir erfahren: Die schlechten Stoffe sammeln sich im Körper, doch schämen muss man sich nicht,
man kann sie ausscheiden, darin wühlen und duftendes Parfüm darin finden. Es ist möglich, wir wünschen es uns und ihnen fast: Wojtila wird Erna zum Tanz bitten, Sex mit dem feschen Musiker wird angebahnt und schließlich wird auch Pechmaries Fantasie kurz Wirklichkeit. Mariedl erobert das Sofa, wirft die beiden älteren herunter und ereifert sich in ihrem Hirngespinst, bis sie mariengleich hinaufsteigt. Reden auch die Frauen ohnehin schon die ganze Zeit in der dritten Person von sich, erheben sie sich damit sogleich zu Papst und Bundeskanzler, zeigen so aber auch, dass sie selbst nicht an die Erfüllung ihrer Wünsche glauben. Sie sind sich selbst ebenso distanziert, wie den anderen
gegenüber, die in ihrer gegenläufigen Egozentrik Mitgefühl nicht aufkommen lassen. Jede ist sich selbst die nächste, dennoch bestärken sie sich, richten sich gemeinsam an uns und als Mariedl schließlich die mögliche brutale Realität mit ihren Worten auszumalen beginnt, rotten sie sich zusammen und machen sie Mundtot, mausetot. Die köstliche Zunge wird noch für den Hund an den prallen Busen gedrückt und dann ist erstmal Ruhe. Nach einem kurzen Aufflackern des Ewig-Gleichen endet das Stück und der tosende Beifall scheint mir gerechtfertigt, habe ich es doch wirklich genossen, den drei Damen in ihrer Überzeichnung, die gerade bis zur rechten Linie vorstößt, zuzuhören und an ihren weit aufgerissenen Lippen und Augen zu hängen. Klamauk schimmerte zwar hier und da durch, wurde aber nonchalant von den großartigen und sich die Bälle zuwerfenden Schauspielerinnen unter dem Schleier von Jauche und dem wirklichen Leben (wie es auf dem TV-Bildschirm erscheint) gehalten.

Zu "Der gute Mensch von Sezuan"

Darf eine Kapitalismuskritik unterhaltsam sein? - Eine Zuschauerkritik von Stefanie Steible

Der gute Mensch von Sezuan gilt als Bertolt Brechts umstrittenstes Stück. Diskussionsstoff liefert auch die neue Inszenierung am Schauspiel Stuttgart, der im Kern ein gelungenes dramaturgisches Konzept zugrunde liegt, dessen Umsetzung aber nicht vollumfänglich gelingt. Die Beanspruchung der SchaupielerInnen mit verschiedensten Doppelrollen dürfte extrem sein. Das führt dazu, dass sie mit vielen Details beschäftigt, nicht alle gleichermaßen diese Anforderungen bewältigen können. Überzeugend wirken durchgängig die Nebenrollen – namentlich die komisch-traurigen Figuren der Witwe Shin (Evgenia Dodina), Gabriele Hintermaier, die die Rollen der Hausbesitzerin Mi Tzü, des Polizisten und der künftigen Schwiegermutter spielt, Michael Stiller als Barbier, Schreiner, Arbeitsloser und Kellner, und nicht zuletzt des Wasserverkäufers Wang, verkörpert durch Valentin Richter.
Hingegen kann die Hauptfigur, performt von Paula Skopura in ihrer Doppelrolle als gute Shen Te und schlechter Shui Ta, nicht vollends überzeugen. Zu konzentriert bleibt sie häufig auf den Text und ihre technische Ausführung, und kann dadurch weder die eine noch die andere Rolle gänzlich ausfüllen. Besonders in der Auflösung am Schluss, als sie ihr Geständnis ablegt, fehlt es an Emotion und Leidenschaft. Auch ihr Geliebter Yang Sun (Peer Oscar Musinowski), der sie immer wieder ins Unglück zu reißen droht, wird davon beeinflusst und kann nicht seine ganze Wirkkraft entfalten. In den Gesangspartien scheinen sich beide deutlich wohler zu fühlen. Hier schaffen sie es, loszulassen, die Bühne zu nutzen und vollständig in ihre Rollen einzutauchen, besonders Yang Sun als Flieger ohne Stellung. Auch wenn man seine Performance nicht unbedingt mögen muss - Charakter zeigt sie allemal.
Insgesamt betrachtet ist die hier gewählte Präsentation von Brechts Parabel sehenswert, gerade weil sie ihr Publikum mit vielen Fragezeichen zurücklässt – und damit genauso, wie es der Autor auch vorgesehen hatte. Doch in diesen schwierigen Zeiten hätte sich mancher im Zuschauerraum eventuell mehr Antworten erwartet, wie fast zu erfühlen war. Ist das nicht auch als Aufgabe einer modernen Dramaturgie und Regie anzusehen?
Während die Götter sich auf die Suche nach dem guten Menschen machen und dabei auf die Prostituierte Shen Te stoßen, die ihnen schließlich Unterkunft gewährt und der sie dafür 1000 Silberdollar überlassen, entspannt sich die Geschichte, unterstützt von einem klug überlegten Bühnenbild. Nicht zuletzt durch die vier MusikerInnen im Orchestergraben, die stets voll in ihrem Element zu sein scheinen, vermag man sich schnell in die Welt der chinesischen Stadt Sezuan und dem Elend der dort Lebenden zu versetzen. Manches wirkt dabei sehr real und mit vielen Parallelen zur Gegenwart. Die Kapitalismuskritik von Brecht kann somit ihre Wirkung entfalten, ohne dass sie echte Beklemmung auszulösen vermag, obwohl das Potenzial dazu vorhanden wäre.
Die Stuttgarter Aufführung ist insgesamt unterhaltsam und wird nie langweilig, auch weil sie mit viel Ironie und Witz gestaltet wird. So tritt der Barbier als gelb gekleideter und geschminkter Straßenkünstler auf. Oder die SchauspielerInnen kämpfen gemeinsam mit Wortwitz und auch körperlich um den Vollzug der Hochzeit zwischen Shen Te und Yang Sun.
Es bleibt der Eindruck eines schönen Theaterabends von fast drei Stunden Länge zurück, der dennoch nicht in sich geschlossen wirkt. Deshalb muss die Frage erlaubt sein, ob das Stück vor allem als unterhaltsam in Erinnerung bleiben sollte. Noch mehr Mut, aber auch weniger Schrilles hätten gutgetan und vermutlich dazu beigetragen, das beabsichtigte Gedankenkino bei den Betrachtenden noch selbstverständlicher in Gang zu setzen.

Pop-Art meets Brecht - von Marie Grützner

Ein guter Mensch sein und trotz dessen in einer ausbeuterischen kapitalistischen Welt leben, bzw. überleben? Dieser Konflikt stellt die von den drei Göttern auserwählte gutmütige Shen Te im gesamten Stück Der gute Mensch von Sezuan von Bertolt Brecht auf die Probe. Sie erhält von den Göttern Startkapital und eröffnet damit einen Tabakladen. Doch schnell erfährt sie von allen Seiten Druck und wird ausgenutzt. Sie fühlt sich zum eigenen Schutz gezwungen, in die Rolle eines unbarmherzigen Vetters Shui Ta zu schlüpfen, um moralisch fragwürdiges Verhalten zu ermöglichen.
Das gesamte Stück wird von einer Band musikalisch begleitet, was zum einen die lange Handlung auflockert, teilweise auch einzelne Bewegungen der Schauspieler*innen hinterlegt und untermalt. Die Passagen des Stückes, welche gesungen werden und sich an dem Original orientieren, sind jedoch teilweise akustisch schwer verständlich, sodass der Inhalt nicht vollständig übermittelt wird.
Die gesamte Inszenierung von Tina Lanik erinnert an ein lebendiges Kunstwerk der Pop-Art Kunstrichtung, die Mitte der 1950er Jahre entstand und den Kapitalismus thematisiert - huldigt, jedoch auch kritisiert. Pop-Art bedient sich meist trivialer Elemente aus dem Alltäglichen der Medien, Populärkultur und Werbung und ist geprägt vom Einsatz von Primärfarben, später auch von Sekundärfarben, was zum Bühnen- und Kostümbild absolut zutrifft.
Das Bühnenbild ist vollständig eingetaucht in die Farben Rot, Pink und Gelb. Gelbe Neonlichter akzentuieren es zusätzlich. Dargestellt sind vier verschiedene Häuserfronten in der Stadt Sezuan, welche durch den Einsatz der Drehbühne regelmäßig wechseln. Im Zentrum befindet sich ein Treppenhaus zu einem weiteren Geschoss. Es erfüllt jegliche Klischees einer chinesischen Stadt: eine traditionelle Dachform, ein Gong im oberen Geschoss, chinesische Schriftzeichen an den Häuserfronten, gegrillte Enten. Die vier verschiedenen Situationen sind sich dabei optisch so ähnlich, sodass ich als Zuschauerin nicht in andere Welten eintauche. Es dreht und bewegt sich, untermalt den Inhalt des Stückes jedoch wenig.
Die Figuren, die sich darin bewegen, erscheinen wie Karikaturen eines Comics. Jede Figur erhält ein meist einfarbiges, exzentrisches Kostüm, welches in sich eine eigene Geschichte erzählt: etwa die drei Götter im weißen Jogginganzug mit wechselnden Masken, Shen Te im türkisfarbenen hautengen Lederanzug mit Plateauschuhen und violett glänzender Schaumstoffperücke, die Hausbesitzerin Mi Tzü im kurzen weißen aufgeplusterten Hochzeitskleid, die Witwe Shin in einem pinken Ballonkleid mit pinken Absatzschuhen und pinker Schleife im voluminös hochgesteckten Haar, und der Flieger und Geliebte Yang Sun in einem grünem Motorradanzug und Fliegerhelm.
Insgesamt ist das Stück also schrill, bunt, überraschend, und laut, und kann bis ins kleinste Detail keineswegs beschrieben werden. Zu Beginn der Inszenierung muss sich das Auge erstmal an die vielen überspitzten Elemente und wild zusammengewürfelten Kostüme gewöhnen, wohingegen sich im Verlauf das Stück beruhigt, da auch das Bühnenbild konstant bleibt. Außerdem gleichen sich die Schauspieler*innen am Ende durch ihre pinke Arbeitsuniform an, da sie nun alle in der gleichen Tabakfabrik arbeiten und sich dem kapitalistischen Wirtschaftssystem fügen. Am Ende geht es doch schließlich um Einkommen und Überleben.
Durch die Überfrachtung des Stückes war es mir als Zuschauerin nicht immer möglich, zu bewerten, ob einzelne Details der Unterhaltung wegen gewählt sind oder eine tiefere Bedeutung haben. Vieles bleibt im Ungewissen und lässt großen Interpretationsspielraum. Ebenso bleibt die anfängliche Fragestellung - übereinstimmend mit der Originalfassung von Brecht – auch mit Ende des Stückes offen. Die Zuschauer*innen werden somit aufgefordert, sowohl den Inhalt als auch die Inszenierung zu verdauen, und ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Vor allem die Passagen, in denen die Schauspieler*innen an das Publikum herantreten, sind stark, da diese zum Nachdenken anregen: Was würden Sie in dieser Situation tun? Sind Sie ein guter Mensch?

Zu "Ein Volksfeind"

Resignation vor der großen Mehrheit - Burkhard C. Kosminski inszeniert Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ am Stuttgarter Schauspielhaus - von Kendra Mäschke

Henrik Ibsen schrieb sein Stück Ein Volksfeind 1882 als Reaktion auf die Kritik an einigen seiner vorangegangenen Dramen – diese waren als skandalös betrachtet worden, weil sie sich gegen gesellschaftliche Konventionen wandten. Im Volksfeind präsentierte Ibsen also eben selbigen: Einen Mann, dem Recht und Wahrheit wichtiger sind als die Meinung der großen Mehrheit und sogar die seiner Freunde und seines eigenen Bruders.
Am Schauspiel Stuttgart beginnt das Martyrium des zunächst sogar als „Volksfreund“ bezeichneten Tomas Stockmann in einer Art Hippie-Höhle: das mutmaßliche Wohnzimmer im Hause des Protagonisten bildet mit einigen großen Kissen und einigen bunten Tüchern darüber eine Art Liegewiese, die Wand dahinter schwankt in ihrer Anmutung irgendwo zwischen psychedelischer Tapete und den Wandkacheln eines Kurbades. Im Vordergrund liegt Katrine, die Ehefrau des Protagonisten, auf besagten Kissen, in der Hand einen etwas überdimensionierten Joint, und gibt sich dem Drogenrausch hin, bald in Gesellschaft von Hovstad, dem Redakteur des ortsansässigen „Volksboten“ und ihres Ehemanns. In Kosminskis Inszenierung sind alle drei in leicht hippieske Gewänder gekleidet und sie verbindet eine – sehr plakativ dargestellte – Dreiecksbeziehung.
Als Kontrast dazu tritt Peter Stockmann, Tomas‘ Bruder, auf: Die Haare ordentlich nach hinten gekämmt, Hornbrille, Anzug. Obwohl die Brüder sich in Haarfarbe und -schnitt gleichen, vereint Peter alle prototypischen Eigenschaften des Beamten in sich, ordentlich, bieder, spießig. Noch lässt Tomas seinen Bruder im Dunkeln bezüglich seiner Entdeckung, dass das Wasser des Kurbades vergiftet ist, nur seine Frau und seinen Hippie-Kumpel Hovstad weiht er ein, da dieser seine Erkenntnisse in der Zeitung abdrucken soll.
Der Verleger des „Volksboten“, Aslaksen, steht optisch irgendwo dazwischen, in seinem schicken Anzug, aber mit pseudo-hipsterigem Pferdeschwänzchen.
Über die Drehbühne wandelt sich die Szenerie immer wieder: Mal steht da die besagte Liegewiese, die dann zum Bett umgewandelt wird, mal steht da ein langer Tisch mit zwei Stühlen. An diesem Tisch begegnen sich die Brüder mehrmals; anfangs noch einander zugewandt, später durch die Länge des Tisches und auch emotional getrennt. Die psychedelische Tapete im Hintergrund hat bei diesen Szenenwechseln den netten Nebeneffekt, dass sie, wenn sie durch die Drehbühne bewegt wird, einen gewissen Schwindel beim Zuschauer auslöst, wohl dem gleich, den die Charaktere auf der Bühne durch den Konsum illegaler Drogen erleben.
Zu Beginn des dritten Aktes verschwindet die Wand und mit ihr die Tapete und mit riesigen, groß bedruckten Bannern, die ein wenig an Reichsbanner der NS-Zeit erinnern, wird der Schauplatz der Redaktion des Volksboten dargestellt (Bühne: Florian Etti). Die Handlung spitzt sich nach und nach zu – Tomas‘ Bruder droht mit Gegenmaßnahmen, Hovstad und Aslaksen knicken ein, nachdem sie erfahren, welche finanziellen Konsequenzen eine Schließung des Kurbades für das Örtchen haben würde. Hovstad, der im ersten und zweiten Akt teils lässig gekleidet, teils halbnackt und schmerbäuchig auf der Bühne steht, orientiert sich jetzt optisch mehr und mehr an den Biedermännern in seiner Umgebung.
Generell gelingt es durch die Kostüme (Ute Lindenberg) noch am besten, einen Wandel der Figuren nachvollziehbar zu machen. Durch die Kürzungen des Stücks in Besetzung und Textvorlage gehen wichtige Details verloren, die den Charakteren Tiefenschärfe geben würden. Ein Peter Stockmann bleibt steif, ein Aslaksen unscheinbar, ein Dr. Tomas Stockmann sitzt im 4. Akt erstmal nur resigniert am Rand, während seine Kontrahenten über ihn herziehen, statt sich aufzubäumen, ihnen das Mikrofon zu entreißen und für die Wahrheit zu kämpfen.
Kurz schreckt der Zuschauer auf, als die wütende Menge zum Haus des Doktors zieht. Aber auch dort nur Resignation. Peter unterstellt seinem Bruder, er habe es nur auf das Erbe des Schwiegervaters Morten Kiil (der leider jünger aussieht, als sein Schwiegersohn) abgesehen, selbiger erpresst Stockmann, indem er ihm eröffnet, er habe nahezu alle Wertpapiere des Kurbades mit besagter Erbschaft aufgekauft und wenn Tomas nicht wolle, dass das Erbe verlorengehe, müsse er seine Aussagen bezüglich der Wasserverschmutzung zurückziehen.
Leider gelingt es weder der Inszenierung noch den Schauspielern, zu fesseln. Die Handlung plätschert so vor sich hin, ab und an ein Aufbäumen, eine zerbrochene Flasche, eine kleine Explosion, Spannung bleibt jedoch aus. Das Ensemble spielt technisch solide, der emotionale rote Faden aber fehlt. Wo ein Tomas Stockmann rasend sein sollte, resigniert er. Wo ein Hovstad verachtenswert sein sollte, ist er gleichgültig. Wo ein Aslaksen schmierig sein sollte, ist er gefällig.
Am Ende stehen alle, außer dem Kurarzt Tomas Stockman, aufgereiht auf der Hinterbühne, wie Marionetten, einer nach dem anderen tritt vor und interagiert mit Stockmann – dessen schlechtes Gewissen aus dem Off. Doch Stockmann beschließt, sich der Gesellschaft, der „großen Mehrheit“, den Dummen, nicht zu beugen. Sein Aufbäumen wirkt leider, wie der gesamte Abend, uninspiriert. Als Zuschauer fragt man sich, was die Botschaft dieser Inszenierung sein soll. Schade, ein so bedeutendes und für unsere Zeit so aktuelles Theaterstück auf diese Weise einzudampfen.

von Inge Amrouch

Wir reisen mit Henrik Ibsen in eine norwegische Kleinstadt. Hier leben die beiden Brüder Stockmann, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zum einen Peter Stockmann, angepasster Ehrenmann und Bürgermeister, der alles gibt, um die Stadt mit ihrem neuen Kurbad voranzubringen. Er muss alles unter Kontrolle haben und lässt keine Widerrede zu. Doch sein Bruder Tomas, der es eher etwas geruhsamer angehen lässt und es mit Hilfe seines Bruders doch auch zu einem Job als Arzt bei der Kurverwaltung gebracht hat, geniesst seine Freiheiten und sein privilegiertes Leben mit Familie und Freund dem Chefredakteur Hovstad.

Tomas Stockmann ist Wissenschaftler durch und durch und da ihm die Quelle des Kurbads suspekt ist, nimmt er heimlich Wasserproben und die Ergebnisse sind erschreckend. Schuld an der Misere ist die Fabrik seines Schwiegervaters. Das Wasser ist schädlich und gesundheitsgefährdend.

Er ist total aus dem Häuschen und der Meinung, es muss sofort gehandelt werden. Er schreibt einen Artikel für die Zeitung und sieht sich als Retter der Gesellschaft. Und die wichtigen und einflussreichen Herren der Zeitung wollen ihn auf jeden Fall unterstützen, ja so muss es sein und Thomas Stockmann fühlt sich stark und muss seine Mission erfüllen, denn die Gesellschaft wird es ihm danken. Er wird zum Held werden...

Doch dann erfährt sein Bruder davon und dieser lässt sich sein schönes Projekt und seine Zukunft nicht kaputt machen. Er lässt seine Beziehungen spielen und auf einmal ist alles ganz harmlos und sein Bruder wird von allen gemieden und als Zerstörer und Neider gesehen, jeder hängt mit drin in den Machenschaften und Thomas Stockmann steht alleine da, ist verzweifelt und keiner nimmt ihn ernst und er wird zum Volksfeind ernannt.

Das Stück zeigt hervorragend, wie schnell es mit unserer Freiheit und Demokratie vorbei sein kann, wenn es um Macht, Politik und Geld geht.

Wir wurden wunderbar unterhalten und das Publikum verabschiedete die beeindruckenden Schauspieler und Schauspielerin mit einem mega Applaus.

Zu "Schuld und Sühne"

Schuld – wo bleibt die Sühne? Eindrucksvoller Theaterabend mit Dostojewski und der russischen Seele – von Christine Kohler

Der Roman Schuld und Sühne, jetzt Verbrechen und Strafe, entstand im Jahr 1844, da war Dostojewski gerade einmal 23 Jahre alt und hatte mehrere Jahre in einem sibirischen Straflager hinter sich. Wen wundert’s, wenn fundamentale Fragen der Menschheit im Mittelpunkt des Romans stehen? Zum Beispiel diese immer wieder aktuelle: Wie kommen Verbrechen und Gewalt in die Welt?

Eine Geschichte wird erzählt und die geht so: Raskolnikow, der „Held“ des Romans, ein gescheiterter und mittelloser ehemaliger Student in St. Petersburg, erschlägt eine alte Pfandleiherin aus schierer Not. Den Mord legitimiert er durch seine Idee einer vollkommenen Überlegenheit gegenüber dem Großteil der Menschheit. Nach der Tat überwältigen ihn Skrupel, die ihn völlig irre werden lassen. Er versucht, den Mord zu vertuschen, gerät aber immer mehr unter Verdacht, bis er schließlich verzweifelt aufgibt und gesteht. Am Ende – im Straflager angekommen – geht er durch geistige Fegefeuer, bis ihn schließlich der Lichtblick der Liebe in Gestalt der Sonja, einer ehemaligen Prostituierten erleuchtet und ihm ein neues Leben schenkt.

Was macht das Theater aus diesem über 700 Seiten starken Roman? Es beginnt mit einer Diskussion zwischen Raskolnikow, seinem Freund Rasumichin und dem Juristen Petrowitsch, um Raskolnikows Artikel in einer Zeitschrift, in dem er seine Auffassung einer Zweiteilung der Menschheit in Gewöhnliche und Außergewöhnliche begründet. Er deutet darin an, dass es in der Welt außergewöhnliche Persönlichkeiten gibt, die ein Recht hätten, Verbrechen zu begehen, für die angeblich das Gesetz nicht geschrieben sei. Sie hätten von sich aus ein Recht, dem Gewissen zu gestatten, Hindernisse zu überwinden, wenn die Ausführung einer manchmal vielleicht für die ganze Menschheit heilbringenden Idee das verlange. Es sei sogar auffallend, dass der größte Teil dieser Wohltäter und Ordner der Menschheit besonders große Blutvergießer waren. Mohammed, Napoleon und weitere werden genannt. Wer denkt da heute nicht an einen aktuellen Herrscher Russlands?
Die Unterscheidung der Menschheit in die Kategorien 1 und 2 zieht sich wie ein roter Faden durch die Inszenierung: einmal die unzähligen Gewöhnlichen, die für die Erhaltung der Welt sorgen und sich vermehren, und dann die wenigen besonderen Menschen, die die Welt bewegen und in die Zukunft führen - ein Schelm, der Böses dabei denkt. Wie aber lassen sich diese beiden Menschenarten voneinander unterscheiden? Da kommen die Drei nicht auf eine endgültige Lösung. Vielleicht ein Stempel?

Bis dahin ist in der Inszenierung von Oliver Frljić vom konkreten Mord noch keine Spur zu sehen. Das geschehende Verbrechen wird überspielt mit Szenen der Familienzusammenführung mit Mutter Alexandrowna und Schwester Dunja und deren Verlobten Luschin, die Geschichte um den Verehrer Dunjas, Swdrigajlow und dem Tod seiner Frau, auch das schwere Los der Familie Marmeladow – Sonja zieht ein übergroßes Kreuz Christi, stark Therese Dörr als Katerina Marmeladowa und Kindchen Polenka, bei Walzerklängen von Chopin -, Marmeladows Sterben und die selbstlose Unterstützung Raskolnikows für die Beerdigung. In diesen Szenen wird das Verhältnis Mann/Frau auf klare Weise beantwortet: ein Mann solle seiner Frau durch nichts verpflichtet sein, dagegen sei es weit besser, wenn die Frau den Mann als ihren Wohltäter betrachtet.
Trotz des begangenen Mordes: Verzweiflung bei Raskolnikow? Fehlanzeige. Im Gegenteil, er tritt sehr forsch und selbstgerecht in all diesen Szenen auf. Ob der Zuschauer dem Geschehen einen Zusammenhang abringen kann? Am Ende des ersten Teils, bevor der Vorhang fällt, geschieht er dann doch, der Mord an der Alten mit ihren bodenlangen weißen Haaren. Raskolnikow räsonniert: Ja, und was bedeutet auf der allgemeinen Waage das Leben dieser schwindsüchtigen, dummen und bösen Alten? Nicht mehr als das Leben einer Laus….

Im zweiten Teil steht die Auflösung des Mordfalls zwar an, aber nicht im Mittelpunkt. Die Inszenierung kommt immer wieder auf das Thema Verbrechen und Strafe zurück, auch da, wo Raskolnikow schon stark unter Verdacht gerät. Die Diskussionen darüber unter den drei Intellektuellen Raskolnikow (David Müller - zu wenig verzweifelt?), Petrowitsch (Felix Strobel – sehr präsent) und Rasumichin (Valentin Richter – hätte mehr Text vertragen) sind zweifellos grandios und Höhepunkte der Aufführung. Wie kommt das Verbrechen in die Welt? Sind es die sozialen Zustände, wie es die Sozialisten behaupten? Sind es die Milieus? Was ist mit der menschlichen Natur? Kann Gewalt, und wenn ja, unter welchen Umständen legitimiert werden? Diese Fragen sind heute wie vor zweihundert Jahren aktuell wie schon lange nicht mehr. Der überlange Tisch - anlässlich des Fest- bzw. Totenmahls für den verstorbenen Marmeladow mit totem Pferd sowie beim Verhör Raskolnikows mit Panzer - lässt den Zuschauer an Szenen aus dem Kreml denken. Wer hätte vor Wochen geahnt, welch ungezügelte und rohe Gewalt wieder in unsere wohlige Nähe kommt? Aber – so ist es immer bei diesen, so Dostojewski, Schillerschen schönen Seelen: bis zum letzten Augenblick schmücken sie einen Menschen mit Pfauenfedern, bis zum letzten Augenblick glauben sie an das Gute und nicht an das Böse im Menschen; obwohl sie die Kehrseite der Medaille ahnen, belügen sie sich lieber selbst, weil ihnen schon vor dem Gedanken graust. „Für mich soll’s rote Rosen regnen…“ – erkannt? Der Kopf Christi wird vom Kreuz geschlagen – da bleibt ja nur noch der Teufel übrig.

Das Ende ist grausam. Gefühlt tausend Beile fallen vom Himmel und die Akteure auf der Bühne versuchen sich zu retten, wo’s geht. Raskolnikow muss nach Sibirien, Sonja geht mit ihm. Soviel ist klar. Auf das Verbrechen folgt die vergleichsweise milde Strafe. Aber was ist mit der Schwere der Schuld? Wo bleibt die Sühne?

Trotz mancher Irritation – lang anhaltender freundlicher Beifall.

Zu "Maria Stuart"

WOZU DIENT MEIN LEBEN? – von Larissa Besler

„Wo ist das Urteil? Ich habe es noch nicht zur Vollstreckung freigegeben“ verlangt Königin Elisabeth (Josephine Köhler), als sie vom Graf von Shrewsbury (Boris Burgstaller) erfährt, dass die Zeugen ihre Aussagen gegen Maria Stuart (Katharina Hauter) widerrufen haben. Die Königin will das Verfahren wiederaufnehmen, während sie vorgibt, Davison (Till Krüger) das unterschriebene Todesurteil lediglich zur Verwahrung gegeben zu haben. Doch Marias Hinrichtung ist bereits vollzogen. Es ist einer der Schlüsselmomente, in denen man das wahre Ich der Figuren und die leichte Übertragbarkeit von Schillers Maria Stuart ins Heute begreift.
Das Drama ist eine „Vorzeigetragödie“ aus der Weimarer Klassik: während die Französische Revolution tobte, sehnten sich die Menschen nach Harmonie und Schönheit zur Abwechslung von der brutalen Realität. Eine Situation, die man auch heute nur zu gut nachvollziehen kann. Unterteilt in fünf Akte, findet das Stück seinen Höhepunkt im mittigen 3. Akt, als sich die historisch realen Königinnen erst- und letztmalig persönlich begegnen.
Das Ensemble hat sich im Probenprozess auf die Suche „nach den Menschen hinter der Geschichte“ gemacht. Sie haben gegraben nach dem Sein im Schein, nach dem eigentlichen zeitlosen Meisterwerk im Kostüm einer oft geradezu vergewaltigten Schullektüre. Es ist ihnen geglückt, in ihrer Inszenierung nicht nur ein bekanntes Drama zu zeigen, sondern eine wahre psychologische Studie.
Der Bühnenraum ist zunächst komplett ausgefüllt von einer Stahlkonstruktion voller Streben und Fenstern, die nur teilweise ohne Scheibe durchschreitbar sind. In diesem (scheinbaren?) Gefängnis prallen zwei Extreme aufeinander: Unter Verdacht der Mitschuld am tödlichen Attentat auf ihren Ehemann flüchtet sich die schottische Königin Maria Stuart vor ihrem wütenden Volk nach England und hofft, bei ihrer „englischen Schwester“ Königin Elisabeth I. Schutz zu finden. Doch Elisabeth sieht sie als Gefahr für die Macht der protestantischen Kirche und ihre königliche Stellung und lässt die katholische Rivalin auf Schloss Fotheringhay inhaftieren. Die englische Königin fürchtet, Maria könnte aufgrund ihrer geradlinigeren Abstammung Ansprüche auf ihren Thron haben. 19 Jahre der Gefangenschaft später, drei Tage vor Marias Hinrichtung, setzt Schillers Handlung ein.
Die ewige Virgin Queen Elisabeth wird von ihrem Volk gedrängt zu heiraten und endlich die mittlerweile schuldig gesprochene Maria hinrichten zu lassen. Auch ihre Berater reihen sich in diese Forderung ein. Die unabhängige, ungebundene Freiheitsliebende, die eigentlich gefangen hält, wird plötzlich selbst zur Gefangenen der äußeren Erwartungen, gebunden an die Interessen von Staat und Volk. Ihr Auftreten wird in Mimik und Gestik der großartigen Josephine Köhler ernster, geradezu verkrampft, während sie von ihren Beratern belagert wird. Sie windet sich aus den Entscheidungsprozessen, will sich der Macht ihres Wortes entziehen und keine Verantwortung übernehmen.
Maria Stuart hingegen steht schon optisch im klaren Gegensatz zur adrett gekleideten Elisabeth, die auch eine Vorständin eines Unternehmens der heutigen Zeit sein könnte. Mit wildem, offenen Haar und luftigem Kleid wirkt sie fast kindlich verspielt. Sie will der Verwandten begegnen, die das Urteil über ihr Leben oder ihren Tod sprechen darf. Biografisch gesehen hat sie bereits die Hölle durchlebt. Man könnte meinen, sie sei die Reifere, die Elisabeth zur Findung einer vernünftigen Lösung bringen kann. Doch im Höhepunkt der Inszenierung und des gesamten Konflikts zerbricht alles in der Begegnung der beiden Frauen. Gefangen in ihren Rollen und ihrem Stolz platzen die inneren Konflikte der komplexen Persönlichkeiten heraus und lassen es aussichtlos, einen gemeinsamen Kompromiss zu finden. Keine von ihnen ist bereit, über ihren Schatten zu springen und sich der anderen anzunähern. Es ist kein Kampf der Frauen gegeneinander, nur ein Kampf um die Sache – der Erwartungen willen mitten im Intrigen- und Doppelspiel der Diener und Berater, die vorgeben, auf der Seite der einen und doch eigentlich auf der der anderen Königin stehen. Es sind die Männer, die die beiden Frauen gegeneinander ausspielen und den Konflikt immer weiter befeuern. Ihre Lügen setzen Elisabeth I. letztlich so unter Druck, dass sie das Todesurteil unterschreibt.
Trotz der Schiller’schen Sprache zeigt die Inszenierung, dass diese Handlung auch leicht in die heutige Zeit übertragbar ist. Sie zeigt unterschiedliche Lebensentwürfe, die an entsprechende Rollenbilder und Erwartungen geknüpft sind. So wird auch die Wichtigkeit von Aussehen und Beziehungsstatus der Frauen betont, obwohl diese Informationen für die Ausübung der (beruflichen) Rolle (auch heute noch) gar nicht relevant sind. Über allem kreisen die Machtfragen, mit denen Elisabeth gar nicht konfrontiert werden möchte und auch keine Entscheidung treffen möchte, die über den Tod eines Menschen entscheidet. Die Inszenierung arbeitet genau heraus, wie die Königinnen immer übereinander, aber immer nur durch Dritte und einmal tatsächlich miteinander reden. Wären nicht die erdrückenden Erwartungen und Forderungen, sie hätten sicher Freundinnen werden können – und vermutlich auch das erste regierende Königinnen-Duo. Doch so stirbt Maria und hinterlässt eine einsame Elisabeth, die plötzlich die Wahrheit hinter ihren „Beratern“ erkennt und so auch die Situation, in die sie geraten ist.
Michael Talkes sensible Inszenierung untermauert auf brillante Art und Weise im Jahr 2022 die Zeitlosigkeit und Aktualität eines Stücks von 1800 und zeigt sehr transparent die Hintergründe, Entstehung und Folgen von Machtkämpfen. Mit einem sehr starken Ensemble, das durch den zugegeben recht langen Abend trägt, erlangt jede Figur die Präsenz, die sie verdient. Besonders hervorzuheben sind jedoch die beiden Hauptdarstellerinnen Josephine Köhler und Katharina Hauter, die den Königinnen ihre jeweils ganz unterschiedliche Stärke vermitteln und den Blick in die Verletzlichkeit der Figuren öffnen.
Mit Blick in den Spielplan hinsichtlich der dargestellten Figuren und der Künstlerinnen auf der Bühne scheint in der Spielzeit 2021/22 die Stunde der Frauen im Schauspiel Stuttgart gekommen zu sein – auch für das eher männlich-dominierte Theatersystem ein schöner, aussichtsreicher Umstand.

Wer von beiden endet in Freiheit? - von Marie Grützner

Eines der berühmtesten Stücke Friedrich Schillers von 1800, welches die Machtverhältnisse zwischen der englischen Königin Elisabeth und der schottischen Königin Maria Stuart thematisiert, wurde nun am Schauspiel Stuttgart auf die Bühne gebracht.
Die Zuschauer:innen tauchen in eine streng geordnete Szenerie ein: Links und rechts hohe, graue, betonähnliche Wände, rückseitig eine hellgraue Stahlkonstruktion aus hohen, schmalen Stützen in einem regelmäßigen Raster. Maria (Katharina Hauter) läuft hektisch hin- und her, greift die Stützen, schreit auf, zeigt ihr schmerzerfülltes, ängstliches Gesicht und sackt zusammen. Sie ist Gefangene der englischen Königin und wurde auf Schloss Forthering eingesperrt, da sie am tödlichen Attentat auf ihren Ehemann verdächtigt wird. Das Urteil ist ausgesprochen: schuldig. Eine Hinrichtung soll folgen. Nur noch Elisabeth (Josephine Köhler) kann das Urteil kippen.
Die rückseitige, gerasterte Konstruktion spannt sich zwischen den Betonwänden als eigenständiger Raum auf, der einerseits zwei Ebenen enthält, die anhand Treppen miteinander verbunden sind, andererseits in der Vertikalen in zwei schmale Gänge gegliedert ist. Die Felder zwischen den Stützen sind mit Ausnahme zweier Durchgänge mit Plexiglas verkleidet. Die Szenerie ähnelt einem Gefängnistrakt oder phasenweise einem kühlen, strengen Stadtbild, dessen Glasfassaden keinen Einblick gewähren und nur das eigene Spiegelbild erzeugen.
Diese Strenge verkörpert auch Elisabeth hundertprozentig. Mit eng zurückgebundenem Haar, schicker, schwarzer Kleidung und hohen Absatzschuhen agiert sie in ihrem modernen Business-Look stolz und hat ihre engsten Berater im Griff. Sie will ihr Gesicht wahren, versucht, Emotionen nicht zuzulassen. Sie möchte als starke Königin handeln, verharrt jedoch auch teilweise in gebückter Haltung, als ob sie der Situation nicht mehr Herrin ist. Sie zerbricht an ihren inneren Zwängen, zögert, verschiebt ihre Entscheidungen und kann keine Verantwortung mehr dafür übernehmen. Sie unterschreibt zwar Marias Hinrichtung, gibt ihrem Sekretär jedoch keine klaren Anweisungen zur Ausführung.
Die Gegenüberstellung der zwei Hauptfiguren am Höhepunkt des Stückes könnte nicht gegensätzlicher sein, einerseits durch die Wahl der Kleidung, andererseits durch die Spielweise. Maria, mit offenen, ungekämmten Haaren, gehüllt in einen lockeren, schlichten Mantel, den sie kurzzeitig auszieht, präsentiert sich der Königin Elisabeth nur noch in einem luftigen Unterkleid. Sie spielt sehr lebendig, auf eine fast kindliche und sehr emotionale Art und Weise. Ihr anfangs ängstliches Gesicht verschwindet kurz vor der Hinrichtung. Sie ist diejenige, die ihre Amme tröstet und sich von allen Ängsten befreit hat. Die Hinrichtung sieht sie als gerechte Strafe und Freiheit an. Ihre persönliche Entwicklung dorthin ist in dem Stück allerdings kaum wahrnehmbar.
So reduziert wie das Bühnenbild zu Beginn erscheint, desto facettenreicher wirkt es mit Verlauf des Abends. Die meist statischen und umfassenden Dialoge werden aufgebrochen durch die verschiedenen Spielmöglichkeiten innerhalb des zentralen Bühnenelementes, sowie die vermeintlichen Interaktionen zwischen den Plexiglasscheiben. Zusätzlich bewegt sich das Bühnenelement im Gesamten zwischen den Betonwänden, sodass die Spielfläche davor mal größer und wieder kleiner wird.
Strenge und dramatische Handlung werden außerdem durch die Wirkungsweise, die verstrickten Beziehungen und Intrigen der Berater Elisabeths aufgebrochen, die ebenso im adretten Business-Look gekleidet sind. Sie erscheinen in verschieden farbigen Anzügen und wirken fast komisch in ihrer Gestik und Mimik. Die ein oder andere Aussage kitzelt auch den Zuschauer:innen ein Lachen heraus, was meiner Meinung nach noch mutiger hätte eingesetzt werden können.
Die Hinrichtung steht an. Maria befindet sich in der hell erleuchteten Rückwand, welche immer weiter in den Hintergrund verschwindet, bis das grelle Licht durch einen schwarzen Vorhang in der Ferne und einem Knall verschluckt wird. Was bleibt, ist eine einsame Elisabeth in einem großen, leeren, dunklen Raum, verlassen von ihren engsten Beratern.
Aufgrund der verschiedenen Lichtinszenierungen und die phasenweise Verwendung der Rückwand als Projektionsfläche von Videos zu aktuellen Bürgeraufständen hat man sich trotz weniger Veränderung des Bühnenbildes bis zum Ende des Stückes nicht satt gesehen. Vielmehr noch, die Konstante bringt keine eigene Aufregung mit sich, was sich auf die Gesamtheit des Stückes positiv auswirkt. Denn der Schwerpunkt liegt zweifellos auf der Sprache, die kunstvoll in fünfhebigen Jamben ausgedrückt wird, was darüber hinaus eine beeindruckende schauspielerische Leistung ist. Nichtsdestotrotz ist es durch die gehobene Sprache wie Schillers Original ein anspruchsvolles Stück mit umfassenden Dialogen, die besondere Aufmerksamkeit der Zuschauer:innen erfordern.


Zu "Lorbeer (UA)"

Zuschauerkritik zu „Lorbeer“ von Alina Plitman

Muss ein Theaterstück immer eine komplette Geschichte sein - mit dem Anfang, der fortschreitenden Aktion und dem unvermeidlichen unerwarteten Ende? Kann es nicht einfach aus Stoff, Bewegung und Text bestehen? Welchen Text denn? Irgendeinen Text. Einen Text. Einen Text von Ovid, vielleicht? Metamorphosen - Lorbeer - Daphne … immer dieselbe Daphne? Warum eigentlich?
Lasst uns anders anfangen. Also, es war einmal ein König und er hatte eine Tochter, und sie hatte die eisernen Stiefel und die eiserne Tasche, und weiß Gott, was sie alles noch hatte und was mit ihr alles geschah.
Die griechischen Sirenen singen mehrstimmig und verzaubern uns, mesmerisieren, locken in eine Falle. Warum eigentlich die griechischen Sirenen? Vielleicht sind es Vögel mit weiblichen Köpfen - Sirin und Alkonost. Beide haben süße Stimmen. Der Alkonost singt leicht traurige Lieder, die den Gläubigen trösten können. Der Sirin singt ganz lustige und fröhliche Lieder, die für den Sterblichen tödlich sein können. Nein, mögen Sie die Vögel nicht?
Lasst uns einfach alle möglichen Sinne zerschneiden und ordentlich vermischen. Was kommt danach raus? Vielleicht bin ich bloß eine menschenfressende Hexe mit grünen Augen … oder mit roten, wenn ich lange genug weine? Warum Hexe, warum grüne Äpfel, warum Augen - muss ich immer all diese Fragen stellen und alle Antworten darauf wissen?
Ich beobachte einfach die Menschen. Ganz einfache normale Menschen, mit schwingenden Umhängen, mit fließenden Stoffen, die ihre Körper umhüllen und wie Fahnen im Wind wehen. Hier eilt ein Geschäftsmann, da eine schöne junge Frau, vorbei flitzt ein Choleriker, dort eine verspannte Mutter und hier ein verzweifelter junger Mann. Was wollen sie alle von mir? Nichts.
Wenn eine Geschichte anfängt mit „es war einmal“, ich frage doch nicht die ganze Zeit „warum eiserne Stiefel?“, „warum Minarett und Schlange?“ Nein, ich höre einfach zu und lasse es auf mich wirken wie ein Märchen. Warum soll es jetzt anders sein?
Gedanken, Gedanken, sie kreisen im Kopf und lassen nicht fühlen, sie stören mich. Was fühle ich? Wann fühle ich? Wenn ich Hunger habe oder wenn ich liebe oder hungrig nach Liebe bin. Stört mich das nicht? Wenn zu viel Gefühl, Leib, Intimität vorkommt, klemmt etwas für einen kurzen Moment, bis sich wieder alles normalisiert und routiniert. Dann spielen keine Rolle mehr weder Sinn noch Bedeutung noch Kontext. Alles war schon einmal, alles wiederholt sich ständig und wird wiedererkannt. Oder eben nicht.
Mir fehlen die Worte. Was sind schon Worte - was kann ich mit ihnen beschreiben? Soll ich überhaupt? Worte sind wie Schlangen - sie gleiten, werfen Ringe, manchmal beißen sie tödlich. Welche Schlangen meinst du jetzt? Die ganz alte von Eden? Oder die Schlange, die zwei Halbwüchsige ganz umsonst getötet haben, obwohl sie eigentlich keine Schlange, sondern nur eine harmlose Natter war? Oder vielleicht ist es die Schlange, die ein unsterblich verliebter Zauber ist, der zunächst für seine Liebe seine Augen geopfert und dann seine Mutter getötet hat? Oder vielleicht ist das sich am eigenen Schwanz beißende Schlange? Welche magst du am liebsten? Such dir eine aus.
Metamorphosen, Verwandlung - was geschieht, wenn der Körper verdunstet, der Sinn verschwindet, in einem Moment des Chaos, als ob es irgendein anderen Moment geben kann, - was bleibt uns? Uns bleiben nur Sprachspiele.
Man nehme ein Kreuz, eine Orgel, schöne Stimmen, erleuchtete Gesichter - ist das schon eine Messe? Spielen Worte noch irgendwelche Rolle, ergeben einen Sinn?
Wir nehmen alle Sinne und schmeißen sie zusammen. Wir spüren, innen und außen, und bleiben immer dieselben, wie wir schon immer waren. Und alles passt und nichts fügt sich. Nichts.
Aus dem Nichts sieht alles falsch aus, und pervers richtig. Deine Kenntnisse sagen es dir, nur woher hast du sie, deine Kenntnisse?
Vielleicht sollte man tatsächlich das Manuskript anzünden - wir wissen doch, dass Manuskripte nicht brennen.
Wir könnten es unendlich weitertreiben und mit Sinn und Unsinn spielen oder auch in Banalität abrutschen. Es gibt nämlich nicht nur Banalität des Bösen. Es gibt auch Banalität der Liebe, denn am Ende bleibt nur noch die Liebe. Vielleicht muss man nicht immer analysieren und darf man ausnahmsweise einfach rezipieren? Oder ANALysieren? Banalisieren? Vielleicht doch rezipieren, auf sich einwirken lassen?
Jeder darf selbst entscheiden, oder?

Die Kostüme erwecken den Eindruck, bei einer Prêt-à-porter-Schau anwesend zu sein. Die Lichtwand löst bildgewaltig sehr unterschiedliche Rezeptionen, je nachdem welche Farbe zu welchem Ton sie annimmt. Der Regisseur hat den Schauspielern sehr komplexe schauspielerische, textologische und vokale Aufgaben gestellt. Ein tausend Splitter klitzekleiner Charaktere, keine einzelnen Rollen, sondern ein ganzes plastisches ineinander gehendes und wieder auseinanderfallendes Subjekt.

Zu "Fabian oder der Gang vor die Hunde"

Wie nah Glück und Leid beieinander liegen... - von Maxine Weißkopf

… hält uns FABIAN vor Augen. In diesem Stück zeigt das Schauspiel Stuttgart wieder sein ganzes Können. Sowohl das Bühnenbild als auch die Kostüme haben das Stück perfekt abgerundet.
Die einzelnen Charaktere erzählen von verschiedensten Handlungen, die entstehen wenn man keinen Ausweg sehen kann.

Mit Humor und sehr gelungenem Einsatz von Musik, Gesang und dramaturgischen Mitteln wie dem Durchbrechen der 4. Wand wird die harte Kost dem Publikum auf eine leichte Weise vermittelt.

Der Text wird auf einem Bildschirm in englischer Version angezeigt, nicht nur beim Gesprochenen sondern auch bei dem Gesungenen, was für mich bei diesen hilfreich war da ich teilweise den Dialekt, der aber absolut zum Gesamtpaket des Stückes dazu gehört, nicht verstanden habe.

Jakob Fabian, der in der Reklamebranche arbeitet, erzählt von seinen Beobachtungen im Berlin zur Zeit nach dem ersten Weltkrieg, in dem Gleichgültigkeit die Tage und Chaos die Nächte bestimmt. Zwischen wilden Festen, die bunt und schillernd wirken, blitzen immer wieder schreckliche Schicksale durch.

Wirklich jede einzelne Persönlichkeit, die auftaucht, lässt so viel Hintergrundgeschichte erkennen, dass man als Zuschauer*in in die damalige Gesellschaft eintaucht. Trotz dem Schein der Vergangenheit werden während des Stückes andauernd fast unmerklich aktuelle Themen eingewoben, die sich von damals bis heute nicht wirklich verändert haben; Gewalt, Missbrauch, Angst, Krieg, Fatalismus und mehr. Es zeigt dass wir uns vielleicht über die Jahre verändert aber nicht weiter entwickelt haben.


Ich will nichts Genaueres vorweg nehmen denn JEDER sollte sich dieses Stück ansehen gehen, allerdings empfehle ich Plätze in der Nähe der Bühne zu wählen, da das Bühnenbild an einer Stelle hochfährt und man von den oberen Plätzen dann leider nicht mehr in die Szene sehen kann.

Zu "Waste" (UA)

Viel Humor trotz trauriger Wahrheiten - von Inge Amrouch

Gianina Cãrbunariu nimmt uns in ihrem Dokumentar-Märchen mit in ihr Heimatland Rumänien in ein kleines Dorf. Am Anfang sehen wir im Hintergrund viele unterschiedliche Stühle, die mit wenigen Darstellern besetzt sind. Und Unmengen mit gefüllten Müll Säcken im linken Hintergrund. Dann schwebt Sebastian Röhrle, als eine Mischung aus prächtigen Pfau und aalglattem Geschäftsmann herein. Er führt uns durch das Stück und berichtet uns gleich mal, welche unnötigen Rollen sofort wieder gestrichen wurden. Da wäre der rumänische junge Zollbeamte, der doch echt was hätte aufdecken können. Oder der zackige Staatsanwalt, beide verkörpert von Elias Krischke. Doch sein Eifer und Tatendrang wird sofort vom Bestimmer Pfau gestoppt und als unnötig abgehandelt. Auch der alte und weise Mann, gespielt von Boris Burgstaller versucht gegen das Zementwerk und die Umweltzerstörung anzukämpfen. Doch auch er wird ausgebremst. Wir haben noch die Bürgermeisterin (Christiane Roßbach), die uns als Lehrerin versucht zu erklären, dass alles prima ist und wir doch nur profitieren von dem Zementwerk. Dies alles im Sinne des Geschäftsführers, der eine gewisse Ähnlichkeit mit JR Ewing aus Dallas darstellt. Doch dann kippt die Stimmung gewaltig, wir sehen die toten Forellen, die für die Umweltverschmutzung stehen. Und als Krönung erscheint der braune gefährliche Bär, der hier auch gut mit verdient und als Symbol für die stetig wachsende rechte Partei ins Spiel kommt.
Ein wahrlich beeindruckendes wahres Märchen, welches uns zeigt, wie wir doch alle betrogen werden von der Industrie. Wir denken, wir sind vorbildlich beim Recyceln und Müll trennen und am Ende schaden wir den ärmeren Ländern, die mit korrupter Politik, vieles möglich machen und unter den Teppich kehren. Das Stück ist sehr gelungen und trotz trauriger Wahrheiten dürfen wir auch genügend Humor und Unterhaltung genießen. Für mich waren es klasse Schauspieler, die uns super gut mit nach Rumänien geführt haben. Man merkt auch schnell, dass es sich hier um gut recherchierte Tatsachen handelt und Gianina Cãrbunariu viel Hintergrundwissen besitzt und durch die zum Teil witzigen Figuren wie den beeindruckenden Pfau mit seinem phänomenalen Federkleid daran interessiert ist, uns auch visuell eine unvergessliche Vorstellung zu bieten. Alles in allem eine tolle Vorstellung, die Interesse weckt noch mehr von der Künstlerin zu entdecken.

zu "Verbrennungen"

Ein verwässertes Minenfeld - von Kendra Mäschke

Als sich der Vorhang im Stuttgarter Schauspielhaus hebt, zeigt sich die imposante Bühne in karger Ausstattung, der Boden weiß ausgelegt, im Hintergrund helle, bannerähnliche Trennwände, alles nüchtern, klinisch, fast steril. Und so beginnt Burkhard C. Kosminskis Inszenierung auf nur drei Stühlen, die im Laufe des Abends höchstens durch ein Stehpult oder einen Tisch mit Stühlen ausgetauscht werden, als dürfe keinesfalls von der Gravitas des Stücks abgelenkt werden. Die Banner, das wird im Laufe des Abends klar, dienen nicht nur der Trennung der zeitlichen Ebenen, sondern auch als Projektionsflächen für die Übertitelung der fremdsprachigen Texte und für Videoeinspielungen. So gleich zu Beginn für einen Dokumentationszusammenschnitt zur politischen Lage im Nahen Osten, gespickt mit historischen Bildern von Terror und dem Elend der Flüchtenden; erschütternd, leider aber in englischer Sprache ohne Untertitel, sodass vermutlich ein Teil des Publikums ausgeschlossen wird.

Es lässt sich wohl trefflich streiten, ob es sich bei der mehrsprachigen Anlage des Stücks um einen klugen Schachzug oder einen Fehlgriff handelt. Besonders zu Beginn lenkt es sehr vom eigentlichen Spiel und der Charakterisierung der Figuren ab, wenn man nebenher Text lesen muss. Mehrsprachigkeit scheint vor allem in den letzten Jahren in Filmen ein beliebtes Mittel geworden zu sein, um Authentizität zu suggerieren, wobei der Vorteil beim Film eindeutig darin besteht, dass man Bild und Text direkt unter- oder übereinander sieht – auf der großen Bühne des Schauspielhauses driften Bild und Text oft weit auseinander. Im Lauf des Abends findet jedoch ein gewisser Gewöhnungseffekt statt und der vermutlich gewünschte, filmische Effekt der Authentifizierung und Dramatisierung tritt ein.

Vor allem den Darstellerinnen von Nawal und Sawda (Evgenia Dodina und Salwa Nakkara) gelingt es meist, trotz der Sprachbarriere eine packende Darbietung abzuliefern. Vor allem der Anschlag auf einen Flüchtlingsbus, von dem Nawal Sawda berichtet, während hinter ihr Kunstblut die weiße Rückwand hinunterläuft, über die Projektion ihres Texts, schockiert und bewegt.
Obwohl der Titel des Stücks „Verbrennungen“ lautet, steht auch in Kosminskis Inszenierung „Wasser“ im Fokus, ganz im Sinne des Autors Wajdi Mouawad: Am Grab der Mutter stehen die Zwillinge mit dem Notar buchstäblich im Regen, die von der Mutter gewünschten drei Eimer mit Wasser am Grab werden in die Unterbühne geleert. Der Wolkenbruch erfüllt im klugen Bühnenbild vom Florian Etti jedoch auch einen Zweck: Er durchweicht das ausgelegte Material, welches beim wilden Tanz kurz darauf aufgerissen wird und ockerfarbenen Sandboden freilegt, im weiteren Verlauf an immer mehr Stellen, bis die Bühne zum Schluss aussieht wie ein Minenfeld in der Wüste.

Zwischendrin, volle Dröhnung, Metallicas „Enter Sandman“, als das „Zwillingsmädchen“, Johanna, sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihrer Mutter macht und als erstes deren langjährigen Pfleger interviewt, und der Song ist Programm: „Exit light, enter night.“ Inhaltlich entspinnt sich ab hier das Grauen, immer weiter, bis der Zuschauer meint, es könne nicht mehr schlimmer kommen.
Leider bringt die Fortsetzung nach der Pause keinerlei Wechsel im Bühnenbild und auch einige Längen. Hier zeigt sich das Problem lang(atmig)er Monologe in einer fremden Sprache: Wenn man lesen muss, um zu verstehen, kommt das Spiel, weswegen man eigentlich gekommen ist, zu kurz. Auch der schöne optische Effekt, den eines der Banner erzielt, welches, wie ein Uhrzeiger, im Kreis über den Köpfen der Schauspieler gezogen wird und interessante Lichteffekte erzeugt, sorgt nur kurzzeitig für Unterhaltung.

Mit dem Auftritt von Christiane Roßbach als Fremdenführerin und Hausmeisterin nehmen sowohl Handlung als auch Inszenierung zum Glück noch einmal Fahrt auf. Ihre Darstellung ist in der einen Rolle authentisch und charmant (wie im Übrigen auch die ihres Kollegen Matthias Leja als Notar), in der anderen kalt und berührend gleichzeitig. Kurz wird hier der Ton des Abends wieder getroffen – leider wird dieser gleich darauf durch eine etwas befremdliche Musical-Einlage wieder aufgebrochen: Ein Soldat tanzt über die Bühne und singt in sein Maschinengewehr, danach gibt er einem fiktiven (australischen?) Reporter ein Interview darüber, wen er als Scharfschütze alles tötet. Lustig oder peinlich? Leider eher letzteres, vor allem im Kontext der darauffolgenden, tragischen Ereignisse.

Kosminskis Inszenierung findet trotz allem ein versöhnliches Ende, die Zwillinge mit dem Notar am Tisch, essend, lachend, scherzend, die verstorbene Mutter lächelnd im Hintergrund, im Frieden. All dies findet wieder im strömenden Regen statt – ob der Regen der Linderung der „Verbrennungen“ dient, die Schuldigen reinwäscht oder ob am Ende irgendwie doch alle im Regen stehen gelassen werden, bleibt offen.

Jetzt, da wir zusammen sind, geht es besser… - von Thomas Hüßler

Wie wahr, wir wissen es, mit dem Wissen geliebt zu werden und der Fähigkeit zu lieben, lässt sich Leid, Kummer und Krankheit leichter ertragen. Liebe überwindet alles. Vielleicht wäre Nawal, die Mutter von Johanna und Simon viel früher gestorben, hätte sie die Liebe zu Wahab, Ihrem Geliebten und zu Ihren beiden Zwillingskindern nicht am Leben erhalten.

„Verbrennungen“ heißt das Stück am Schauspiel Stuttgart, welches am Samstag, den 5. Februar 2022 unter der Regie von Burkhard C. Kosminski Premiere hatte. Das Theaterstück stammt von Wajdi Mouawad aus 2003 nach Teilen der Lebensgeschichte von Souha Bechara, Widerstandskämpferin im Libanonkrieg (Invasion Israels in Libanon 1982) und Attentäterin, die 10 Jahre im Libanon inhaftiert war.

Seit 5 Jahren, seit dem Tag, an dem sie einen Kriegsverbrecherprozess verfolgte, hat Nawal kein einziges Wort mehr gesprochen. Nun, nach ihrem Tod, bekommen Ihre Zwillingskinder, Johanna und Simon bei der Testamentseröffnung zwei verschlossene Briefe, ein Brief an den von den Kindern totgeglaubten Vater, der andere an den älteren Bruder, von dessen Existenz den Kindern nichts bekannt ist. Nur Johanna nimmt erst den Brief an, Simon interessiert sich für diesen erst nicht, ebenso wenig für die Vergangenheit seiner Mutter.
An diesem Punkt sind zirka 20 Minuten des Theaterstückes vergangen, 2 Stunden und 40 Minuten hat der Zuschauer noch vor sich, jegliche weitere Inhaltsangabe verbietet sich nun, nein, spoilern, dies geht hier nicht, denn die Reise der Kinder in die Vergangenheit der Mutter ist hoch spannend, die Wahrheiten, die die Kinder entdecken, erschütternd. Auf der Suche nach Vater und Bruder passieren Dinge und es gibt Wendungen, mit denen ich als Theaterbesucher nie gerechnet hätte. Das Stück spielt in zwei Zeitebenen, Krieg und Vertreibung im Nahen Osten nach der Gründung Israels und viele Jahre später. Eingespielte Videos und Bilder über das Friedensabkommen zwischen Begin und Sadat, aber auch über Vertreibung, Gewalt und Mord, dies auch auf der Bühne, erschrecken den Zuschauer. Und dies, obwohl Gewalt in unseren täglichen Nachrichtensendungen in Farbe und HD leider nichts Außergewöhnliches ist.

Wie kann jemand so genial spielen, ist das echt oder Theater, so meine Gedanken, als ich Evgenia Dodina, ihr Gesicht im Hintergrund vergrößert, bei der Verhandlung sah, als ihr als Nawal die Tränen kamen. Ich sah sie schon im „Besuch der alten Dame“ am Schauspiel Stuttgart, ich war seinerzeit ebenso begeistert. Aber nicht nur sie, auch alle anderen Rollen sind hochkarätig besetzt, Elias Krischke, so beängstigend realistisch sein Spiel, Matthias Leja, in seiner Rolle eine unglaubliche Ruhe ausstrahlend, Noah Baraa Meskina, als Wahab so liebevoll.

Das Stück ist in deutscher, hebräischer und arabischer Sprache. Man sollte als Zuschauer daher konzentriert mitlesen. Natürlich wäre es für den deutschen Zuschauer schöner, wenn das ganze Stück in deutscher Sprache aufgeführt werden würde, aber wäre das Stück dann so authentisch? Wünschenswert wären zusätzliche Übertitel in englischer Sprache, diese könnten das Stück einem breiteren Publikum zugänglich machen.

„Verbrennungen“ ist im Hinblick auf die Ukraine-Krise brandaktuell. Durch Waffen und Krieg ist in dieser Welt noch nie etwas Gutes entstanden. Krieg erzeugt Hass, es folgt Vertreibung, Hass erzeugt Gegenhass und Rache. Im Nahen Osten ist seit meiner Geburt bis heute kein Frieden. Leider ist Teilen der heutigen Generation von Politikern der Grundsatz meiner Eltern und Großeltern: „Nie wieder Krieg“ abhandengekommen.
„Verbrennungen“ ist emotional, bedeutet Aushalten, das Stück zeigt die Fratze des Menschen.

zu "Am Ende Licht (DSE)"

Eine Momentaufnahme von Alltäglichkeiten - von Marie Grützner

Christine (Sylvana Krappatsch), in einen blau-grauen Mantel gehüllt, befindet sich im Schwebezustand zwischen Realität und Jenseits. Hinter ihr bildet sich eine Supermarktszenerie ab, die vollständig in grau-silberne Eintönigkeit getaucht ist. Jegliche bunte Farbe wurde der Kulisse entzogen. Sie ist dabei zu sterben, an einer Hirnblutung. Sie ist im Supermarkt beim Kauf einer Wodka-Flasche einfach umgefallen und nun berichtet sie über den Vorfall. Sie ist selbst irritiert von dem Zustand, sichtlich überfordert, ihre Gedanken überschlagen sich und sie versucht herauszufinden, was sie in dem Moment, in dem sie stirbt, gerne noch machen würde. Ihre Kinder noch einmal sehen und sie fragen, wie es ihnen geht. Ihren Enkelsohn in den Arm nehmen. Da sie stirbt, erzählt sie von ihrer Jugendzeit, ihren Kindern und ihrem Alkoholkonsum. Von hier an bekommen die Zuschauer:innen Einblick in ein zerrüttetes Familienporträt, sowie den existenziellen Krisen.

Die drei Kinder - Jess, Ashe und Steven (Katharina Hauter, Nina Siewert, Jannik Mühlenweg) - und Bernard (Klaus Rodewald), Christines Ehemann, tauchen nacheinander in dynamischen Wechseln auf der Bühne auf. Sie führen mit jeweils einer zweiten Person einen Dialog. Gesprächsfetzen werden eingefangen, pausieren und werden wieder aufgenommen. Jess wacht nach einer langen durchfeierten Nacht in ihrer Wohnung neben einem fremden Mann namens Michael (Sebastian Röhrle), auf. Wechsel. Bernard, sichtbar verklemmt und nervös, führt mit einer Bekannten (Marietta Meguid) Smalltalk. Beide warten auf eine weitere Frau (Therese Dörr). Wechsel. Steven trifft auf seinen Freund Andy (Marco Massafra), der von einer Reise zurückgekehrt ist. Wechsel. Ashe erhält Besuch von Joe (Peer Oscar Musinowski), der Vater ihres gemeinsamen Kindes. Wechsel. Es herrscht ein Nebeneinander von verschiedenen Interaktionen, die sich allerdings nicht in die Quere kommen. Es sind Momentaufnahmen der einzelnen Personen in den unterschiedlichsten Lebenslagen, belebt durch diverse, teilweise extreme Emotionen, darunter vor allem Misstrauen.

Jess verkörpert eine sehr schwankende Persönlichkeit, die ihre Unsicherheit und ihr Misstrauen auf Michael überträgt, den sie aber immer mehr zu mögen scheint. Sie echauffiert sich bei jeder Kleinigkeit, versucht jedoch gleichermaßen ihre Sehnsucht nach Nähe auszudrücken. Bernard verabredet sich mit den beiden Frauen zum gemeinsamen Sex in einem Hotelzimmer, spürt dabei zwar offenkundig eine Überforderung, hat allerdings keine Gewissensbisse gegenüber seiner Frau und zeigt wenig Gefühle. Steven ist zum einen sehr unzufrieden mit seinem Jurastudium und zum anderen hat er Angst, von Andy verlassen zu werden, was ihn in einen nervösen, panischen, fast unkontrollierbaren Zustand versetzt. Ashe drückt Joe ihre bittere Wut und Abscheu mit einer gewissen Härte gegenüber ihm aus, da er drogenabhängig ist und keinen Unterhalt für ihr gemeinsames Kind zahlen kann. Ihre Verzweiflung als alleinerziehende Mutter und ihr Schmerz wird deutlich sichtbar.

Die Supermarktkulisse wird vor den wechselnden Szenen einige Meter von der Bühne hinaufgezogen, bleibt aber visuell sichtbar. So wird eine Simultanität der Handlungsstränge zwischen dem Vorfall im Supermarkt und den Ereignissen der restlichen Familienmitglieder vermittelt.

Obwohl sich alle in unterschiedlichen Städten in Nordengland befinden und scheinbar wenig Kontakt zueinander haben, wird trotz dessen eine gewisse Nähe zueinander bemerkbar; einerseits dadurch, dass alle Schauspieler:innen permanent auf der Bühne anwesend sind und seitlich auf einer Bank sitzend das aktive Geschehen beobachten. Selbst die in dem Moment sterbende Mutter erscheint überall, schlüpft dabei in andere Rollen und beeinflusst unterbewusst die Interaktion ihrer Kinder. Andererseits thematisieren die drei Kinder mit weiterem Verlauf des Stückes intensiver ihre familiären Verhältnisse und Vergangenheiten gegenüber ihren Dialogpartnern und lassen dabei angestaute Schmerzen zu.

Der Einsatz von großen Bällen, teils grau-silberfarben, teils bunt bemalt, als Hauptelement des Bühnenbildes, stellt darüber hinaus ein bindendes Element zwischen den Interaktionen dar. Sie sind omnipräsent, geraten durch die Bewegung des Spiels aber ständig in neue Konstellation zueinander - als spiegeln sie die Komplexität der verstrickten Lebenslagen wider.

Neben den sehr dynamischen Dialogen, Wechseln und Bewegungen der Bälle wünscht man sich fast einen klaren, abgesteckten Rahmen im Bühnenbild, der allerdings rechts und links nicht gesetzt ist.
Christines Beerdigung ist es letztendlich, was die Familie an einem Ort zusammenbringt und vereint. Das Stück endet mit Ashe als Einzige auf der Bühne. Sie ist in den blau-grauen Mantel der Mutter gehüllt, wodurch die Mutter weiterhin präsent innerhalb der Familie bleibt.

Die Dialoge erscheinen vor allem im 2. Akt langwierig, was augenscheinlich bewusst gewählt wurde, um eine ungekürzte Echtzeit darzustellen und eine mitunter schwierige zwischenmenschliche Kommunikation, die sich des Öfteren im Kreis dreht, auszudrücken. Die Konversationen sind banal, die Sprache einfach, es wird sehr viel geflucht und die Inhalte rund um Vergangenheit, Zukunft, Heimat, Sehnsucht, Beruf, Liebe und Sex sind nah am realen, alltäglichen Leben. Die dargestellten Lebenslagen und Emotionen sind greifbar, nachvollziehbar und berührend und werden durch exzellentes Schauspiel umgesetzt. In den Momentaufnahmen wird nichts versteckt. Die meisten Veränderungen, die auf der Bühne stattfinden, werden durch die Schauspieler:innen selbst getätigt. Das Bühnenbild wird arrangiert, die Kostüme für die Beerdigung auf der Bühne gewechselt.

Teils humorvolle Konversationen und komische Gestiken der Schauspieler:innen, gepaart mit schnellen, dynamischen Szenen, Lichteffekten durch Stroboskoplicht, lauten Toneinlagen und Überraschungen im Bühnenbild machen das emotional aufgeladene Stück Am Ende Licht von Simon Stephens, inszeniert von Elmar Goerden, zu einem runden Konzept.

zu "algo pasó (la última obra) (UA)"

Zuschauerkritik – von Beate Schimpf-Kuntze

Die Absicht versteht man wohl - was der Autor Thomas Köck und das Regieteam mit ihrem Stück algo pasò uns wissen lassen wollte: das Vergessen um das Verschwinden Tausender von gewaltsam getöteten MexikanerInnen und den Zusammenhang deutscher Waffenlieferungen, speziell von Heckler und Koch. Still und eindringlich begann das Stück, eine parabelhafte Erzählung führte in den Kern des Themas, das Verschwinden der Opfer. Doch das anschließende pralle Szenario - kraftvoll gespielt von Micaela Gramajo, Bernardo Gamboa, Timo Wagner, Annina Walt - in loser Reihenfolge dargeboten als Diskussionen, Videosequenzen, Reflexionen, Geschichten, Zerstörungsaktionen, Erzählungen, chorische Datenaufzählungen, Assoziationen, ließen den Zuschauer seltsam unberührt zurück. Die Verschachtelung der Handlungsebenen in kunstvoll zerschnittenen Videos als auch in den „Spiel“szenen verlangten dem Publikum einiges an Aufmerksamkeit ab, aber das war ja wohl so gewollt, ein Zurücklehnen gibt es nicht, und zahlreiche Musik- und Bühneneffekte (Bühnenbild und Video Daniel Primo) überbrückten so die 1 ¾ stündige Spielzeit. Was bleibt?

zu "An und Aus"

Zuschauerkritik – von Alina Plitman

Frau A. trifft den Herrn Z. Seine Ehefrau, Frau Z., trifft den Herrn Y. Und dessen Ehefrau, Frau Y., trifft den Herrn A. So fängt eine Liebesgeschichte an. Eine „Liebesgeschichte“ hört sich ziemlich flach an, wenn wir von ihr nur hören. Klar, alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich. (Leo Tolstoi: „Anna Karenina“) Wirklich? Und wenn es deine Liebesgeschichte ist? Wenn du mittendrin steckst? Immer noch langweilig?

Wer will dich sehen, wenn du zwei Köpfe hast? Wer will dich küssen, wenn du keinen Mund hast? Wer will dich lieben, wenn dein Herz bereits verbrannt ist? Findet sich irgendwo auf der Welt überhaupt ein Mensch, der dich haben will?

Wenn die Leinwand immer nur leer ist, ist es unmöglich, in einem falschen Film zu sitzen. Dann sind alle Filme richtig und falsch gleichzeitig.

Zwei junge Menschen treffen sich, sie sehen sich und verlieben sich. Ihre Liebe ist frisch und rührend, wie eine junge, neue Liebe es sein kann. Sie passen zueinander vielleicht so gut, wie ein Wal zu einer Biene passen würde. Sollten sie es lieber direkt lassen? Letztendlich hat jeder sein eigenes Leben, Karriere, wichtigen Posten, den man nicht verlassen kann. Muss man nicht um eigene Liebe kämpfen, sich opfern? Wenn alle sich für die Liebe opfern, wer bleibt noch zum Lieben? Man-man-man-man-man…

Alptraum eines Mannes - vor seiner Geliebten lächerlich zu erscheinen. Alptraum einer Frau - ihren Liebsten nicht zu erkennen, zu verpassen. Haben die zwei eine Chance? Schaffen sie es noch, bevor es knallt? Und dennoch, sollen sie sich überhaupt treffen oder ist jede Liebesgeschichte von Anfang an zum Scheitern bestimmt? Und wenn schon - vielleicht doch, lohnt es sich, zu riskieren, solange es noch nicht knallt?

Der Junge, der zugleich ein Hafenarbeiter und Kapitän-der-Montagsaffären ist, weist allzu gut, wie die Liebe enden kann - in einem seiner Hotelzimmer. Wer trifft sich da jeden Montag? Eine junge schöne Frau, müde vom ewigen Schweigen ihres Mannes, trifft sich mit einem Fremden, der gerne über seine Träume spricht. Eine reife Frau, müde von ihrem alternden Körper, trifft einen jungen ambitionierten Geschäftsmann, der einfach nur geliebt werden will. Eine Intellektuelle, müde von ihrem Sportsfreund, trifft sich in der Hoffnung … ah, egal mit wem, Hauptsache - es trifft sich zusammen. Na ja, ein Fisch und eine Motte - es trifft sich viel besser, oder?

Hast du einen Knall? Du triffst dich mit einer fremden Frau in einem Hotel, unwissend, dass deine eigene Frau im Nachbarzimmer, nur durch eine dünne Wand von dir getrennt, mit einem fremden Mann im Bett auf einen Knall wartet?

Hat es schon geknallt? Du merkst plötzlich, dass alles eigentlich OK ist und gleichzeitig nichts mehr stimmt. Warum schrecken die Menschen nicht von dir zurück? Du bist nicht mehr du selbst - sehen sie es denn nicht? Warum tun sie alle so, als ob nichts passiert wäre? Nur deine alte Liebe, die bekannterweise nicht verrostet, sieht ganz genau, dass du dich plötzlich in einen Fisch verwandelt hast oder versteinert bist. Deine alte Liebe sieht dich. Aber du bist ihr jetzt egal.

Versuch es als Mann, einer Frau zu erklären. Können hier vielleicht noch Worte helfen? Welche Worte? Wessen Worte, wenn du keinen Mund mehr hast und dich selbst nur ein wirres Zeug reden hörst? Und lächelst.

Versuch es als Frau, den klaren Kopf zu behalten. In der Ruhe liegt die Kraft. Kannst du noch ruhig bleiben, wenn deine Gedanken gefühlt durch gleich zwei Köpfe rasen und du dich selbst gleichzeitig von innen und von außen, wie im Spiegelbild, beobachtest? Und sprichst.

Ein Knall, ein Super-GAU - passiert es so selten im Leben? Es heißt, zwischen Liebe und Hass liegt nur ein Schritt. Ein kleiner Schritt, der nicht rückgängig gemacht werden kann. Kühlschränke halten ewig, wenn sie nicht durch die Luft geschleudert werden, sagte mal ein Elektrogeräteverkäufer zu einem frisch verliebten Pärchen. Und was passiert, wenn doch? Da bleibt es nur, zu zweit in einem Aschenregen zu stehen und zusehen, wie der Rest der Welt zugrunde geht. Zu zweit.

Dann spielt es wirklich keine Rolle, Fukushima oder Tschernobyl oder sonst noch ein Knall. Letztendlich ist jeder Knall nur irgendwas mit Wellen.

***

Während schauspielerische Arbeit gut war und die finale musikalische Szene im Meeresrauschen ihren besonderen Charme hinzugefügt hat, war der Eklektizismus der Inszenierung manchmal, insbesondere am Anfang, nicht gelungen und verwirrend. Zu viel von Farce hat die Magie des Stücks beinahe zerstört. Das gekonnte Spiel des Ensembles hat es zum Glück zu einem spannenden, wellenartigen Abwechseln zwischen Groteske und Ästhetik, Drama und Komik gebracht.
Das Szenenbild verdient eigenen Lob. Das Stück ist unter anderem sehr ästhetisch und plastisch geworden. Auch ganz ohne Ton wäre die Inszenierung als reine Bilderreihe sehenswert.
Ein sehr schönes, metaphorisches und vielschichtiges Stück, das wie ein Meer dich eintauchen lässt, so tief, wie du es selbst wagst.

Nichts mehr ist wie es war – von Inge Amrouch

Am Anfang des Stückes sehen wir das Pärchen „Der Junge mit der Brille“ und „Das Mädchen mit dem Fahrrad“, er arbeitet unten als Rezeptionist im Hotel am Hafen und sie weit weg oben auf dem Berg. Gleich wird klar, wir werden ins Jahr 2011, genauer sogar zum 11. März 2011 nach Japan entführt.

Der Junge und das Mädchen können sich nur per Anruf oder SMS verständigen, wie gerne würden sie sich live sehen, doch jeder ist an seinen Posten gebunden.

Und heute ist Montag, da ist immer besonders viel los im Hotel. Es treffen sich schon seit langem drei sehr unterschiedliche Paare zum Ausleben ihrer Affäre in dem kleinen Hotel. Was keiner weiß, ihre eigentlichen Ehepartner sind im Nachbarzimmer zugange. Doch plötzlich geht das Licht aus und wieder an. Und es geschehen sehr seltsame Dinge. Wir werden als Zuschauer mit den Folgen der Flutkatastrophe und der Reaktorkatastrophe konfrontiert. Im Zimmer 1 bekommt Frau Z zwei Köpfe, doch nur sie sieht die Köpfe, oder Frau Y wird zur Motte in Zimmer 3. Frau A wird auf einmal steinalt und wie aus Stein und ihr Affärenpartner Herr Y kann nicht mehr aufhören zu rennen und sein Herz brennt. Alles scheint durcheinander zu geraten. Als sich am Abend die richtigen Ehepartner wieder treffen, ist nichts wie sonst. Man spürt auch, wie sie sich verloren haben.

Besonders beeindruckt das Bühnenbild, es kommt zum schwarzen Regen und man fühlt sich als Zuschauer live dabei. Als alles dunkel wird, läuft einem der Schauer über den Rücken. Sehr gut passt auch, dass dich „Das Mädchen auf dem Fahrrad“ wunderschön über das Piano ausdrückt. Die beiden sind sehr herzlich und hätten doch viel früher etwas mehr Mut zusammennehmen müssen, damit sie ihrem Glück eine Chance geben können!

Die Zuschauer bedanken sich bei den Schauspielern mit einem tosenden Applaus!

zu "Ökozid (UA)"

Zukunft oder Wirklichkeit? – von Thomas Hüßler

„Ökozid“ ist eine fiktive Gerichtsverhandlung von Andreas Veiel (u.a. Regisseur des Films: „Black Box BRD“) und Jutta Doberstein, welche im Jahr 2034 spielt. 31 Staaten, welche u.a. an Missernten, zunehmender Trockenheit und Überschwemmungen zu leiden haben, verklagen die Bundesrepublik Deutschland mit dem Ziel, ein Präzedenzurteil zu erzwingen, mit dem Deutschland und auch andere Industrienationen für Klimaschäden in den betroffenen Ländern haftbar gemacht werden können.
Die Inszenierung von Burkhard C. Kosminski beginnt mit Videoeinspielungen einer Rede des damaligen Bundeskanzlers Schröder, in welcher er ein Ende des Bergbaus auf absehbare Zeit ausschließt sowie diversen Videoausschnitten des seinerzeitigen Umweltministers Gabriel, des ehemaligen Verkehrsministers Matthias Wissmann sowie Kanzlerin Merkel, welche die Wirtschaftsnähe der Politik zeigen. Man sieht die Kanzlerin in der Arktis und fragt sich, ob es echte Betroffenheit von Politikern beim hautnahen Miterleben von Eisbergabbrüchen ist. Welch ein Zufall, dass mir in diesem Moment doch das Lachen von Armin Laschet in den Sinn kam, als Walter Steinmeier eine Rede vor den Flutgeschädigten in Erftstadt gehalten hat.

„Ökozid“ ist brandaktuell, diese Gerichtsverhandlung könnte Wirklichkeit werden, wer hätte es auch vor Jahren für möglich gehalten, dass es eine CO2- Bepreisung geben würde?
Natürlich ist das Stück eine Vision, basierend auf gut recherchierten Fakten: Die Bundesrepublik ist zu 2 % für den weltweiten CO2- Ausstoß verantwortlich, die KFW- Bank finanziert Kohlekraftwerke in der Welt, die Bundesrepublik unterlässt die Reduktion von CO2- Zertifikaten nach Preisverfall in der Eurokrise u.v.m. Das Stück zeigt die Verflechtung von Politik und Wirtschaft, wie bei der Zeugenvernehmung von Beate Lammfeld deutlich wird.

In „Ökozid“ werden viele uns Bekannte als Zeugen gehört, so u.a. ein ehemaliger Daimler- Manager, eine altgewordene Ex- Bundeskanzlerin, die im Zeugenstand meint, die Bundesrepublik hätte ihre Klimaziele IMMER erreicht: 2008, 2012 und 2020, eine ehemalige SPD- Politikerin, Jürgen Resch von der Deutschen Umwelthilfe und natürlich, durch Videoeinspielungen durchsetzt, die vom Klimawandel hautnah Betroffenen.
Firmen wie RWE, Vattenfall, Daimler, Tesla spielen im Stück eine Rolle, die zunehmende Anzahl von überdimensionierten Fahrzeugen auf unseren Straßen wird im Stück genauso thematisiert, wie politische Entscheidungen, wie zum Beispiel die Koppelung eines grünen CO2-Labels je nach Klasse, für z. Bsp. schwere SUVs.

Die Inszenierung ist durchweg spannend, es befinden sich eigentlich nur 4 Tische mit Mikrofonen und Telefonattrappen sowie vier Stühle auf der Bühne. Die Richterin (Anke Schubert), zwei Anwältinnen der Klägerstaaten (Josephine Köhler und Marietta Meguid) und der Verteidiger (Sven Prietz), vier Personen also, beschäftigen sich mit den Zeugen. Es geht hin und her, Zeugen reden sich raus, versuchen nicht ins Fadenkreuz zu geraten, alles nicht so schlimm. Immer wieder werden die Gesichter der handelnden Personen im Großformat auf die hintere Rückwand projiziert. Die frühere Bundeskanzlerin, gespielt von Nicole Heesters wirkt in der Projizierung mitunter leicht abwesend, trotzdem erregt, denn man erkennt deutlich die aufgeregte Atmung und das Heben und Senken des Brustkorbs- genial gespielt. Ebenso hervorzuheben der Gesang von Josephine Köhler, eine Präsenz, unglaublich! Dies nicht allein, sie beweist sich als Schnellsprecherin und spielt eine Betroffenheit, welche in der Großaufnahme unglaublich echt wirkt. Videoeinspielungen der Kläger und geniale Lichteffekte erstaunen immer wieder.

Wie die Geschichte, zumindest hier im Theater ausgeht, will ich nicht vorwegnehmen.
Drei Möglichkeiten gibt es, erste Möglichkeit: die Klägerstaaten bekommen recht, zweite Möglichkeit: Die Bundesrepublik wird freigesprochen, dritte Möglichkeit: ein Vergleich. Welch ein Dilemma für die Richterin. Ist denn die Bundesrepublik allein schuld, sie stellt sich immerhin allein dem Verfahren, andere Industriestaaten tun dies nicht, denn diese erkennen das Gericht nicht an? Ist die Bundesrepublik unschuldig, die Fakten sagen etwas anderes, ein Schlag ins Gesicht für die Klägerländer, die Leid, Hunger, Naturkatastrophen hinnehmen müssen? Ein Vergleich? Wozu dann die Klage, werden die Forderungen der Klägerländer überhaupt erfüllt? Wird dann überhaupt „Recht“ gesprochen? Zumindest geht die Richterin bei einem Vergleich kein Risiko ein.

Das Schlußwort der ehemaligen Kanzlerin ist einsichtig, aber sieht nicht jeder von uns Dinge im Alter und im Rückblick vielleicht anders?

Doch dies erfahren Sie am besten alles selbst, wenn Sie das Stück anschauen.

Und noch etwas: Nicole Heesters hat das Rentenalter noch lange nicht erreicht.

zu "Leuchtfeuer (DSE)"

Wer im Glashaus sitzt – von Kendra Mäschke

Wie ein Baugerüst sieht das aus, was Oliver Helf, der das Bühnenbild entworfen hat, da ins Kammertheater gestellt hat – ein Gerüst, welches auf Stelzen im Wasser steht, und das soll es wohl auch sein. Beiv, eine bildende Künstlerin, reißt nämlich die Mauern ihres Hauses ein, um sie durch bodentiefe Fenster zu ersetzen und lebt somit auf einer Baustelle, im doppelten Sinne. Auch das Leben ihres Sohnes Colm, der sie mit seiner frisch angetrauten Ehefrau Bonnie besucht, ist eine Baustelle, genauso wie das seines Jugendfreundes Donal, der damit leben muss, dass seine Liebe zu Colm unerwidert bleibt.
Diese vier Charaktere, die unterschiedlicher kaum sein könnten, treffen in Nancy Harris‘ Stück „Leuchtfeuer“ aufeinander, reiben sich aneinander und scheitern letzten Endes an ihrer Vergangenheit. Harris, selbst gebürtige Irin, lässt ihr Stück auf einer Insel vor West Cork spielen und auch das stellt das Bühnenbild eindrücklich dar: Die Figuren scheinen alle gefangen auf dieser Insel, die sie selbst in den Szenen nicht verlassen können, in denen sie nicht spielen, sondern stets sichtbar im hinteren Teil der Bühne verharren müssen. Die Szenen selber werden durch stimmige Lichtwechsel (Lichtdesign: Jack Knowles und Stefan Maria Schmidt) und atmosphärische Musik mit irischem Touch (Sound Design: George Dennis) getrennt.
Das Wasser, das sie auf der Bühne umgibt, spielt auch im Leben aller Figuren eine wichtige Rolle, schon deshalb, weil Colms Vater auf mysteriöse Weise auf See ums Leben kam. Beim ersten großen Bruch zwischen Colm und Bonnie stapft sie durch das Wasser davon. Sowohl Colm als auch Donal stürzen während des Stücks jeder einmal kopfüber ins Wasser – sei es ein Akt der Verzweiflung oder einer der Katharsis, beide Deutungen sind möglich. Besonders schön ist ein Soundeffekt, der dadurch entsteht: Das Tropfen des Wassers, welches die Schauspieler in das Bühnenbild tragen und sich wieder seinen Weg in das Becken sucht, verstärkt die Psychothriller-Atmosphäre, die im Lauf des Stücks, mit seinen zahlreichen offenen Fragen, entsteht.
Und wenn sich gegen Ende der Konflikt um den ungelösten Tod des Vaters immer weiter zuspitzt, scheint die rote Beleuchtung des Wassers, die es wie Blut aussehen lässt, ein grimmiger Vorbote dessen zu sein, was vielleicht noch ans Licht kommen könnte.
Während sich die Männer in „Leuchtfeuer“ nicht von der Vergangenheit lösen können und dadurch meist passiv bleiben, geben die Frauen den Ton an: Christiane Roßbach spielt eine resolute, aber vielschichtige Beiv, authentisch und überzeugend, sowohl in ihrer Egomanie als auch in ihrer Verletzlichkeit. Anne-Marie Lux gibt eine amerikanisch-überdrehte Bonnie, die gut mit der irischen Mentalität der anderen Figuren kontrastiert. Gerade in Sachen „Authentizität“ hätte man sich von den männlichen Kollegen mehr gewünscht.
Wie schon in „Die Wahrheiten“ gelingt es der Regisseurin Sophia Bodamer einen dichten Beziehungskrimi zu spinnen, der von der Interaktion der Figuren lebt – in Coronazeiten kein leichtes Unterfangen. Statt über körperliche Konfrontation arbeitet sie die Konflikte über Blicke heraus – beziehungsweise über das Fehlen selbiger. Genauso wenig die Schauspieler sich nämlich berühren, so selten sehen sie sich direkt an. Auch wenn einer mit dem anderen spricht, antwortet dieser häufig in den Zuschauerraum, ohne den Blick seines Gegenübers zu erwidern, was die Distanz, die zwischen den Figuren entsteht und sich immer mehr vergrößert, fast greifbar macht. Regelrechte Verhörsituationen zwischen den Schauspielern werden dadurch plastisch und von Neonröhren von oben passend beleuchtet.
Insgesamt lebt die Inszenierung von den eindrücklichen Bildern, mit denen sie die Konflikte des Stücks untermalt und hervorhebt. Wenn schon zu Beginn ein Totenschädel im Atelier Beivs bedrohlich über allem schwebt, ahnt der Zuschauer, dass auch der ungeklärte Tod des Vaters wie ein Fluch über der Familie schwebt. Und als Bonnie während der letzten Sätze im Hintergrund langsam ihren Ehering abstreift, wird dem Zuschauer klar, dass viele der Konflikte und Rätsel, die Nancy Harris heraufbeschwört, ungelöst bleiben werden.

zu "Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit (UA)"

„Wie in einem schlechten Film“ - von Jana Nolte

So kommentiert die alternde Diva, dass ihr Gatte mit seiner 20 Jahre jüngeren Sekretärin schläft; die Diva selbst lässt sich von einem aufstrebenden Drehbuchautor umgarnen, der ihre Kontakte ins Business zu nutzen beabsichtigt. Beides kommt hinlänglich bekannt vor. Oder sind sie doch grundsätzlich neu verhandelbar, die sexuellen Beziehungen? Frei von Machtgefälle und -missbrauch?

Sind es wirklich 17 Szenen, die sich auf der meist leeren, kaum mit einem goldenen Vorhang dekorierten und nötigsten Requisiten ausgestatteten Bühne abspielen? Oder ist die letzte Szene des Abends die eine Szene plus, die den Reigen beendet und für etwas Neues steht, eine Utopie vielleicht? Sicher ist, es sind zehn Personen, die miteinander (und nacheinander) sexuellen Kontakt haben. Der Prostituierte mit dem Soldaten, der Soldat mit dem Zimmermädchen, dieses mit dem Hotelmanager, der wiederum mit einer verheirateten Frau, die mit ihrem Gatten – nicht! –, der Gatte mit einer jungen Frau, die zum Film will, die junge Frau mit dem Drehbuchautor, dieser mit der Diva, welche mit dem Produzenten – und der wiederum mit dem Prostituierten. Wobei der Ausdruck „sexueller Kontakt“, kaum weniger als „Sex“, schmerzlich wenig passt, wenn durch den Akt Gewalt ausgeübt wird, und das ist in mehreren Konstellationen des Stückes der Fall.
Der Reigen – der Theatertext von Roland Schimmelpfennig bezieht sich explizit auf Schnitzlers Stück aus der Zeit um 1900 – beginnt mit dem Prostituierten. Der Transsexuelle (ja? – ein Mann in Frauenkleidern), trifft blutend und offenbar verletzt auf den Afghanistan-Rückkehrer. Das Opfer von Gewalt erkennt die Verheerungen im Soldaten und versucht, Trost zu geben – oder simuliert dies zumindest gut. „Klar war das schlimm – aber du musst stolz sein, du hast uns verteidigt (…) du warst da, um mich zu verteidigen, danke!“ Der Soldat lässt sich verführen von den utopischen Worten: „Alles darf sein und niemand muss sterben“.
Nicht jede der sexuellen Begegnungen zeugt von Machtmissbrauch; aber um Macht geht es immer: Macht über jemanden zu haben, sich Macht zu unterwerfen, von einer Macht mitgerissen zu werden. Das Zimmermädchen ist vermeintlich bestens vorbereitet und hat stets ein Messer bei sich – das ihr aber nichts hilft, als ihr Chef sie missbraucht. Er nutzt seine Stellung in der Hotel-Hierarchie unverhohlen aus. Und bekommt keine Erektion, als er eine Szene später auf die selbstbewusste verheiratete Frau trifft. Diese wiederum spielt mit hervorragendem Instinkt für seine sexuellen Präferenzen Unterwerfung vor, damit sie zu ihrem Orgasmus kommt. Die Diva muss gegen ihren Ekel den Produzenten befriedigen, um jene Rolle zu bekommen, die der junge Drehbuchautor ihr auf den Leib geschrieben hat. Und der Produzent schlägt den Prostituierten, der zu rebellieren versucht, in einem Gewaltexzess… tot?
Unterbrochen wird das Szenenmuster durch das Ehepaar mit Kind, dessen Aufeinandertreffen sich in drei Variationen abspielt. In der ersten verlässt er sie, in der zweiten sie ihn, in der dritten handeln sie ebenbürtig, als sie gemeinsam konstatieren, dass sie am Ende sind. Wahren sie dadurch, dass sie Verantwortung für ihre Beziehung übernehmen, die Würde und Freiheit, deren Verlust sie in den ersten beiden Variationen einander vorwerfen? Sind das die Themen, um die es im Grunde in jeder der Paarungen des Abends geht? Das Zimmermädchen schießt ihrem Peiniger in der vorletzten Szene ins Knie. In der letzten, wortlosen, erwacht der (tot?-)geschlagene Prostituierte (wieder?), in sterbensschöner Musik und ebensolchem Licht. Erhält das Opfer sexualisierter Gewalt seine Würde damit zurück, dass ein anderes Opfer seinem Täter entgegengetreten ist?
Die Schauspieler*innen sprechen die Regieanweisungen des Textes laut – sie umreißen Ort, Zeit und ihre eigene Rolle. Ähnlich angerissen bleibt die Darstellung ihrer Figuren. Die Skizzen (mehr sollen es nach Stücktitel ja auch gar nicht sein) sind unterhaltsam, schrammen aber am Klischee: die geschändete Transe, der an seinen Taten verwundete Soldat, das gedemütigte Zimmermädchen, der spießige Angestellte, der ohne Machtgefälle keinen hochkriegt, der betrogene Intellektuelle in der Midlife-Crisis, die abgebrühte Tinder-Milf, die junge, in aller Rotzigkeit naive Junge, der tapsige opportunistische Autor, die alternde Diva, der missbrauchende Produzent. Hat, wem das zu vertraut ist, zu viele Geschichten gesehen, gelesen, gehört oder erlebt, die das gleiche Personal besetzen? Die Inszenierung der Beziehungen zeigt Stereotypen; ob das gewollt ist oder nicht, ist schwer zu beantworten. Einige Szenen sind regelrechte Farcen – die Auferstehung des Prostituierten als Phönix aus der Asche am Schluss jedoch scheint ernst zu sein – und reiner Pathos.
Der Reigen ist ein Tanz, der immer demselben Muster folgt – und das tut er auch 2021, trotz Metoo-Debatte. Schnitzlers Reigen wurde zeitweise so gelesen, dass sich im sexuellen Akt die Hierarchien auflösen – 2021 vollenden sie sich darin. Vielleicht ist beides gleichermaßen ein Narrativ seiner Zeit.

Tanz des Lebens – von Alina Plitman

Ein geiles Stück … könnte es werden. Vorhersehbar, unnötig physiologisch, banal wie Geiz ist geil - wie schafft man ein Stück, in dem Sex die Hauptfigur ist, ohne in die Vulgarität abzurutschen? Top oder Flop können nur solche Stücke sein. Gestern haben sich aber keine meiner Befürchtungen verwirklicht - das Stück ist frisch, nachdenklich, traurig, lustig. Lustig? Darf Sex überhaupt lustig werden? Im lustig steckt auch Lust. Wie viel Humor kann es in Freiheit, Würde, Macht geben? Es gab viel Humor, meistens eine bittere Ironie - wie im Leben selbst.
Was ist schon ein menschliches Leben? Der menschliche Körper, Licht und Leere. Ein Kaleidoskop der einzelnen Menschenleben - die leichteste Bewegung ändert das Bild unkenntlich.
Ein Soldat kehrt vom Krieg zurück, nach Hause, und als Erstes trifft eine homosexuelle Prostituierte, die hässlich wie der Krieg, wie der Tod selbst ist. Wen hat er verteidigt, wofür hat er gekämpft und sein Leben riskiert? Wenn Prostituierte anfangen über Liebe, Tod und Sex zu philosophieren, ist das noch in Ordnung? Alles darf sein, niemand muss sterben. Zumindest, solange er frei ist.
Ist das Leben vielleicht genauso blind wie das naive, dumme Zimmermädchen? Einsam, wehrlos, schreiend nach Liebe, zerlegt sie, plötzlich verwildert vor Wut, das kostbarste, dass sie jeweils gehabt hat. Gibt es überhaupt Liebe ohne Krieg, ohne Tod, ohne Destruktion?
Porno ohne Ende im Hotel. Ein demoliertes Zimmer - grandios, einzigartig, weil hemmungslose Destruktion letztendlich die einzige Freiheit ist. Freiheit, die reizend und sexy wirkt. Wenn es um Machtebenen und Hierarchien geht, hat eine junge Frau überhaupt noch eine Chance, sich nicht zu biegen?

Schade, dass Celina Rongen den zertrümmten Abgang hier nicht auf den Höhepunkt gebracht hat.

Ist der Mächtige immer mächtig? Was passiert, wenn er sich plötzlich klein, romantisch, lächerlich, ausgeliefert fühlt? Gefühle. Wie fühlt sich eigentlich Sex an? Kann Sex kalt sein? Was, wenn Sex nur eine Suche nach Wärme in einer gleichgültigen, erfrorenen Welt ist? Ist Freiheit promiskuitiv? Verwechseln wir Freiheit mit Plattitüde? Wo bleibt dann die Würde? Was ist überhaupt Würde? Kann Würde bloß eine intime Frisur am Körper des Lebens sein?

Würde zwingt zu Anarchie, wenn alles zum ersten Mal im Leben geschieht. Ein anständiger linker Intellektueller und eine verko(r)kste Jugendliche. Ist sie überhaupt volljährig? Egal - heute Abend geht alles, schließlich geht es um Menschenwürde. So verschieden, wie es nur sein kann, warum entdecken sie plötzlich so viele Ähnlichkeiten ineinander? Freiheit ist wie eine Droge, nur eine Illusion im Stroboskoplicht.
Gegensätze ziehen sich immer an - wild und anständig, hemmungslos und langweilig. Was passiert, wenn highes Mädchen ein Mal aus ihrem Rausch aufwacht und sich in einen Musterknaben verliebt? Wenn Wahnsinn und Vernunft sich treffen, passiert Sex am Rand des Todes.

Paula Skorupa war überzeugend als Yazmira. Sie hat einen Charakter geschafft, wild, jung und gleichzeitig erstaunlich, unerwartet reif, was schockierend und anziehend gleichzeitig wirkt.

Promiskuität und Anarchie, Anstand und Geheimnis, vor Kälte erstarrter Lurch und Tyrann - geht die große Liebe immer so aus? Ausgelebt und gestorben vor Langeweile des Wohlstands. Ein Akademiker-Paar versucht die Kierkegaardsche Wiederholung doch zu ermöglichen. Wird es vielleicht ein einziges Mal, trotz aller Logik und Vernunft, klappen? Gibt es ein romantisches Ende, ein Happy end?
Kann man das Leben umschreiben, neu schreiben, festschreiben? Vielleicht gelingt es einem jungen, unbekannten Autor, eine alternde Diva noch mal ins Rampenlicht zu bringen? Wer ist hier mächtig und wer dem fremden Willen ausgesetzt? Wer braucht wen?

Sylvana Krappatsch wirkte ein wenig zu hektisch als Viviane. Valentin Richter hat sie im Temperament überboten. Auf dem Dach mit Yazmira und im Boudoir von Viviane ist er der schüchterne, romantische Trottel und dennoch so anders, wie seine Frauen - jung und alt, wild und erfahren, arm und reich, exzentrisch - jede auf ihre eigene Art.

Ist es überhaupt möglich, als glamouröse und abgebrühte Diva durch das Leben zu ziehen? Ist der Mann nicht jung und unerfahren, was bleibt von der selbstüberzeugten, kapriziösen Dame? Wie schnell verwandelt sie sich in eine (nicht mehr) junge, abhängige, nach einer Rolle durstenden Starlet? Ein Produzent in seiner ganzen Pracht und Glanz. Nach der Serie House of Cards ist ein Rudergerät als Machtsymbol fest in unserer Wahrnehmung eingeprägt. Ist ein Machtspiel mit blauen Pillen in der Tasche möglich? Der mächtige Mann nimmt eine alternde Diva in seine Gewalt, um sich für die Ablehnung einer einst heiß begehrten, aber ihn abservierenden jungen Schauspielern zu rächen und einmal für alle Zeiten eigene Minderwertigkeitskomplexe aus dem Leben eines erfolgreichen Produzenten auszuradieren.

Ist das eine gute Idee, eine Frau einen Mann spielen zu lassen? Wird eine solche Maskerade nicht ins Lächerliche ziehen? Evgenia Dodina ist unverkennbar und unerkennbar zugleich. Präzise hält sie eine Balance zwischen Komik und Farce. Ich vergesse, dass ich eigentlich wusste, wer die Rolle von Victor spielt. Kein Wunder, neben Dodina kann fast jede(-r) einfach verblassen.

Sex aus Rache. Das Kaleidoskop dreht sich noch einmal und der Kreis schließt sich. Eine Diva und eine Prostituierte - so nah und so fern voneinander. Ein Schichtwechsel findet statt. Die Schlange beißt sich am Schwanz. Denn ich habe einen Tag der Rache mir vorgenommen - Gott, des die Rache ist, ist erschienen. Alt wird zu jung, schön zu hässlich, vornehm zu elend, unschuldig zu tödlich, Mann zu Frau - die Mächtigen zahlen für ihren eigenen Machtverlust. Ist Freiheit eine mächtige Machtlosigkeit? Oben wird unten - kann man eigentlich den Tod töten?
Am Ende tanzt nur der Tod allein seinen schrecklichen, absurden, wunderschönen, krüppelhaften, cringen, lächerlichen contemporary dance. Oder ist es doch ein Tanz des Lebens?

Robert Rožić ist der erste und der letzte, den Zuschauer auf der Bühne sehen. In der Rolle von Alejandra hat er eine faszinierende Schizophrenie geschaffen - sein Körper ist nicht nur der Körper seines Charakters, sondern eine selbständige Figur auf der Bühne, die ihre eigene Rolle spielt, erschreckend schön und wehrlos brutal.

zu "Un/true (UA)"

Bubbles – von S. G.

Klar kann ich mich über allerhand andere Denkweisen und abweichende Meinungen informieren, das Internet ist ja meistens offen. Allerdings lande ich dann doch immer auf denjenigen journalistischen Angeboten, die eher auf meiner Linie liegen, und Facebook oder Telegramm nutze ich nicht.

UN/TRUE setzt mich nun über anderthalb Stunden einer mir fremden Welt aus, die während des Abends fast total erscheint. Das Experiment beginnt bereits im Foyer des Kammertheaters: Sechs Akteur:innen treffen auf sechzehn Theaterbesucher:innen, die vorher nicht so recht wussten, an welchen Versuchskonfigurationen sie teilnehmen
werden. Nach diesem Auftakt geht's in den Saal und direkt auf die Bühne, wo ein schachbrettartiger Aufbau von Tischen und Kabinen aus dem diffusen Schwarz herausscheint. Die Teilnehmer:innen werden mit Tablets und Kopfhörern versorgt, instruiert und im Schachbrett positioniert. Der Versuch beginnt und das Tablet leitet nun durch die Szenerie. Zwar ist auf dem Display das zu sehen, was ich auch ohne Display sehen könnte, doch handelt es sich um vorgefertigte Aufnahmen zur Anleitung des Ganges durch die Anordnungen von Tischen und Kabinen. Der ständig nötige Bild auf das Display lässt mich sehr alleine sein, er schafft eine gespenstische Atmosphäre der Obrigkeitshörigkeit, denn jeder Abschweifung der Augen vom Display kann zur Folge haben, sich zu verlaufen. Und da sich die anderen Versuchsteilnehmer:innen ja auch roboterhaft gesteuert allein mit ihrem Tablet durch Schachbrett bewegen, gilt es, dies zu vermeiden. Passiert ist mir dies freilich dennoch, die mir zugeordnete Versuchsleiterin bringt mich aber schnell wieder auf den richtigen Pfad.
An den Tischen und in den Kabinen werde ich nun konfrontiert, indoktriniert, umgarnt und aufgeregt: Fakten und Meinungen zur Gefährlichkeit der Mobilfunkstrahlung durch 5G-Funkmasten werden so geschickt montiert präsentiert, dass ich nach der ersten halben Stunde mich wirklich stark verunsichert fühle. Denn wer kann schon mit
Gewissheit behaupten, dass die von modernen Funkmasten ausgehende Strahlung ungefährlich ist und alle Bedenken an den Haaren herbeigezogen? Eine solche massive Gehirnwäsche kam mir noch nicht unter und ich beginne zu begreifen, wie gemütlich es sein könnte in einer anderen Filterblase als der eigenen. Durch Filme, Zeitungsartikel,
Posts in sozialen Medien, Werbefilme für Strahlenschutz-Amulette, Schutzkeller-Präparationen und so fort werde ich immer weiter eingeseift in diese Filterblase aus verschwörerischem, verstörendem Umgang mit "alternativen Fakten". Wahrscheinlich hätte ich irgendwann diese Versuchsanordnung verlassen wollen, wenn nicht zwischendurch ein Ausbruch aus diesen Fiktionen ermöglicht würde, indem mich meine Versuchsleiterin selbst Gedanken machen lässt über meinen Umgang mit der so genannten Wahrheit, mit Phantasie und Wahnsinn. Durch verschiedene Denkanregungen, Einschätzungen und direkte Abfragen schafft es UN/TRUE, mich mit meiner eigenen Meinungsbildung zu konfrontieren und dazu noch, manche psychologische Grundahnung zu erweitern.

UN/TRUE schafft einen Diskursraum, in dem ich mich mit meinen und mit anderer Leute Befindlichkeiten auseinandersetzen muss. Vielen Dank für den Horizont erweiternden Theaterabend!

zu "Don Juan"

Schwarz, Weiß, Rot – Don Juan als tanzendes Puppenspiel. Molières Lustspiel beflügelt die Seele mit großer Poesie - von Christine Kohler

Wer ist Don Juan? Ein Weiberheld, ein Schuft, ein Edelmann, einer, der alle Tugenden mit Füßen tritt, ein Heuchler, ein Tunichtgut, ein verzogenes Früchtle? Wer weiß das schon, und der Regisseur Achim Freyer stimmt die Zuschauer im Theatersaal mit rotem Mikrofon darauf ein, sich der Figur Don Juans in Selbsterkenntnis anzunähern – jeder auf seine Weise.

Das Spiel beginnt mit einer überlebensgroßen Puppe, in der Mitte der Bühne schwebend, als Don Juan mit – wie sich im Spiel noch zeigen wird – vielen Gesichtern, die er je nach Bedarf auf- und wieder absetzen kann. Die Geschichte ist einfach, uralt und bis in jüngste Tage gültig. Ein Edelmann pflückt Mädchen und Frauen wie süße Himbeeren bei jeder sich bietenden Gelegenheit und vernascht sie. Warum? Weil er’s kann, weil er ein Mann von höherem Stande ist, dem dieses „Privileg der ersten Nacht“ zusteht. So schändet er Elvira, entführt sie aus dem Kloster, tötet den Commentur, den Ordensverwalter, ehelicht sie, während er schon an der nächsten Ecke zwei einfachen Bauernmädchen die Ehe verspricht. An seiner Seite immer sein Diener Skanarell, der ihn zwar warnt, aber ihm dennoch stets zu Diensten ist, seine Schandtaten deckt, seine Streiche ausführt und seinen Gläubiger ihm vom Halse hält. Elviras Brüder wollen Rache, scheitern aber damit kläglich in den Fängen des raffinierten Duos. Um seine Haut zu retten, kennt Don Juan keine Grenzen. Er heuchelt gegenüber allen und jedem, auch seinem Vater, seine Bekehrung zur Tugendhaftigkeit – nur um im gleichen Stil sein lasterhaftes Leben fortzusetzen. Einzig der Himmel hat ein Einsehen und macht diesem Treiben ein Ende. Er schickt die Statue des toten Commenturs als steinernen Gast auf Einladung Don Juans zum gemeinsamen Abendessen. Dann geht alles ganz schnell. Es tut sich die Erde auf und verschlingt den Edelmann im Feuer – vermutlich, wenn man Dantes „Göttliche Komödie“ kennt, landet er im 2. Kreis der Hölle. Der Diener bleibt betroffen zurück und weint um seinen ausstehenden Lohn.

So einfach die Geschichte, so voll Poesie wird sie auf die Bühne gebracht. Schwarz und Weiß sind die Farben auf der Bühne – mehr nicht. Dazu fantastische Lichteffekte im Saal und auf der Bühne, ein Bühnenhintergrund wie aus den Märchen „Tausendundeiner Nacht“, zarte Klänge von Satie und lateinamerikanischer und spanischer Gitarre und natürlich Mozart. Über allem schwebt die Puppe Don Juan als Dirigent des Abends. A propos Mozart: Wie Figuren aus Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“ tritt Elvira gleich dreifach in Erscheinung: Paula Skorupa mit dem Text von Molière, Celina Rongen mit dem Libretto von Da Ponte von Mozarts „Don Giovanni“ und Josefin Feiler und Esther Lee mit Arien aus Mozarts Oper. Dreimal Elvira bieten der Puppe Don Juan die Stirn und klagen ihn an.
Doch die Geschichte geht weiter und über die Elviren hinweg. Matthias Leja als Skanarell bleibt dabei Drehscheibe des Geschehens im Dienst seines Herrn. Dieser, obwohl Puppe, spricht mit allen auftretenden Darstellern. Was wie aus dem Off klingt, wird von den jeweiligen Figuren gesprochen, indem diese mit dem Rücken zum Zuschauer die Rolle Don Juans übernehmen – welch genialer Einfall.
Überhaupt lebt der Molière-Abend von zahllosen genialen Einfällen des Regisseurs und seinem Team. Sei es die Figur des Gläubigers mit Namen Sonntag, der, weil wahrscheinlich auch Wucherer, gleich mit sechs Armen und dies mehrfach auftritt mit Schuldscheinen an jedem Arm, sei es der Hut von Elviras Bruder Don Carlos, der zur Lebensuhr wird. Auch die Figuren der Charlotte, des Peter, Don Juans Vater Don Louis: alle tragen dazu bei, sich wie bei einer Theateraufführung der Commedia dell’Arte zu fühlen.

„Reich mir die Hand mein Leben, komm auf mein Schloss mit mir. Kannst du noch widerstreben? Es ist nicht weit von hier.“ Dieses kleine Lied aus Mozarts „Don Giovanni“ klingt durch den Abend als Lockruf und Mahnung zugleich. Don Juan hat es missbraucht als einer von vielen, für die Beständigkeit die Tugend der Dummköpfe ist, wie es bei Molière heißt. Don Juan kehrt allen Tugenden den Rücken und tauscht sie gegen Heuchelei: „Nur die Heuchelei hat das Privileg, aller Welt den Mund zu verbieten und dabei gelassen ihre Straflosigkeit zu genießen.“ Kommt uns das nicht bekannt vor? Der Theaterabend, so poetisch er begann, so licht- und farbdurchflutet er uns beglückt, er endet wieder Schwarz-Weiß mit der Erkenntnis, dass man nichts weiß. Weder von Don Juan, noch von sich selber ist man schlauer geworden. Was heißt heute Tugend? Ist sie doch eher was für Dummköpfe, oder für diejenigen, die sich ein ausschweifendes Leben nicht leisten können? Und wo überhaupt bleiben die Frauen? Fragen über Fragen. Bei Molière blieb Skanarell auf seinem ausstehenden Lohn sitzen. Es blieb ihm nur der Hut des Herrn – und der war am Ende noch zu groß.
Welch göttliche Komödie: So viel Witz hat es lange nicht gegeben. Chapeau!



Wer ist Don Juan? - von Cindy Cordt

Wer ist Don Juan? Eine scheinbar simple Frage, die in mir aber komplexe Erwartungen weckt. Es kann doch nicht nur eine einzige Antwort auf diese Frage geben? Der Mythos des Verführers wird mit stofflichen Fassaden, fragmenthaften Kostümen und Fäden, an denen nicht nur Don Juan hängt, inszeniert. Die ganze Welt mit Raketen und Schiffen erwacht im Hintergrund und man wird eingesogen in diese Welt, die man sich doch selbst mit Papier und Stofffetzen zusammengeschustert hat. Ein wunderbar verspieltes Bühnenbild, was an die Videoarbeiten der Künstlerin Mary Reid-Kelley erinnert.

Der jegliche Moral als atheistischer Egoist missachtende Don Juan, nur eine stumme Marionette, zentral in der Mitte der Bühne in Schräglage. Er – nur eine Illusion, wie alles um ihn herum, mal als amüsantes spielerisches Bemühen, sich eine Zigarette anzuzünden und den Körper im Rauch einer Nebelmaschine verschwinden zu lassen, mal ein Tanzen und Gestikulieren über die ganze Breite der Bühne. Don Juan als gesichtslose oder vielgesichtige Marionette spielt nur scheinbar mit den entliebten und enttäuschten Frauen, eigentlich sind sie es, die seine Fäden ziehen, ihm ihre Stimme leihen, ihn das sagen lassen, was sie sich von ihm so sehnlichst wünschen: „Du bist schön, du bist begehrenswert, du bist...“

Zu dritt schreiten Frauen lamentierend aus dem Bühnenhintergrund hervor, Esther Lee entfliehen die Worte der enttäuschten Elvira in glockenheller Stimme und die Kostüme transportieren gleichzeitig Eleganz und Tragik.

Die Dialektik der Figur, die Molière beschreibt, in schwarz-weiß zu zeichnen, einerseits ein schlüssiges Bild, doch die Frage vom Anfang ist schon aufgelöst: Don Juan, ist eindimensional in der Verderbtheit seines Charakters, aber vielschichtig in den Wünschen und Projektionen, die wir anderen auf ihn werfen. Die Schauspieler, Matthias Leja als Skanarell ist wunderbar, wenden sich an die Marionette und holen sich mit eigener Stimme zurück, was sie von ihr hören wollen. So kommt mit Charlotte (Celina Rongen) und Peter (Valentin Richter) Tempo in die Inszenierung, an manchen Stellen sieht es aber ein wenig nach Akrobatik aus, wenn Elvira (Paula Skorupa) im Chor mit ihren Ebenbildern anklagt und gestikuliert.

Achim Freyer bot uns eine comichafte Welt an, die Schauspieler und Puppenspieler miteinander gestalteten. Besonders durch die Figur des Bettlers (Felix Strobel) streiften manche Aktionen ein wenig den Slapstick, aber immer mit der Distinguiertheit, die man von einem Don Juan erwartet. In den vielen Details der Kostüme und Bühnenelemente kann man sich verlieren, Orientierung bietet dann die tänzelnde Marionette des Don Juan, auf die man immer im Zentrum der Bühne zurückkommen kann.

Und wer ist nun Don Juan, aus wie vielen Stäben und Gesichtern setzt er sich zusammen? Die Frage ist vielleicht überflüssig. Was wollen Charlotte (Celina Rongen) und all die anderen Frauen und der Gläubiger Sonntag (Klaus Rodewald) sowie auch ich und alle andren von Don Juan? Don Juan ist unser Wunsch nach Bestätigung, Akzeptanz, Resonanz, deshalb darf er auch am Ende der Vorstellung eigentlich nicht sterben. Dennoch geschieht genau dies in herrlich harmloser Splatterpersiflage mit blutigen Lichtspritzern, wunderschön und malerisch. Und jede*r hat ein Stück ergattert, von dem Verführer, dessen Worte und Schmeicheleien sie so brauchen. Sie töten ihn, weil sie ihn nicht für sich haben können. Doch Don Juan lebt, wir können nicht davon lassen, ihn für und zu uns sprechen zu lassen. Im Stück hat er trotz der Körperlosigkeit ganz wunderbar lebendig gewirkt – nicht nur durch die Stimmen der Schauspieler, sondern durch die flinken Finger von Léa Duchmann, Helga Lázár, Adeline Johanne Rüss und Anniek Vetter.

zu "Der Würgeengel"

Spiel mir das Lied von der Ratlosigkeit - von Christine Kohler

So bizarr die Szenerie in Coronazeiten im Freien sich jetzt erneut zeigt, so auch im Inneren des Schauspielhauses: ganze Sitzreihen unbesetzt, die anderen im Strickmuster zwei leer – zwei Besucher. Man sitzt schon ganz schön verloren, bevor das Schauspiel überhaupt beginnt – danach aber erst recht.

In einem riesigen Konferenzsaal, um einen riesigen runden Kabinettstisch, unter einer noch riesigeren Videowand nehmen zehn honorige Menschen ihren Platz ein – ohne Berührung, fast ohne Blickkontakt, teils mit erkennbarer Abneigung des und der Anderen. Die Mikrofone sind eingeschaltet, die Übersetzungskabine funktioniert. Die Gläser sind zwar noch nicht bereit gestellt, dennoch - das Spiel kann beginnen. Der Vorsitzende der vermutlich europäischen Crisis Conference Commission, Edmund Nobile (nomen est omen), hat zur Emercency Conference Pandemie geladen – gerade wie im wirklichen Leben. Die Gäste stellen sich vor: Frau Nobile, ihre Affäre, eine Sängerin, ein Student mit seiner Freundin, ein Arzt, eine eingebildete Kranke, eine reiche Erbin und ihr Bruder. Ein eigentümlicher Ausschnitt aus Europas Gesellschaft mit seinen vielen Sprachen und Eigenheiten sitzt um den Tisch auf der Suche nach europäischer Solidarität und europäischem Gemeinschaftsgefühl. Angela Merkel und sogar der russische Präsident Putin werden live zugeschaltet. Warum eigentlich Putin? Ist Russland schon in der EU?

Wer nun aber ein politisches Schauspiel erwartet hätte, das man bei einer Inszenierung durch den ungarischen Viktor Bodó, einem vehementen Kritiker der ungarischen Orbán-Regierung hätte vermuten können, oder ein intellektuelles Feuerwerk an Diskursen und Diskussionen entlang des menschlichen Abgrunds, wird enttäuscht.

Nach einer technischen Unterbrechung der Sitzung durch einen Stromausfall beginnt ein absurdes und an surrealen Momenten reiches Spiel der anwesenden Personen samt der Angestellten und dem Dirigenten, das den Schauspielerinnen und Schauspielern enorme Fähigkeiten abverlangt: sprachlich, körperlich, szenisch. Da wird geschrien, getanzt, akrobatische Verrenkungen werden vorgeführt, großartig Peer Oscar Musinowski, unterste Schubladen werden geöffnet. Das Leben ist seltsam, aber unterhaltsam, sagt einer. Den Gästen dämmert so langsam, dass sie den Raum, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr verlassen können. Keine Bewirtung, kein Nachtlager, stattdessen die brutalstmögliche Abrechnung jeder gegen jeden. Hunger, Durst, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit brechen sich Bahn und richten sich gegen den jeweiligen Nachbarn. Ein Mann stirbt. Die Zivilisationsdecke bricht langsam ein.

In diesem skurrilen Spiel nimmt die Kommunikation zwischen den Personen immer bizarrere Formen an, von ständiger Wiederholung bis hin zu abgehackten Wörtern und Wortfetzen, die keinen Zusammenhang mehr ergeben. Die Zuschauer des Schauspiels trösten sich einstweilen mit der hervorragenden musikalische Begleitung, die Klaus von Heydenaber zusammengestellt hat.

Edmund und Lucia Nobile als Einladende, Michael Stiller und Sylvana Krappatsch, werden besonders attackiert, aber auch der Dirigent Roland Spitzweg, Klaus von Heydenaber, und die Angestellte, Celina Rongen. Der Arzt in der Runde, Dr. Condé, großspurig Reinhard Mahlberg, verkündet Diagnosen und Therapievorschläge, bis die Sitzung schließlich fortgesetzt werden kann mit dem Ziel, sich anzustrengen um rauszukommen und den Schuldigen für die Misere zu finden.

Zwischen den absurden Lebensäußerungen taucht ganz unvermittelt und poetisch die Liebe im Konferenzsaal auf zwischen dem Studenten, Benedikt Löwenfels, und seiner Freundin, Beatrice Heidelbach. Der Blick in den Sternenhimmel und zu Cassiopeia macht Hoffnung auf Zukunft. Doch diese trügt, denn mit dem Lied “Dreams are my reality, The only kind of real fantasy, Illusions are a common thing, I try to live in dreams.” findet die Liebe ihr Ende.

Der Versuch, mit dem Schuldigen abzurechnen erübrigt sich. Nobile gibt vorher auf – Gewaltanwendung ist nicht nötig. Am Ende des Spiels fällt nicht der Vorhang. Es öffnet sich stattdessen eine Tür, durch die die Geladenen wieder entkommen können.

Es ist ein Ende mit Fragezeichen – so steht es groß auf der Videowand. Und niemand soll sich täuschen: das Spiel ist tatsächlich aus, doch läßt es das Publikum ratlos zurück. Ist die Welt so verrückt, wie sie scheint? Ist der Mensch so brutal, rücksichtslos, egoistisch und irrational wenn ihm kein Ausweg bleibt? Der Zuschauer bleibt ohne Antwort und Hoffnung auf Erlösung.

Das gerade wollte auch Luis Buñuel 1962 mit seinem Film „Der Würgeengel“, auf dem das Schauspiel basiert, erreichen. Es gelang ihm ein surrealistisches Meisterwerk. Die Eingeschlossenen sind gefangen in einer Sphäre des Irrationalen, die sich jeder einfachen Deutung entzieht. „Die Welt wird immer absurder. Nur ich bin weiter Katholik und Atheist. Gott sei Dank!“, kommentierte Buñuel seine Gegenwart. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

zu "Der Besuch der alten Dame"

Kann man Gerechtigkeit kaufen? - von Tillmann Gronert

Die Bewohner von Güllingen stehen am Abgrund. Wie Phoenix aus der Asche steigt die alte Dame Claire Zachanassian hervor und spielt auf einem sich drehenden Flügel. Diese spannendste Szene der Inszenierung von „Besuch der alten Dame“ von Burkhard C. Kosminski ist gleich zu Beginn zu sehen. Die Bühnentechnik des Schauspiels Stuttgart gibt wieder alles. Die Dramatik der Situation wird hier und auch im weiteren Verlauf deutlich unterstrichen durch die unaufdringliche aber emotionale Musik von Hans Platzgumer. Immer wieder entstehen dadurch unheimliche, traurige und bedrohliche Momente.
Die alte Dame kehrt nach vielen Jahren als Milliardärin in ihr Dorf zurück und will sich an Ihrem ehemaligen Geliebten rächen. Sie verspricht der Gemeinde Wohlstand, wenn sie ihn dafür umbringen. Der Inhalt dieses Dürrenmatt-Klassikers ist allgemein bekannt, aber Kosminski wählt eine ganz besondere Form der Darstellung. Das Spiel wird drei Mal durch Monologe der Hauptdarstellerin Evgenia Dodina unterbrochen, in denen sie auf hebräisch ihre eigene Geschichte erzählt. Die Texte sind in langen Gesprächen mit dem Autor Peter Michalzik entstanden. Dodina ist Jüdin und so wird auch die Figur der alten Dame angelegt. Für eine Spielzeit ist sie am Schauspiel Stuttgart und soll an die erfolgreiche Zusammenarbeit in „Die Vögel“ anknüpfen. Es wird spannend, in welchen weiteren Rollen sie zu sehen sein wird.
Die Monologe von Dodina verwirren allerdings und der Spannungsbogen der Inszenierung wird komplett unterbrochen. Um wen geht es jetzt? Um Claire? Um Evgenia? Um Geld? Um Macht? Um eine jüdische Geschichte? Um Güllingen oder doch um die ganze Welt ?
Kosminski möchte das Stück offensichtlich mit Mehrsprachigkeit und Internationalität durchziehen. Aber das stiftet mehr Verwirrung, als es begeistert. Es wird hebräisch und deutsch durcheinander gesprochen, zusätzlich werden deutsche und englische Untertitel gleichzeitig eingeblendet. Zeitweise weiß der Zuschauer nicht mehr, wo er hinsehen soll und welche Sprache gerade benutzt wird. Das wird auch begünstigt durch die Aussprache von Evgenia Dodina. Sie hat für dieses Stück begonnen Deutsch zu lernen, was wirklich bewundernswert ist. Es ist aber fraglich, ob der schnelle Wechsel zwischen den Sprachen eine glückliche Wahl war.
Der sonst so großartige Matthias Leja darf in dieser Inszenierung leider nicht zeigen, was er kann. Seine Rolle Alfred Ill ist der alten Dame immer unterlegen. Das zu große Sakko, die blasse Hautfarbe lassen ihn klein, grau und machtlos erscheinen. Er bekommt die Pistole abgenommen, er tanzt, fällt um und bleibt während des gesamten nächsten Monologes von Evgenia Dodina liegen. Und genauso wirken auch die Verhältnisse unter den Schauspielern. Eine Zweiklassengesellschaft. Ursprünglich enthält das Stück viele Personen mehr, die alle für diese Inszenierung gestrichen wurden. Wahrscheinlich würden Sie alle nur ablenken und den Fokus auf die Hauptperson stören. Diese heißt in dieser Inszenierung nicht Claire Zachanassian, sondern Evgenia Dodina. Das nervt irgendwann, vor allem wenn man die Qualität des restlichen Stuttgarter Ensembles kennt.
Die Gewinner des Abends sind die Darsteller der Nebenrollen. Der immer wandlungsfähige Sven Prietz diesmal als braver Bürgermeister, Felix Strobel als unsicherer Möchtegern-Polizist und die nicht wiederzuerkennende Gabriele Hintermaier in gleich zwei Rollen mit jeweils großartiger Maske. Diese Figuren hängen alle mit drin und werden zu Mitläufern. Sie wollen sich Claire anbiedern und annähern, aber kommen nicht an sie heran. Die Drehbühne lässt sie sich immer wieder entfernen. Alle wollen ihr Geld, aber die alte Dame ist unnahbar. Bezeichnend für die Gier aller Bürger ist der Ausspruch: „Es geht nicht um Geld!“. Anschließend sammeln alle die überall am Boden liegenden Scheine ein. Ein minutenlanger Geldregen hat sie vorher dort verteilt.
Am Ende darf Alfred Ill sein eigenes Grab schaufeln. Matthias Leja ist sehr lange damit beschäftigt, die Erde in alle Richtungen und von der Bühne zu schaufeln. Viel mehr war für Ihn an diesem Abend wohl nicht drin. Dann verschwindet er schließlich im Erdloch. Die Gemeinde hat ihn zum Tode verurteilt. Natürlich nicht des Geldes, sondern der Gerechtigkeit wegen.

Die Besuche der zwei Damen - von Bettina Krieg

Gibt es etwas, wofür man der AfD danken kann? Wenn die Hauptdarstellerin an diesem Abend „Danke AfD“ ruft, versteht man sofort, warum: Ohne die Anfrage dieser Partei nach der Staatsangehörigkeit der Künstlerinnen und Künstler an den baden-württembergischen Theatern wäre diese Inszenierung höchstwahrscheinlich nie entstanden. Und somit trägt sie – unfreiwillig – dazu bei, dass der Besuch der alten Dame einmal mehr seine Aktualität beweisen kann und noch dazu einen sehr persönlichen Gegenentwurf bekommt.
Zu Anfang stehen der Bürgermeister, der Polizist, der Lehrer und Alfred Ill mit großem Abstand voneinander in einer Reihe und sprechen frontal ins Publikum. Das ist coronakonform, zugleich unterstreicht diese Aufstellung das Lehrstückhafte der bekannten Handlung: Geld versus Moral wird verhandelt, als die reiche Claire Zachanassian nach Güllen zurückkehrt. Sie bietet ihrer Heimatstadt eine Milliarde für den Tod ihres früheren Liebhabers Alfred Ill, der sie einst verraten hat.
Das Stück ist auf das Wesentliche gekürzt und wird wie im Schnelldurchlauf erzählt. Dabei geht es weniger um eine Auseinandersetzung mit den Gewissenskonflikten, die Claire Zachanassians Angebot bei den Güllenern verursacht. Vielmehr wird Gier und Doppelmoral der Einwohner in drastischen Bildern geschildert. Zum Beispiel, wenn minutenlang Geldscheine wie buntes Konfetti auf die Bühne regnen oder die Bewohner diese Geldscheine in Säcke stopfen, während der Lehrer mühsam die „Werte des Abendlandes“ oder die „Verwirklichung von Gerechtigkeit“ heranzieht, um den Tod Ills zu rechtfertigen.
Der Schwerpunkt der Inszenierung hingegen liegt eindeutig auf Claire Zachanassian bzw. ihrer Darstellerin Evgenia Dodina. Sie wird zu Beginn aus einer Vertiefung auf die Bühne emporgefahren, während sie an einem Flügel sitzt und eine sanfte Melodie spielt. Für die Güllener ist sie vor allem das Ungeheuer aus der Unterwelt, das kalt und unbarmherzig ihre Forderungen stellt. Nur im Gespräch mit Ill kommen eine gewisse Weichheit und Vertrautheit auf, unterstrichen von der Tatsache, dass sich die beiden über weite Strecken auf Hebräisch unterhalten. Und überhaupt, im Gegensatz zu Dürrenmatts Original hieß Claire früher Goldberg (nicht Wäscher), die Dorfbewohner schwenken zu ihrer Begrüßung schwarz-rot-goldene Papierfähnchen und Claire erwähnt, dass Ill einst zum Nationalisten wurde. Vor diesem Hintergrund bekommen ihre frühere Ausgrenzung und ihre Rache auf einmal einen konkreten historischen Kontext. Doch damit nicht genug.
Denn Burkhard Kosminski will dem Stück eine ganz andere Geschichte gegenüberstellen. Dafür tritt die Hauptdarstellerin immer wieder aus ihrer Rolle heraus und erzählt von sich und ihrer Familie. Dabei spricht sie Hebräisch, was ihre Erinnerungen noch persönlicher und authentischer macht und im Stuttgarter Schauspielhaus irgendwie neu und aufregend klingt. Sie erzählt von der Flucht ihrer Familie während des zweiten Weltkriegs, von Hunger, Elend und Tod. Und sie sagt, dass sie nach der Anfrage der AfD im letzten Jahr eigentlich nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wollte. Kosminski nutzt diese Anfrage nun als Steilvorlage und verkehrt sie in ihr Gegenteil, indem er die jüdische Weißrussin, die seit Jahren in Israel lebt, zum Zentrum des Abends macht.
Je mehr sie von sich erzählt, desto besser versteht man, was sie mit Claire Zachanassian verbindet. Erfahrenes Unrecht, Flucht und Rückkehr haben auch Evgenia Dodina geprägt. Ihr Umgang mit diesen Themen unterscheidet sich jedoch entscheidend von Claire Zachanassians Art der Vergangenheitsbewältigung. Und so hält sie eine Alternative zu dem desillusionierenden Schluss bereit, der für das Stück vorgesehen ist. Die Handlung in Güllen endet damit, dass Ill brutal gesteinigt wird. Dürrenmatt löst das Dilemma nicht auf, sondern zeigt die Verstrickungen und Unzulänglichkeiten der Menschen – auch die von Claire Zachanassian, die Rache will, um „ihren Traum von Liebe wieder zu errichten“. Evgenia Dodina hingegen weiß, dass Rache schlimme Erfahrungen nicht löschen kann. Stattdessen will sie alle Erinnerungen in ihr eigenes Leben einbeziehen und mit anderen teilen, zum Beispiel mit dem Theaterpublikum. Deshalb werden am Schluss Fotografien ihrer Mutter und Großmutter auf die Bühne projiziert.
Die Inszenierung räumt etwaige Zweifel, ob eine weitere Auflage von Dürrenmatts Klassiker neue Aspekte bereithalten kann, auf überraschende und eindringliche Weise aus. Die Versöhnung und die Menschlichkeit, die aus ihr sprechen, wirken auf das Stück zurück und in die politische Gegenwart hinein. Darüber hinaus macht dieser Abend deutlich, wie bereichernd die internationale Besetzung der Ensembles an deutschen Theatern ist.

Zu "Die Lage (UA)"

„Ohne Rührung keine Vorstellung, ohne Vorstellung keine Wohnung" - von Christoph Schwerdtfeger

Nachdem die ursprünglich geplante Uraufführung im April der Corona-Pandemie zum Opfer fiel, wurde mit „Die Lage“ die neue Spielzeit im Kammertheater eröffnet.
Über den Sommer habe ich mir als Theaterfan mit garantiert Corona-tauglichen Stücken geholfen (insbesondere viele Audiowalks, einer davon in der „Black Box“ des Theaters, ein paar Freiluftstücke). Die leichte Skepsis, ob es wirklich schon so eine gute Idee ist, wieder in einen geschlossenen Theatersaal zu gehen, legt sich schnell. Schon am Eingang werde ich freundlich auf die Hygieneregeln hingewiesen, und im Saal ist großzügig Platz. Die Schauspieler*innen spielen alle mit Mikroport, auch das wird dem Hygienekonzept geschuldet sein –
„Die Lage“ ist eine Stückentwicklung von Thomas Melle, in der es um Mieten und Wohnen geht. Laut Ankündigungstext wird die Wohnungsbesichtigung als Castingshow inszeniert, die Miete sei die Soziale Frage unserer Zeit.
Das Thema liegt gerade in Stuttgart auf der Hand, uns so ist dieses nicht die erste Stückentwicklung zum Thema: Eigenbedarf (Kollektiv zum Goldenen Schmetterling, 2019), House of Hope (post theater, 2016) oder Modellsimulation mit Pfau (Theater Rampe, 2015) fallen mir sofort ein. Und auch das Freilichtstück Ich bin nicht bereit, gerettet zu werden (Theater Rampe / Kunstfest Weimar, 2020) kommt über Castorf und Corona schnell zur Wohnungsnot in Esslingen.
Im Programmheft Texte, die sich mit Ursachen und Ausprägungen der Wohnungsnot, sowie mit dem Recht auf Wohnen auseinandersetzen.
Im Saal wartet auf der Bühne ein kalter, klarer Raum (Stefan Hageneier). Auf der Bühne ein Mensch (Jannik Mühlenweg), der dann unvermittelt in den Prolog im Parterre einsteigt, bevor das Licht im Zuschauerraum aus ist. Eine überzeichnete Befragung des im Publikum sitzenden Bewerbers um ein WG-Zimmer.
Danach werden Wohnungsbesichtigungen aufgeführt: Alerte Makler*innen führen die immer gleichen Leute durch die immer gleich langweiligen, aber unglaublich teuren Wohnungen. Dramen spielen sich zwischen den besichtigenden Menschen statt. Der Kampf um die Wohnung stellt die Menschen auf die Probe: Wie weit mag sich wer verbiegen, um an die Wohnung zu kommen? Wollen die Menschen, die hier eine gemeinsame Wohnung suchen, das gleiche?
Die Figuren sind austauschbar: blaues Hemd, blonde Haare (Kostüme von Stefan Hageneier und Lara Roßwag). Manchmal wird eine Figur überzeichnet und tritt aus der Masse heraus: Der WG-Bewohner im Prolog, die Makler*innen, ebenjener ehemalige Mieter.
Einen Tag später bin ich mir offen gesagt unschlüssig, was der Abend wollte: meine Erwartung war nach Ankündigung und Prorgrammheft, dass es um Wohnen als soziale Frage unserer Zeit geht. Das wird zwar im Stück behauptet, aber zu genau dieser sozialen Frage sagt das Stück eigentlich nichts.
Der Kampf um die Wohnung (über zwei Videoeinblendungen durchaus als bewaffneter Kampf zu verstehen) wird stattdessen als Folie genommen, um zwischenmenschliche Beziehungen zu beleuchten: von dem Versuch, ein Gespräch mit der Nachbarin in der Warteschlange anzufangen („ich fand, wenn man schon hier wartet“), über die mehr oder weniger unangenehmen Versuche, beim Makler in Erinnerung zu bleiben, Selbstdarstellung, dem Scheitern der Selbstdarstellung als Paar und gegenseitigen Vorwürfen über das befürchtete Scheitern bis zu den Menschen, die sich ob der Situation trennen. Auch hier überzeichnet die Regie (Tina Lanik), für subtile Konflikte ist kein Raum.
Da ist fast die treffendste Metapher der Augenoptiker, den seine Frau nur mal „antippen wollte, um ihn auf der Basis des allgemeinen Vertrauens in ihrer Beziehung zur Ordnung zu rufen“, und die ihm leider dabei mit dem hohen Hacken ihres Stöckelschuhs das Auge ausstach. Der äußere Druck bringt Konflikt in die Beziehungen, dieser wird unbeholfen verhandelt, es kommt zu bleibenden Verletzungen.
Mir bleibt das insgesamt zu grob gezeichnet, zu offensichtlich. Es gibt wenig Überraschungen.
Wie oben gesagt, geht es wohl nicht um Wohnungspolitik. Aber für eine Untersuchung des Zwischenmenschlichen bleibt alles zu sehr im Holzschnittartigen, in der Plakativität entsteht keine emotionale Bindung zu den Figuren.
Als sich die Wohnungsbewerber der Reihe nach nackig machen, werden diese alle am Ende alle abgelehnt, weil es nicht rührend war:
„Ohne Rührung keine Vorstellung, ohne Vorstellung keine Wohnung.“
Ich befürchte, dass dieser Kommentar auch die ironische Distanz des Autors zum eigenen Theater ausdrückt: Josephine Köhler spricht diese beiden Sätze aus dem Publikum, und es macht sie nicht sympathisch.
Es stimmt, dass eine Vorstellung auch ohne Rührung möglich sein sollte. Ich finde es aber schade, wenn ein Stück weder berühren, noch bewegen, noch anregen will. Dazu bedarf es aber des Muts zu einer eigenen Haltung.
Eine Haltung konnte ich leider weder zu den Figuren noch zur Miete als der sozialen Frage unserer Zeit entdecken.

zu "The Clickworkers (UA)"

Sind wir alle Clickworker? - von Cindy Cordt

Gleich die erste Szene der Inszenierung löst Beklemmungen aus, das Licht geht an, man schaut in einen Büroraum mit niedrigen Decken, beobachtet die Schauspieler, deren absurd anmutende Handlungen für mich aufgrund meines voyeurhaften Blickwinkels die Assoziation an zoologische Terrarien aufkommen lässt.
Der Ablauf eines Vorstellungsgespräches, auftauchende Floskeln und hippe übermotivierte Chefs, die auf flache Hierarchien setzen, all das kommt mir bekannt vor, wird aber bis ins Absurde übertrieben. In den Darstellern erkennt man Mustercharaktere wieder, die sich zu einem kollektiven Cluster verweben, doch blitzt immer wieder das Individuum durch.
Adrian, Andela, Claudia, Jan, Jasmina und Tenzin verkörpern, was das Ensemble in unserer heutigen Gesellschaft an Verhaltensmustern wahrgenommen hat. Sie wollen so sehr das Bild des erfolgreichen Co-workers erfüllen, dass sie ins Wasser springen und selbst zum Spiegelbild werden, dadurch aber den Halt verlieren.
Teilweise driften die Szenen mit überstilisierten Posen ins Comedy-hafte. Trotz der Tatsache, dass quasi jedes Klischee in und um den modernen Arbeitsmarkt aufgegriffen wird, schaffen es die Schauspieler, auch die sozialen Gefüge hinter den Motiven zu durchleuchten und die kritische Haltung des Ensembles erkennen zu lassen.
Immer wieder hat man das Gefühl, auf versteckte Zitate und komplexe Andeutungen zu stoßen; sitzen nach einer grotesken Szene der Selbstverletzung drei Schauspieler nebeneinander auf der Bühne, erinnert man sich an eine Bildkonstellation, die man schon mal auf einem anderen Bildträger gesehen hat, auch ein Vergleich mit den performativen Tableaux vivants von Anne Imhof drängt sich auf, auch hier repräsentieren hippe Contemporaries  Angst und in Faust Verhaltensmuster einer gelangweilten aber doch durch die an sie gestellten Erwartungen,  gestressten Generation.

Das Hämmern in die Tastatur wird zur Soundcollage, nicht immer ist die soziale Interaktion so subtil spürbar wie in dieser Szene meist treffen unkorrekte Witze über Minderheiten oder das ins Lächerliche ziehen der eigenen Überzeugungen (Veganismus) direkter ins Mark. Die angeschnittenen Themengebiete sind gegliedert durch Monitoreinblendungen mit provokantem Titel. Die Kapitel widmen sich jeweils einem oder mehreren gesellschaftlichen Verhaltensregeln und verweisen auf Defizite unserer schnelllebigen Gesellschaft. Die Schauspieler borgen sich Verhaltensmuster aus und zeigen, dass wir, indem wir uns politisch korrekt verhalten wollen, manchmal das Maß verlieren und eine übertriebe Correctness zur Farce wird. (radical empathy)

Das Agieren auf der Bühne wirkt überdreht, man erwartet den Kollaps, um dies immer wieder hinauszuzögern, fungiert zwischen den Akten eine Schreibtischlampe, in die die Schauspieler blicken müssen, immer wieder als Reset Botton, der das Tempo stoppt und runterfährt für den nächsten thematischen Akt. Das Empathie-auslösende Licht wird als Strafe eingesetzt und ist zugleich Antidot gegen alle Niederungen. Nach und nach tauchen in der ambitionierten Inszenierung immer mehr Motive aus dem Horrorgenre auf, flimmernde Neonröhren à la Shining sind vielleicht ein bisschen zu naheliegend und auch die Assoziation an Rhinozeros von Ionesco fällt ein wenig zu direkt aus,  bilden aber doch ganz gut die Entwicklung ab, die die Protagonisten durchleben. Es zeigt sich, dass  am Ende auf der Bühne von Burnout dahingeraffte Protagonisten, die scheinbar eine Zombie-Apokalypse überlebt haben, doch nicht verrückter sind, als zu Beginn des Stückes, als ihnen noch keine Hufe wuchsen.

Die drei Nornen kommen hier in Form von Frustration und Ausbeutung  daher, die dritte im Bunde ging unter, so schnell liefern sich in manchen Szenen die Schauspieler mit Floskelphrasen Wortgefechte und hier soll erwähnt werden, wie meisterhaft die Schauspieler sowohl die Rollenklischees verkörpern – man meint, sie kosten sie sogar aus  – und sich auch den Text sicher um die Ohren werfen. Für mich ist es größtenteils die schauspielerische Versiertheit, die für mich das Stück unbedingt sehenswert macht.

Beim Gang aus dem Theaterraum, den gewundenen gummierten Pfad herdengleich hinunterschreitend wirkten die Bilder der Inszenierung nach und ich sah dieses Förderband, das die Zuschauer wieder in den Alltag transportiert unter anderen Gesichtspunkten. Zusammengefasst: ein Lob an die  Regiearbeit von Dino Pešut und Selma Spahić, der Spiegel, in dem die Regeln aufblitzen, nach denen sowohl die Schauspieler als auch wir uns zu halten zwingen, wird uns zwar vorgehalten aber ich fühle mich nicht belehrt und denke gern noch über das Stück nach und grübele, welche Anspielung oder Kritik mir aufgrund des sagenhaften Spieltempos entgangen sein mag.

zu "Die Wahrheiten (UA)"

"Alle Sätze sind richtig, aber unglaubwürdig" - von Esther Pawlita

Bruno und Sonja machen es sich nach dem  Kinobesuch im Wohnzimmer gemütlich. Ruhig soll der Abend ausklingen. Mit Riesling und Tagesschau auf dem Sofa. Die Stimmung ist gelöst. Der Mann lästert über den Frauenfilm. Die Frau ermahnt ihn nicht zu viel zu trinken. Alles ganz normal. Kenne ich aus meiner Ehe.
Aus dem Nichts eine SMS auf Brunos Handy. Jana und Erik, ein befreundetes Pärchen kündigt die langjährige Freundschaft. Ohne Begründung. Diskussion unerwünscht.
Bruno und Sonja sind fassungslos. Was ist der Grund für diese SMS? Vorwürfe werden laut. Der Schlagabtausch als Paradebeispiel für eine typische Paardynamik. Der Dialog bleibt nicht bei den Freunden. Ist nie ganz beim Thema. Es wird hin und her gesprungen. Nebenkriegsschauplätze werden eröffnet. Persönliche Kränkungen und Ängste allgegenwärtig.
Bruno kocht vor Wut! Wollte er den beiden doch stets nur Gutes! Lud Jana sogar ein, den Finanzmanager-Workshop in seiner Firma abzuhalten. Dieses undankbare Paar, das sie seit Jahren moralisch und finanziell unterstützen. Gönnerhaft wurde Janas Studium finanziert. Ohne sie wären Jana und Erik ein Nichts! Bruno bilanziert. Erst wird aufgerechnet und dann abgerechnet. Jana, eine hübsche Frau ohne weitere nennenswerte Fähigkeiten. Jetzt heißt es, auf die Entschuldigung zu warten.
Geschlechterklischees werden bedient: Männer reden nie über Probleme. Frauen erforschen die tiefen, dunklen Schächte der Seele. Das Publikum lehnt sich schmunzelnd zurück und atmet auf. Bloß alles nicht zu ernst nehmen! Zu sehr erinnert die Diskussion an die eigene Ehe!
Bruno schwelgt mit in Erinnerungen. Der attraktive Erik, der die Blicke der Damenwelt auf sich zieht, der nichts anbrennen lässt und gerne mal mitgeht. „Von einem schönen Teller isst man nie allein!“ sagt Bruno. Die nächste Eskalation. „Das solltest du ja wissen, Sonja! Du hattest ja auch eine Affäre!“ Alte Schubladen werden aufgemacht. Der erste Sohn ein Kuckuckskind.
Nähe und Distanz werden ständig ausgelotet. Das Bühnenbild unterstützt: Ein Raum mit sechs Ebenen bestehend aus großen Holzschiebetüren, die man beliebig nach rechts oder links bewegen kann. Manchmal wird Ebene für Ebene aufgefächert und der Blick auf das Innere freigelegt. Dann werden Mauern gezogen, Räume neu aufgeteilt. Es wird sich versteckt, man kann verschwinden und wieder auftauchen. Im Inneren dann eine Bank und 3 Hocker aus Holz.
Das erste Paar geht ab.
Der Raum jetzt die Wohnung von Jana und Erik. Das äußere Gerüst bleibt bestehen. Das Innere von Jana neu arrangiert. Die Bank wird auf den Kopf gestellt und bleibt doch eine Bank. Ebenso der umgeworfene Hocker. Man kann immer noch gut auf ihm sitzen.
Wir springen zurück an den Anfang des Abends. Jana im Wohnzimmer. Psychisch labil, emotional angeschlagen und derzeit in Therapie bei Ulla, einer Kollegin. Zusammen arbeiten sie ihr Leben auf. Vergangenheit geprägt von  Ausgrenzung, Mobbing und Machtmissbrauch. Erik kommt dazu.
Jana möchte keinen Kontakt mehr zu Bruno. Schildert die Situation an der Hotelbar vor vier Jahren während des Workshops. Schildert ihr Gefühl der Machtlosigkeit. Eine Hand auf ihrem  Arsch. Gelächter, Anzüglichkeiten, gierige Blicke. Das Gefühl nur ein „besserer Escortservice“ zu sein unter all den „Silberrücken“. Und das alles unter den Augen des vermeintlichen Freundes Bruno, der im Halbdunkeln zuschaut und lächelt.
Wieder werden Klischees bedient. Vor dem inneren Auge sehe ich sie alle an der Hotelbar sitzen. Die machtgeilen alten, weißen Männer. Sofort denke ich an die Sexparty der Ergo Versicherung in Hamburg. Männer, die sich rücksichtslos nehmen, was sie wollen - MeToo lässt grüßen!
Erik kann das alles nicht verstehen. Von „Missbrauch“ keine Rede. Die Situation typisch für seine überempfindliche, hysterische Frau Jana. Die Reaktion überzogen. Die Geschichte alt. Und so spinnt sich der Dialog weiter. Mehr Wahrheiten kommen ans Licht. Erik schreibt die SMS.
105 Minuten Schlagabtausch ohne Pause. Bei jeder neuen Wahrheit unruhiges Geigengezupfe im Hintergrund. Jede Person hat ihre Berechtigung und doch kommt keine wirklich gut davon. Irgendwie versteht man alle und doch keinen. Die Trennwände werden nach oben gezogen. Erik, Sonja, Bruno und Jana im leeren, offenen Raum. Die Stimmung angespannt. Heimliche Treffen der Geschlechter. Man spürt die Verbundenheit und trotzdem finden sie nicht mehr zueinander. Der Riss zu groß.
„Die Wahrheiten“. Ein Stück über persönliche Grenzen und das individuelle Gefühl, wann und wie diese Grenzen verletzt werden. Ein Stück über Vertrauen, Machtgefälle und dessen Missbrauch.
Ich denke nach. Wie viel Wahrheit verträgt meine eigene Ehe? Wie viel Wahrheit vertrage ich selbst? Ist die Büchse der Pandora einmal geöffnet, gibt es kein Zurück. Nicht jede Wahrheit ist zumutbar. Es gibt sie, die unverantwortbare Wahrheit.

Die Wahrheiten von Lutz Hübner & Sarah Nemitz - von Annika Weber

Der Titel des Stücks lässt bereits erahnen: Hier geht es nicht nur um eine (unausgesprochene) Wahrheit, sondern um eine Vielzahl unausgesprochener Tatsachen, die das Kartenhaus der sozialen Beziehungen, in der die beiden agierenden Paare leben, zum Einsturz bringen lassen. Lutz Hübner und Sarah Nemitz decken in ihrem Schauspiel „Die Wahrheiten“ Machtdynamiken und Geschlechterstereotypen auf und lassen diese, gepaart mit Kommunikationsdefiziten, in einer zwischenmenschlichen Katastrophe enden. Das Stück ist sicherlich keine leichte Kost: Sophia Bodamer gelingt es in ihrer Inszenierung eine bedrückende, konfliktdurchtränkte Atmosphäre aufzubauen, die den Zuschauer das emotionale Dilemma der (weiblichen) Akteure in Zeiten der #Metoo-Debatte an eigener Haut erfahren lässt.

Den Auftakt des Schauspiels setzen die Autoren - ganz modern-digital - durch eine SMS, deren Inhalt die Aufkündigung einer langjährigen Freundschaft bedeutet: Erik (Marco Massafra) und Jana (Katharina Hauter) brechen den Kontakt mit Bruno (Michael Stiller) und Sonja (Marietta Meguid) ab. Die Bühne ist dabei minimalistisch gestaltet und erfüllt dennoch ihren Zweck: Wohnzimmerwände werden kraftvoll verschoben, während die Akteure sukzessive ihre eigenen Unzulänglichkeiten offenlegen.

Dabei bleibt dem Zuschauer nicht viel Zeit, sich in das Stück einzufinden: Der Zuschauer, gleichermaßen perplex wie das vor ihm agierende Paar Bruno und Sonja, ist sofort „in medias res“. Im ersten Akt darf man Bruno und Sonja dabei beobachten, wie diese versuchen eine Erklärung für diese „Unverschämtheit“ in Form der undankbaren SMS herauszufinden. Hier gelingt es dank Michael Stillers überzeugenden Spiels ein klares Bild von Brunos Charakter zu zeichnen: Das soziale Herrschaftsverhältnis, die Dominanz des Mannes über das offensichtlich „schwache“ weibliche Geschlecht findet in der Paarbeziehung zwischen dem gönnerhaften, emotional verrohten Macho Bruno und der offensichtlich unterlegenen und emotional/finanziell abhängigen Ehefrau, Sonja, ihren Ausdruck. Im zweiten Akt wohnt man dem Zwiegespräch von Erik und Jana bei, welches schließlich zum Versand der erwähnten SMS führt. Sophia Bodamer setzt hier das von Bruno bekannte Charakter-Muster, wenn auch in einer schwächeren Ausprägung, fort und lässt auch Erik als weiteren männlicher Vertreter (gespielt von Michael Stiller, dem man mitunter mehr Ausdrucksstärke wünscht) in keinem besseren Licht stehen. Katharina Hauter in ihrer Rolle als Jana vermittelt dagegen glaubhaft die Ohnmacht sowie das Gefühl des Unverstanden-Seins und Ausgeliefert-Seins gegenüber der männlichen Übermacht.

Die einzelnen Dialoge und die darin nicht geklärten Konflikte, unausgesprochenen Verletzungen und Missverständnisse entwickeln sich zum gefährlichen Selbstläufer, die schließlich in einer zwischenmenschlichen Katastrophe enden: Auch im dritten Akt erfolgt keine Aussprache auf Augenhöhe zwischen Mann und Frau. Stattdessen erlebt der Zuschauer ein Zwiegespräch zwischen den beiden Frauen auf der einen und beiden Männern auf der anderen Seite; Dialoge, die konträrer nicht sein könnten und von Unverständnis des jeweils anderen Geschlechts gekennzeichnet sind. Man geht nicht aufeinander zu, sondern driftet noch mehr auseinander.

Es steht außer Frage: In diesem Schauspiel begegnet sich keines der beiden Paare auf Augenhöhe, hier finden allseits die klassischen Rollenkonzepte ihren Ausdruck. Das Stück entlässt den Zuschauer mit dem Eindruck, dass letztendlich doch nur die „halbe Wahrheit“ ans Licht kam: Die Akteure selbst, gleich welchen Geschlechts, schaffen es nicht, sei es aus Eigenschutz oder Ignoranz, die emotionalen Konflikte auf den Tisch zu bringen und dauerhaft aufzulösen. Das stereotype, vorurteilsbehaftete Handeln von Frau und Mann wird hier auf die Spitze getrieben. Dies mag auf den Zuschauer durchaus verstörend wirken, zumal die Realität nicht in Form einer derart simplen „schwarz-weiß“ Darstellung abgebildet werden kann. Das Stück wirft allerdings ganz persönliche Fragen auf, die der Zuschauer nur mit sich selbst klären kann: Inwiefern bewege ich mich im sozialen (Macht-)Gefüge auf Augenhöhe? Verdrängen wir nicht alle ungeliebte Wahrheiten? Ganz klar: Sophia Bodamers Inszenierung will polarisieren – und das schafft sie auch.

Zu "Woyzeck"

Verzweiflung vor bunten Lichtern - von Bettina Krieg

Am Anfang sitzt Woyzeck auf der dunklen Bühne und starrt ins Leere. Eine Weile passiert nichts. Dann kommen fünf Kinder in bunten fransigen Kostümen und zünden einen Böller. Es knallt. „Still, alles still“, sagt Woyzeck, zu dem nicht mehr viel durchzudringen scheint.
In Zino Weys Inszenierung wird Woyzeck von einer Frau gespielt. Sylvana Krappatschs Woyzeck ist wie abgekapselt von der Realität. In weißer Hose und T-Shirt bewegt er sich wie ein Fremdkörper durch die Szenen. Er läuft mechanisch, oft steht er bloß am Rand und sieht dem Geschehen zu. Woyzecks Situation wirkt umso beklemmender, weil er zu keiner wirklichen Regung mehr fähig scheint. Fast ist man erstaunt, dass der Hauptmann ihn permanent dazu anhält, sich nicht immer so zu beeilen. Denn dieser Woyzeck ist eher erstarrt als gehetzt.
Auch wenn er auf seine Freundin Marie trifft, zeigt er kaum eine Emotion. Die Schultern nach hinten gezogen, den Blick leicht nach oben, die Arme schlaff am Körper hängend, so steht er ein paar Schritte von ihr entfernt und spricht in fahrigen, abgehackten Sätzen. Oft klingen seine Aussagen wie Fragen. Derart beziehungslos, wie Woyzeck und Marie sich gegenüberstehen, macht es keinen Unterschied, ob Woyzeck ein Mann oder eine Frau ist. Woyzeck spricht zwar immer wieder von der Natur, die in ihm sei. Doch seine Position ist zu schwach, und die Demütigungen, denen er permanent ausgesetzt ist, zu stark. Unter anderen Umständen könnte er so sein, wie es seiner Natur entspricht. In seiner aktuellen Lage ist das, was ihn als Menschen ausmacht, kaum mehr erkennbar.
Und die anderen? Auch für ihre Situation findet die Inszenierung ein verstörendes Bild: Zu Beginn des Stücks ziehen sämtliche Personen – Woyzeck ausgenommen – in einer Art Zombie-Prozession in gebückter Haltung im Zeitlupentempo über die Bühne. Jeder Einzelne quält sich damit ab, einen eigenartigen Lautsprecher vor sich herzuschieben. Dazu singt der Narr eine schleppende und zögernde Version des „Jägers aus der Pfalz“.
Während Woyzeck und Marie weiß gekleidet sind, tragen alle anderen bunte Kostüme. Die Camouflage-Hose des eitlen Tambourmajors ist sogar mit herzförmigen Pailletten besetzt. Die Farbe verleiht den Figuren jedoch keineswegs Lebendigkeit. Ob Hauptmann, Doktor oder der Tambourmajor: Die Inbrunst, mit der sie Phrasen von sich geben („Moral, das ist, wenn man moralisch ist“) macht sie zu Karikaturen ihrer selbst. Auch sie stehen sich oft entgeistert gegenüber. Beziehungen untereinander basieren ausschließlich auf einer brutalen Hackordnung, Der Doktor macht dies mit perfiden Worten deutlich, der Tambourmajor mit roher Gewalt.
Die Inszenierung setzt neben der Kleidung noch weitere farbige Akzente. Zum Beispiel auf dem Jahrmarkt, als es ein überdimensioniertes weißes Pferd mit rosafarbenem Behang zu bestaunen gibt. Und dann ist da noch dieses Netz mit den vielen bunten Lampen, vor dem sich ein Großteil der Handlung abspielt. Die Lampen blinken je nach Situation in unterschiedlichen Farben. Ist all das Bunte und Leuchtende ein Hoffnungsschimmer in Maries und Woyzecks weißer Welt? Oder ist es eher eine Anspielung auf das Märchen, das während des Stücks erzählt wird und in dem sich herausstellt, dass Sterne bei näherer Betrachtung bloß kleine goldene Mücken sind?
Marie jedenfalls will nach diesen Sternen greifen. Sie fordert ihr eigenes Glück, allerdings ohne genau zu wissen, was das sein soll. Ihr weißes Kleid hat einen Schleier, der bis zum Boden reicht, und eine Gürtelschnalle, auf der „Boy Toy“ steht. Genauso widersprüchlich wie dieses Kleid ist ihre Affäre mit dem Tambourmajor. Statt zu tanzen, führen die beiden einen Stierkampf auf, bei dem Marie schwer nach Atem ringt. Ob aus Begeisterung oder Erschöpfung, bleibt unklar. 
Als Woyzeck erfährt, dass Marie ihn betrogen hat, bietet sie ihm zum ersten Mal ein wenig Nähe an. Sie will ihm die Hand reichen. Woyzeck ignoriert das. Ihr Arm bleibt ausgestreckt im leeren Raum.
Der Wucht von Woyzecks Geschichte kann sich keiner entziehen. Und Zino Wey erzählt sie in eindrücklichen und schonungslosen Bildern. Hier bleibt jeder mit seiner eigenen Katastrophe allein. Von allem entfremdet, gerät Woyzeck in eine absolute Verzweiflung. Zu gerne möchte man mit ihm mitfühlen. Doch Sylvana Krappatsch spielt Woyzeck als einen, der keinen mehr an sich heranlässt. Wenn er jedoch in kurzen Momenten in ein kaum zu bändigendes Zittern ausbricht oder sein Blick noch verklärter und düsterer wird als sonst, dann ahnt man, wie sehr es in ihm schwelt. Und das, was sich nur vermuten lässt, ist bekanntlich viel monströser als etwas, das offen zutage tritt.

Georg Büchner »Woyzeck« - von Ulrich Huse

»Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinunterschaut.« Dieser Satz des armen Soldaten Woyzeck gleich zu Beginn der Stuttgarter Inszenierung des gleichnamigen Dramas bildet gewissermaßen das Leitmotiv der traurigen Geschichte, die der erst 22-jährige Georg Büchner 1836 niedergeschrieben hat.
Angeregt wurde Büchner durch den Mordprozess gegen den arbeitslosen Perückenmacher Johann Christian Woyzeck, der seine Geliebte erstochen hatte und dafür 1824 auf dem Leipziger Marktplatz enthauptet worden war. Vergeblich hatte die Verteidigung versucht,  die Unzurechnungsfähigkeit ihres stark depressiven Mandanten als strafmindernd anzuführen. Büchner übernahm den Familiennamen, die psychische Konstellation und die Tatausführung, nutzte den Stoff aber für eine umfassende Gesellschaftskritik: gegen das obrigkeitshörige Militär, eine menschenverachtende Wissenschaft und eine durch Armut brutalisierte Gesellschaft ohne jede Moral.
Büchner war alles andere als ein spätromantischer Dichter. Mit dem Blick des studierten Mediziners und Naturwissenschaftlers sezierte er die Gesellschaft des Biedermeier, in der die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – zu einem fernen Traum geworden waren. Dass der »Woyzeck« erst 1913 uraufgeführt wurde, lag aber nicht nur an seinem sozialrevolutionären Gehalt, sondern auch daran, dass er unvollendet geblieben ist, da der Autor Anfang 1837 an Typhus erkrankte und kurz darauf starb. Erst 1875 gelang es, die vier überlieferten Handschriften zu entziffern, sodass sie erstmals (auszugsweise) veröffentlicht werden konnten.
Die Textgestaltung des »Woyzeck« ist bis heute umstritten. Es gibt keine verbindliche Szenenfolge und so nimmt sich auch Zino Wey, Regisseur der Stuttgarter Inszenierung, die Freiheit, das Stück nicht mit der (viele Textfassungen eröffnenden) Barbierszene zu beginnen, sondern dem Titelhelden die alleinige Aufmerksamkeit des ersten Auftritts zuzugestehen. Überhaupt besteht das Stück aus vielen kurzen Szenen, die im Stil des Sturm-und-Drang-Theaters des späten 18. Jahrhunderts collagiert werden und Schlaglichter auf das Leben des Franz Woyzeck werfen, »Wehrmann und Füselier im 2. Regiment«, 30 Jahre alt und Vater eines unehelichen Kindes.
Dieser Woyzeck tut alles, um seiner geliebten Marie etwas Geld zukommen zu lassen: Er übernimmt Sonderdienste bei seinem Hauptmann (den Matthias Leja als widerspruchsvollen Charakter zwischen Offiziershochmut und Verzweiflung am eigenen Dasein darstellt) und verdingst sich als medizinisches Versuchsobjekt beim ruhmsüchtigen Doktor (von Sven Prietz als Karikatur eines zynischen Wissenschaftlers gegeben). Doch all das reicht nicht, um Marie ehelichen zu können – und die junge Mutter (von Paula Skorupa eher als verzogenes Konsum-Girl denn als verzweifelt nach etwas Lebensglück gierender Mensch gezeichnet) lässt sich nur zu gern vom Glanz des kraftvollen, sich seiner Körperlichkeit voll bewussten Tambourmajors (Sebastian Röhrle) verführen.
Dass Wey die Titelrolle mit Sylvana Krappatsch besetzt hat, erscheint gleichermaßen unnötig wie überzeugend: Unnötig, weil es hier nicht um die weibliche Interpretation einer klassischen Männerrolle geht, denn Franz Woyzeck bleibt auch bei Wey Soldat und Erzeuger eines kleinen Jungen. Überzeugend, weil Büchner nicht das Schicksal eines geknechteten Soldaten und betrogenen Mannes zeigt, sondern das Leiden der menschlichen Kreatur, von allen missbraucht, auf sich allein gestellt und ohne Hoffnung auf eine Zukunft. Krappatsch verleiht diesem armen Kerl eine Seele, macht seine Not sichtbar, weckt Mitleid. Und lässt Woyzeck wie jemanden erscheinen, der selber nicht weiß, wie ihm geschieht und warum er tut, was er tun muss. 
Die von Davy van Gerven gestaltete Bühne ist dunkel und leer. In Woyzecks Welt gibt es nichts als den Himmel mit seinen Gestirnen – und Töne, Töne, die sich in seinem Kopf zu Stimmen verdichten, die ihn bedrängen, verwirren – ihn aber auch klarer sehen lassen, wie armselig sein Dasein ist. Und die ihn letztlich dazu drängen, seine Marie zu töten. Nicht aus Eifersucht oder Verzweiflung, sondern aus Angst: Angst, das Einzige, was er liebt und wofür er lebt, zu verlieren.
Regisseur Wey gestattet sich einige, aufgrund der schwierigen Editionsgeschichte teils durchaus vertretbare Eingriffe in den Text: So erdrosselt Woyzeck seine Marie (statt sie, wie im Original, zu erstechen), folgt ihr aber nicht in den Tod (wofür es bei Büchner auch keinen eindeutigen Beleg gibt). Der traurige Held bleibt am Ende allein und verwirrt zurück – und ein wenig fühlen sich auch die Zuschauer so nach diesen 80 temporeichen, bildstarken Minuten, die Fragen stellen, ohne Antworten zu präsentieren. Denn jeder muss für sich selbst den festen Grund finden, der ihn trägt und nicht hinabstürzen lässt, wenn er mit Büchner einen Blick in das Dunkel des Abgrunds wirft, den wir das Leben nennen.

Zu "Ich seh' Monster (UA)"

Wo sind denn hier Monster? - von Jana Nolte

Nikko Weidemann erzählt im Foyer des Kammertheaters sein
musikalisches Leben und spielt Songs dazu an

Der junge Nikko Weidemann hängt im Berlin der 80er Jahre in Berlin unter anderem mit Blixa Bargeld und Nick Cave ab. Place to be ist die legendäre Bar „Risiko“ in der Nähe der Yorckbrücken. Eines Tages findet er Nick Cave fixend auf der Toilette. Beschämt, angeekelt, schockiert wendet er sich ab: Intensität schön und gut – aber das dann doch nicht. Der Arztsohn in Nikko Weidemann steigt aus. Cut. Neue Szene, nächster Song.

„My Name is Bobby Brown“, um die Begegnung mit Frank Zappa einzuleiten, Deep Purple und die Doors, um Hippiekultur und Traumwelt in der deutschen Provinz vorzuführen, „Roxanne“ von The Police für die erste große Liebe: In Songstücken und Textpassagen führt der Musiker Nikko Weidemann in die Vergangenheit, in seine Vergangenheit, die irgendwie ja auch die der Bundesrepublik erzählt. Geboren 1961 in der Nähe von Köln, zieht er Anfang der 1970er Jahre mit den Eltern in die nordhessische Pampa, weil der Vater dort Chefarzt in einer großen Reha-Einrichtung wird. In der neuen Schule fragt der Klassensprecher den aus seinen Zusammenhängen gerissenen Nikko, ob er ein Junge oder ein Mädchen sei. Nikkos Heimat ist ab jetzt die Musik. Schon vorher war er durchgängig für Musik, erst die der Mutter, dann die des großen Bruders, ab der Pubertät beginnt die eigene Identitätsfindung.

So weit so normal für unzählige Teenager-Geschichten dieser Zeit, illustriert durch Schlaghosen und Polyester-Ringelpullunder, Frisuren mit runden Ponys und Bonanza-Räder. Was Nikko unterscheidet ist, dass er Nägel mit Köpfen macht, dass er nicht nur Talent und Lust und die nötige Disziplin mitbringt, sondern dass er dahin geht, wo die Dinge Realität werden, zu den Leuten, die Musik (aus)machen. Initiation ist seine Begegnung mit Frank Zappa, die ihm nicht passiert, sondern die er sucht, indem er sich vor einem Konzert in Frankfurt frech in den Soundcheck mogelt. In den 80ern muss Nikko in Berlin sein, und nicht nur einfach in Berlin, sondern in Kreuzberg, in den 90ern in New York, nach dem elften September – den Angriff aufs World Trade Center sieht er vom Küchenfenster aus. Wieder Berlin. Er trifft und arbeitet mit Leuten wie Rio Reiser, den Einstürzenden Neubauten, Yoko Ono, Nena, DJ Motte. Er selbst ist in der Berliner Musikszene eine feste Größe, aber keine Berühmtheit.

Der Abend steuert in die Gegenwart – Tom Tykwer beauftragt Nikko Weidemann, die Musik für seine epochale Verfilmung„Babylon Berlin“ zu schaffen – und auf seinen Höhepunkt zu: Weidemann schreibt den Song „Zu Asche, zu Staub“, der es über den Film hinaus in die deutschen Charts schafft. Tatsächlich ist die Entstehung des Liedes der erzählerisch packendste Teil der Veranstaltung. Wie Weidemann mit seinem Partner an einem Abend genialisch das Stück in die Welt wirft, in dem alles zusammenläuft: die Tonalität der russischen Großmutter, die hysterische Lebenslust der Nachkriegsjahre, wie sie dem kleinen Nikko von der Mutter erzählt wird (sie liebt ein russisches Lied, das später auf Englisch u.a. von Paul McCartney als „Those were the days“ interpretiert wird), Berliner Zeitgeschichte, Techno-Ekstase, das alles rauschhaft sich steigernd „Zu Asche, zu Staub“. Der Subtext von „Ich seh’ Monster“ müsste lauten: Wie aus meiner Vita der Hit „Zu Asche, zu Staub“ entstand.

Wie die Idee zu diesem Abend wohl zustande kam? Eingerichtet hat ihn Tom Stromberg, ehemaliger Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, der heute regelmäßig musikalische Abende mit Schauspielern inszeniert. Es lässt sich vorstellen, dass also Tom Stromberg mit Nikko Weidemann zusammen saß, bei einem Glas guten Whiskysund Weidemann ihm erzählte, wie es dazu kam, dass er für Tom Tykwer diesen Song schrieb. Und dann – mehr Whisky – folgen noch viele andere Anekdoten aus seinem Leben. Ob es so oder so ähnlich war, erfährt man nicht, und es ist vielleicht auch total egal. Vielleicht aber auch nicht. Denn was als Anekdoten einer durchsoffenen Nacht mit Menschen, die man mag, und einem Keyboard und zwei Gitarren in Reichweite als Offenbarung erscheinen könnte, ist es als Bühnenprogramm nicht zwangsläufig. Bei allem Respekt vor seinem enormen musikalischen Können, ein begnadeter Entertainer ist Nikko Weidemann nicht. Er erzählt als er selbst, manchmal stockend, reißt dazu Titel an, zitiert sie, bricht sie ab – nichts spielt er aus. Ob James Brown, Led Zeppelin, selbst die eigenen Stücke: Er zeigt rein deskriptiv, dass sie eine Bedeutung für sein Leben hatten. Für sein Leben. Und darüber hinaus? Möglichkeitsräume, Sehnsüchte, Visionen? Intensität schön und gut – aber das dann doch nicht. Cut. Neue Szene, nächster Song.

Zu "Iwanow"

Die Mehrdimensionalität unseres Daseins - von Stefanie Steible

Dieser Tschechow ist nicht nur modern, sondern seiner Zeit voraus und zugleich rückführbar in das Russland Ende des 19. Jahrhunderts. Robert Icke gelingt es, mit seiner Bearbeitung neben der Ebene des kranken Ichs verschiedene andere Themen herauszuarbeiten, die einen über zweistündigen Theaterabend entstehen lassen, der seine Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute fesselt.

Die Hauptfigur Nikolas Hoffmann alias Iwanow (überzeugend in die Moderne versetzt von Benjamin Grüter) kämpft mit sich, gegen sich, sucht ständig neue Ausreden ob seines finanziellen Desasters, der Langeweile seines Lebens und der Öde seiner Ehe. Eine moderne Midlife-Crisis, die ihn nicht plötzlich überkommt, aber der er mangels Vertrauens in Ärzte und seines Umfeldes hoffnungslos ausgeliefert ist. Ob er seine ehemals jüdische Frau Anna wirklich nur aus monetärem Interesse geheiratet hatte, bleibt unbestimmt. Dass er mit ihrer Krankheit nicht umgehen kann, sie mit ihrem jungen Arzt allein lässt, wodurch er sich noch schlechter fühlt, sich aber dennoch keinen Millimeter auf sie zubewegt, macht betroffen und traurig zugleich.

Genauso zwiespältig bleibt die Liaison mit der reichen Sascha, Tochter seines besten Freundes Lehmann (im Original Lebedew). Ja, ihr Freigeist verliebt sich in die einsame Seele des erfolglosen Intellektuellen, den sie retten möchte, aber er nimmt diese Liebe an und zerstört innerhalb kurzer Zeit alle Perspektiven dieser blühenden jungen Frau.
In einer weiteren Ebene werden die klassischen Rollenbilder behandelt. Die starke russische Frau im Gegensatz zum trinkenden, kartenspielenden, Geld verprassenden Mann…bildlich gesehen finden wir dies auch in unserem modernen Alltag wieder. Die offene Gesellschaftskritik, die auch der ergraute Mann mit der halb so jungen Frau symbolisiert, äußert sich darüber hinaus in offenem Misstrauen gegenüber angesehenen Berufen: „Die Ärzte sind wie die Advokaten, mit dem einen Unterschied, dass die Advokaten einen nur berauben, während die Ärzte einen berauben und totschlagen.“ Starke Worte.

Icke gelingt es, all diese Dimensionen auf die Bühne zu bringen. Das kleidet er in starke, eindringliche Dialoge. Hildegard Bechtler schafft durch ihr geniales Bühnenbild auch optisch einen Rahmen, der lange nachwirkt, besonders in der inhaltlich erwartbaren, aber in der Ausführung unerwarteten letzten Szene. Auch hier wird noch einmal die geflutete Bühne genutzt, die zuvor beispielsweise dazu diente, die Annäherung zwischen Sascha und Nikolas aus ihrer parallel stattfindenden Geburtstagsfeier zu visualisieren, ein famoser Schachzug, unterstützt durch das Ein- und Aussetzen der Partymusik. Gleichermaßen symbolisiert das Wasser die Ausweglosigkeit der Situation von Niklas und das Gefangensein in seiner Rolle.

Die Besetzung der weiblichen Hauptrollen mit Paula Skorupa (Anna), die die Zerbrechlichkeit ihrer Figur zum Anfassen nahebringt und der energiegeladenen Nina Siewert (Sacha) bilden ein exzellentes Pendant zu Nikolas. Schauspielerisch, aber auch optisch, eine sehr gelungene Wahl, die durch einfache, aber symbolträchtige Kostüme unterstützt wird.  

Zu "Schäfchen im Trockenen (UA)"

Vernunft und Wut - von Maria Walter

Die Schäfchen ins Trockene bringen, gut für sich und die Familie sorgen. Schwer, wenn die Wohnung gekündigt wird und die „Abwanderung“ nach Marzahn droht. Und wenn gleichzeitig alte Freunde verloren gehen, für die die Armut der Künstlerfreunde zum willkommenen Unterscheidungsmerkmal wird. Was bedeutet unsere Herkunft, was heißt Freundschaft und Familie? Wann gelten welche Regeln?

Vor ein paar Monaten habe ich das Buch gelesen. Dem Sog des Negativen konnte ich mich kaum entziehen. Jetzt eine Bearbeitung des Romans von Sabine Auf der Heyde und Carolin Losch. Auf der Besetzungsliste stehen drei Frauen und ein Mann. Kann das zu viert funktionieren? Ein männlicher Darsteller soll in alle männlichen Rollen schlüpfen? Es funktioniert. Und zwar hervorragend. Und noch mehr: Nicht nur Sven, Ulf, Frank, Christian, Sohn, Pfarrer, Bayerischen Onkel und Verleger nehme ich Sebastian Röhle voll und ganz ab, auch die Großmutter und Renate.
Es macht es einfach Spaß, Röhrle, Dörr, Krappatsch und Hauter dabei zuzusehen, wie sie die Rollen wechseln. Manchmal synchron agieren und quasi parallel Dinge tun – vor allem rauchen. Immer gemeinsam. Ein Team sind, sich die Sprach-Bälle gegenseitig zuspielen. Überhaupt: Spielen – leicht und mit sichtlichem und spürbarem Vergnügen, das sich auf das Publikum überträgt. Sich die Worte gegenseitig aus dem Mund nehmen, Hintergrundinformationen liefern, Erzähler sind.
Die Sprache ist präzise und fein – und passt sich den Szenen an. Eher feinzüngig als poetisch, doch stellenweise auch das – oder ist auch das ein Job, eine weitere Pflicht als Eltern, „Küchengeräte und Erinnerungen“ zu tragen? Sie singen auch – mehrstimmig. „Sorgsam in Seide gekleidete Sopranistinnen“ gibt es in der Lebenswelt der Figuren eher in der Fraktion der Erben. Dass es ziemlich viele dieser „Lager“ gibt, wird auch schnell deutlich. Da sind nicht nur die Erben und die, die dazugehören wollen und neidisch sind. Es ist komplizierter; es gibt auch die, die ihr Anderssein feiern und die, die sich gar keine Gedanken darüber machen. Alle tragen schlichte Overalls. Simple Zeichen, Jacken, Perücken, Brillen, zeigen die Veränderungen an.

In einem Ping-Pong der Worte, Halbsätze und Sätze, währenddessen man kaum jemanden atmen hört, präsentieren die vier zu Beginn die Konstellationen zwischen den Paaren, die das gemeinsame Wohnprojekt planen und sich von ihrer Freundin und deren vernichtendem Blick lossagen. „Und dann bleibt natürlich die Frage, wem diese Aufzählung nun etwas genützt hat“, schließen sie. Weil ich das Buch kenne, kamen mir all die Namen vage bekannt vor. Aber auch das gefällt mir an diesem Abend: Auch ohne die Details versteht man das Problem. Nicht einmal im Programmheft findet sich eine Personenliste oder eine klassische Inhaltsangabe. Dafür geht es gleich um die Fragen von Wohnen, Chancengleichheit, Postmoderne und die neue deutsche Erbengesellschaft. Alle Figuren auf dieser Bühne sind Beispiele, gute Beispiele, die man zu kennen meint. Stellvertreter aber keine Karikaturen – trotz schwäbeln und betont breitem Pfarrer-Grinsen.

Schon nach kurzer Zeit erkennt man als Zuschauer die Figuren wieder. Die trotzige Tochter Bea, von Therese Dörr unglaublich detailliert geformt. Die keinen Markenrucksack hat und eine Freundin haben will. Eva, die nicht versteht, warum ihre Borniertheit jemanden abschrecken sollte (Katharina Hauter) und natürlich Sylvana Krappatsch, die als einzige nicht die Rolle wechselt, sondern Resi bleibt und ihre Stellung auslotet, wütend, zornig, verletzt; die mit unglaublicher Energie und Präsenz das Spiel des kleinen Sohnes zeigt, ebenso wie den „offenen Egoismus“ Resis, der alle anderen zur Selbstverortung zwingt und sie wegtreibt von ihr, die aus dem Netzwerk gelöscht wird.

Viele kluge Sätze möchte ich am liebsten notieren. Eine Fassade etwa, „die ab einem gewissen Grad der Überforderung nur noch mit Publikum aufrecht zu erhalten ist.“ Die Szenen fließen leicht ineinander. Ein Abend aus einem Guss, auch wenn inhaltlich alles gerade auseinanderfällt. Nur einmal hatte ich – sehr kurz – das Gefühl „Jetzt reicht es aber mal langsam mit dem Rumgeschreie und wütend sein“. Aber nicht, weil die Wut unangebracht gewesen wäre, sondern weil sie eben anstrengend ist und nicht so einfach verschwindet.

Ich vermisse ein paar meiner Lieblingsdetails aus dem Buch. Der Skiurlaub. Was dann wirklich in den Herbstferien passiert. Die Typisierung der Männer anhand der Schuhe, die sie tragen und die Dosenravioli. Trotzdem fehlt nichts im Gesamtbild. Und dann kommt auch ganz schnell das Ende, der Auszug aus der gekündigten Wohnung. Die Schäfchen ziehen weiter.

Ein grandioser Text, eine unglaublich lebendige Inszenierung. So einfach es ist, sich von den Emotionen der Figuren mitreißen zu lassen, so vielfältig sind die Fragen, sie sich aus dem Abend ergeben. Angefangen vom Genre (Warnung? Anklage? Wutrede? Es tut ein bisschen weh, dass es keine Satire ist), die Identität der Figuren (wie groß ist die Sehnsucht, dazuzugehören, wirklich?), über das Milieu. Was ist mit der stillen Vernunft der Mütter und der lauten Wut der Töchter? Wer hört wem zu und warum? Fest steht: Über diese zwei dichten Theaterstunden kann man viel reden. Vielleicht ja in der S-Bahn in den weiter entfernten Vorort.

Zu "Last Park Standing"

Fernbeziehung. Kämpfe. - von S.G.

Auf der Bühne des Kammertheaters steht ein gläsernes Terrarium. Seine drei Segmente, die äußeren schräg zueinander angeordnet, das mittlere mit Drehtür, spiegeln vor Beginn das Publikum zumindest schemenhaft. Hinter dem Glas herrscht Dämmerstimmung inmitten halbhoher Fauna, wie sie auch in unseren Wohnzimmern zu finden ist. Links eine Kammer mit Couch, rechts eine Kammer mit Bett. Auf der Couch sitzt Umut, untrennbar verbunden mit dem Smartphone, auf dem Bett Janina in derselben Pose, und damit sind bereits die vier Hauptfiguren eingeführt. Über diesen Lebensräumen ist zu Beginn des Stücks Ebru Nihal Celkans Bitte zu lesen, auf das zu achten, was weder zu sehen noch zu hören sein wird.
Wir sehen und hören den ganzen Abend über im Wesentlichen zwei Kämpfe: Einen um eine Fernbeziehung zwischen Umut in Istanbul und Janina in Berlin und einen um Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen in Istanbul und Berlin. Video-Einblendungen erinnern an die Proteste vieler Tausender Menschen gegen die Bebauung eines Parks und den Umgang der Staatsgewalt mit diesen Protesten, in dessen Folge es zu Festnahmen und Verdächtigungen durch staatliche Stellen kommt.
Wie die Einschüchterung wirkt und was sie alles bewirkt, wird hinter den Glasscheiben der Terrarien nachempfunden: Hyänen, Gaspatronen, Festnahmen, Angst um einander, Sorge vor Abhörung, Berufsverbote, Neuorientierung der beruflichen Absichten und und. Besonders deutlich dargestellt finden sich die Brüche in Ahmed, bestbefreundet, mitstreitend, mitkämpfend, mitprotestierend mit Umut. Nach dreimaligem Gefängnisaufenthalt und Vergewaltigungen in der Zelle ist von Ahmeds anfänglich jugendlichem Enthusiasmus nur noch Bruch und seelische Verletzung übrig, jeglicher Körperkontakt ist unmöglich geworden, keine Hoffnung ist mehr zu spüren.
Die Handlung springt immer wieder zwischen den Jahren von 2013 bis 2018 hin und her, vor und zurück, sodass sich die Geschichte fragmentiert entwickelt, so fragmentiert, wie es in modernem Kommunikationsverhalten üblich ist: Eine Sprachnachricht hin, verzögerte Antworten und neue Themen zurück, dazwischen Warten auf Neuigkeit und Innigkeit auf allen Seiten. Dies ist auch das Spielprinzip des Stücks, das mit Video-, Sprach- und Textbotschaften die Räume zwischen Park und Kammer, zwischen Istanbul und Berlin versucht zu überbrücken. Die Handlung ist oft medial vermittelt, die Darstellung ebenso: Live-Video-Sequenzen aus dem Dickicht im Terrarium überbrücken den Sehraum zwischen Bühne und Publikum, Ton-Übertragungen überwinden die Glaswand des Terrariums.
Der zweite Kampf scheint jedoch der hauptsächliche. Janina kommt im Rahmen ihres Astrophysikstudiums nach Istanbul und lernt beim vergeblichen Suchen der Adresse einer zugewiesenen Studentenbude Umut kennen und daraufhin auch lieben. Zärtliche Stunden und mit anderen gemeinsamer Protest in genau dem Park, der durch die Regierung zur Dispositon gestellt wird, bringen die beiden zueinander. Unterschiedliche Lebenswirklichkeiten dann aber wieder auseinander, indem Janina zurück muss nach Berlin, wohin Umut freilich auch zu Besuch kommt. Ein Leben in Berlin kommt für Umut aber nicht in Frage, denn einerseits fühlen sich die Sozialkontakte in Istanbul und der Kampf um Freiheiten dort so stark verpflichtend an, dass sie nicht für länger zurückgelassen werden können, andererseits sei in Berlin alles ganz klein und geordnet, "die Zeit fließt nicht".
Janina scheint mehr um die Beziehung zu kämpfen, mehr zu leiden. Über das Jahrestagsgeschenk eines Taschentelekops freut sich Janina sehr, das Gegengeschenk eines Fahrrad stellt Umut jedoch vor das Problem, wie es nach Istanbul transportiert werden kann. Freilich hat Janina anderes im Sinn, das Fahrrad ist als Verkehrsmittel für Berlin gedacht, doch Umut kann und will nicht dorthin ziehen, kann nicht den Kampf in Istanbul einfach hinter sich lassen: "Revolution oder Liebe – ich will beides." Zwar scheinen die beiden sehr glücklich aneinander und miteinander sein zu können, doch können beide nicht ihr seitheriges Leben verlassen, um am anderen Ort ein neues zu beginnen. Was sie haben, daran wollen sie festhalten, mitunter auch recht krampfhaft. Auf die Videonachrichten und Sprachnotizen angesprochen teilt Umut mit, dass es darum gehe, eben auch, die Dinge festhalten.
"Umut" bedeutet "Hoffnung", "Janina" "Geschenk Gottes", so erfahren wir. In Erfüllung gehen diese Erwartungen jedoch nicht, die Fernbeziehung mit ihren gegenseitig unerfüllten Wünschen zerbricht. Entlassen werden wir zwar mit dem hoffnungsvollen Beginn derselben, was der Zeitstruktur auf der Bühne geschuldet ist: Die beiden ziehen sich in ein Zelt im Park zurück, im Juni 2013.
Die Bilder von Protesten kenne ich aus den Medien und Fernbeziehungsprobleme sind mir auch nicht fremd, insofern bietet der Abend nicht viel Neues für mich, auch nicht in der Verquickung beider Themen. Manche Bilder finde ich recht hübsch: Den roten Teufel im Dämmerlicht des üppig grünen Terrariums zum Beispiel.
Was höre ich? Riders On The Storm von The Doors. Ein schöner Moment. Aber was sehe ich nicht?

zu "Die Marquise von O…"

Hier – spielen die Kinder nicht (mehr) - von Christine Kohler

Das fabelhafte Spiel der Kinder der Marquise von O…. im Schauspiel NORD

Hier – Gedankenstrich – sind zunächst zwei alternde Kinder. Hier – sitzen sie stumm in ihrem Kinderzimmer, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Eine abgeratzte Tapete mit aufsteigenden Ballons erinnert an die Illusionen, die die Kinder einst hier gelebt haben. Das Zimmer ist ein großer Sandkasten, in dem Finger- und Versteckenspiele an die darin gelebte Kindheit erinnern lassen. Der Bruder strickt, die Schwester putzt ihre Tuba, die Micky Maus wird aus dem Sand gebuddelt. Alles soweit normal? Eher nicht.

Denn mit dem Eintreten der weiteren Schwester wird die Szene auf Real gebürstet. Nun beginnt das Spiel zu Dritt. Drei Geschwister spielen die Marquise von O…. – gleich vier Pünktchen hat Heinrich von Kleist Anfang des 19. Jahrhunderts hinter die Überschrift seiner Erzählung gesetzt.
Die Geschichte geht nach Kleist zunächst einmal so: Die Marquise hat bereits zwei Kinder – im Schauspiel werden sie als Schwestern gespielt -, als ihr Mann, der Marquis, von einer Geschäftsreise nicht zurückkehrt. Sie kehrt als Witwe mit beiden Kindern ins Haus Ihres Vaters, dem Kommandanten von G., zurück. Im Gefolge Napoleonischer Kriegswirren wird die Marquise in einem Seitentrack der gestürmten und brennenden Zitadelle stumm und bewusstlos vergewaltigt von dem russischen Offizier Graf F.. Kleist beschreibt die entscheidende Szene der Novelle nur kurz mit „Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, dass sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück.“
Der Graf F. erscheint der Familie doch zunächst als Retter, da er die marodierenden Soldaten in die Schranken weist.
Die Folgen der Vergewaltigung werden allmählich im Laufe der Monate entdeckt. Die Marquise – sie ist sich keiner Schuld bewusst - muss wegen der Familienschande das väterliche Haus verlassen. Sie zieht sich mit Ihren Kindern auf ihren Landsitz zurück. Mit einer Annonce in einschlägigen Zeitungen sucht sie nach dem Vater des Kindes, als der sich unmittelbar der Graf  F. bekennt. Der Graf bereut sein Tun herzzerreißend, die Ehe wird nach einigen vorausgehenden Turbulenzen letztlich geschlossen. Die Geschichte geht bei Kleist gut aus, in der Folge weitere Russenkinder inbegriffen.

Soweit Kleist, soweit die damalige Ständegesellschaft des Adels und soweit von außen betrachtet. Die Innensicht im hier und jetzt wird im Schauspiel aus der Perspektive der Kinder gespielt. Nun spielen sie zu Dritt nicht Versteckspiel, sondern das Spiel der Aufdeckung, und die brutalstmöglich. Lena Stamm spielt die Rolle der investigativen Zerstörerin der Kinderglückseligkeit furios als älteste Schwester. Empathisch wechselt sie die Seiten, mal Mutter, mal Schwester. Wie besessen schildert sie die Szene der Vergewaltigung und schippt den Sandkasten leer, in dem immer noch die Illusionen der Kindheit liegen.
Die Dramaturgie setzt hier genial die Originaltexte der Novelle von Kleist in direkter und indirekter Rede ein.
Die jüngere Schwester, gespielt von Noelle Haeseling, ist nahezu inzestuös dem Stiefbruder verbunden. Sie schwankt in ihrer Zuneigung zwischen den Geschwistern und schwankt auch in der Aneignung der Realität, der Vergewaltigung. Mal spielt sie die Marquise, die vom Vater nach der Verstoßung mit verstörender Liebe wieder aufgenommen wird, mal ist sie die zwischen den Geschwistern hin und hergerissene Schwester - szenisch und pantomimisch gibt sie eine starke Vorstellung.
Im geschwisterzerreissenden Mittelpunkt aber steht der junge Bruder, gespielt von Joseph Cyril Stoisits, das Kind der Vergewaltigung, ohne Bewußtsein der Schuld seines Vaters. In Burgtheater-Hochdeutsch wechselt er famos die Rollen und Perspektiven. Er spielt den Bruder mit inniger Kindlichkeit, Arglosigkeit, Verträumtheit. Er spielt den Grafen F., wie er die Marquise vergewaltigt, wie er um sie wirbt, wie er bereut und letztlich erhört wird. Er spielt in einer Badewannenszene den Vater der Marquise, wie er inzestuös seiner Tochter nach der Versöhnung seine Zuneigung offenbart. Er spielt aber zuletzt den Wahnsinn, der ihn ergreift, als er begreift, was damals nicht gespielt, sondern verspielt wurde. Die zarte, im tiefsten Seelengrund verletzte Kinderseele, kann die Realität der eigenen Existenz durch Vergewaltigung nicht zulassen und wird verrückt. Aus die Maus: das Spiel ist aus, die Micky Maus wird wieder zugebuddelt.
Hier – endet das Stück und der Zuschauer ist betroffen von der Brutalität des Geschehens und den abgrundtiefen Weiterungen in den Tiefen der unsichtbaren Seelen.

Kleist hat die im wahrsten Sinne fabelhafte Vorlage geschrieben, die von der jungen Zita Gustav Wende beeindruckend in Szenen gesetzt wurde. Überhaupt sind hier fast alle noch ganz jung – Schauspieler*innen, Dramaturgin, Bühnenbild, Regieassistenz. Das lässt hoffen auf weitere beeindruckend nachhaltige Schauspielabende.

Zu "Der satanarchäolügenial-kohöllische Wunschpunsch"

Ein lohnender Theaterbesuch - von Andrea Jacoby

„Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“, Michael Endes märchenhafter Umweltkrimi, spricht neben Kindern auch Erwachsene an und sensibilisiert die Zuschauer für unseren Umgang mit der Erde, dem Klima, mit Tieren, mit Menschen, miteinander.
Die Premiere im Stuttgarter Schauspielhaus am 20. Oktober 2019 zeigte das 1989 erschienene und bereits 1990 mit dem Buchpreis „La vache qui lit“ ausgezeichnete Stück in einer Form, die die Theatergäste mit stürmischem Applaus würdigten – und das zu Recht.
Prof. Dr. Beelzebub Irrwitzer (Reinhard Mahlberg) hat bis zum Jahreswechsel nur noch wenige Stunden Zeit, um seinen Verpflichtungen, der Welt zu schaden, nachzukommen. Ansonsten droht die Pfändung und die Fahrt zur Hölle, was ihm noch einmal eindrücklich durch Maledictus Made (Amina Merai), einen Abgesandten der Äußersten Finsternis,  in Erinnerung gerufen wird. In seinem Haushalt lebt Maurizio di Mauro (Jannik Mühlenweg), den er - krank und abgemagert durch den Verzehr eines vergifteten Fisches - aufgepäppelt hat, der aber ein Spion des Hohen Rats der Tiere ist. Herein platzt Jackie Krakel (Celina Rongen), eine zerzauste Krähe, die durch eine Giftwolke ihr Federkleid fast gänzlich verloren hat. Sie will gemeinsam mit Maurizio das Schlimmste verhindern. Denn Irrwitzers Tante Tyrannja Vamperl (Gabriele Hintermaier), bei der Jackie lebt, ist eine Geldhexe, die zusammen mit ihrem Neffen das schreckliche Unheil über die Erde herbeizaubern möchte – mit Hilfe des Wunschpunsches. Sie ist Mammon, dem Infernalischen Finanzminister, verpflichtet und ebenfalls von der Pfändung bedroht. Glücklicherweise ist da noch der Heilige Sylvester (Amina Merai), der die Tiere unterstützt und ein gutes Ende wie im Märchen möglich macht.
Patricia Benecke ist die Inszenierung gelungen. Mitreißend und niemals langweilig der Inhalt, schlicht das große Bühnenbild von Monika Frenz, bunt und vielseitig dagegen die Giftküche, an ein Wimmelbild erinnernd, mit vielen lustigen und interessanten Details wie massierenden Händen, sich bewegendem Mammutkopf und Schwertfisch, Wänden, durch die man gehen kann und weiteren schönen Facetten.
Die Kostüme von Gwendolyn Bahr sind wunderbar, teils schrill (die leuchtenden Schuhe von Frau bzw. Herrn Made sind ein echter Hingucker und es ist ein fast akrobatisches Kunststück, in ihnen laufen zu können), teils plüschig wie der Kater, dessen Wackelohr das Publikum begeisterte. Auch das bunte Outfit des Professors und seiner Tante sind ein Fest für die Augen des Zuschauers, der nicht zuletzt seine Freude am eindrucksvollen Kostüm der Krähe hat.
Auffällig deutlich ist die Sprache der Schauspieler. Angenehm, wenn man sich nicht anstrengen muss, um alles zu verstehen. Selbst die schwierigsten Wortgebilde und auch der Gesang werden elegant gemeistert. Ton hervorragend, anspruchsvolle Bühnentechnik, szenisch sehr gut beleuchtet, Maske außergewöhnlich.
Alle Darsteller spielten ansprechend und kreativ, herausragend Celina Rongen als Jackie. Eine hinreißendere und überzeugendere Krähe ist kaum vorstellbar, Celinas Spiel ist sehr lebendig und faszinierend. Sie lebt die Rolle hingebungsvoll und begeistert damit die Zuschauer. Amina Merai fällt mit den beiden ungewöhnlichen Rollen als Frau/Herr Made und Heiliger Sylvester auf, die sie sehr gut verkörpert. Die Raufszenen zwischen Kater und Krähe sind schön, ein wenig mehr Katzenhaftigkeit würde Jannick Mühlenwegs Rolle noch besser stehen. Reinhard Mahlberg und Gabriele Hintermaier spielten engagiert und dynamisch ihren anspruchsvollen Part.
Das Stück spricht von Freundschaft, von Vertrauen, Lüge und Vergebung, von Mut und unserer Umwelt, dem Klima, der Großfinanz, der Industrie, dem Wichtigen und dem Unwichtigen im Leben. Die Darsteller haben dies eindrucksvoll verkörpert und dem Zuschauer nahegebracht. Für Kinder wie Erwachsene ist dieses Stück sehr gut verständlich und unterhaltsam.
Die Besetzung spielte vor vollem Haus, sehr viele Kinder, Eltern und Großeltern im Publikum. Die Atmosphäre im Schauspielhaus war locker und entspannt. Alles spricht für einen vollen Erfolg. Empfehlenswert für alle Altersgruppen ab Schulalter.

Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch - von Beate Schimpf-Kuntze

16h40: Theaterangestellte im Foyer des Schauspielhauses verwandeln sich in skurrile Tierwesen. Sind Maurizio und Jackie schon unter uns?
17h01: Ein Raunen geht durch das junge Publikum, als mit rauchendem Getös‘  das labyrinthisch anmutende Zauberlabor von Irrwitzer sich aus der Tiefe des Bühnenbodens emporschiebt. (Bühne: Monika Frenz)  Hier wütet Beelzebub Irrwitzer zusammen mit seiner Tante Tyrannia Vamperl, die beide - mächtig unter Zeitdruck - die Umwelt noch kurz vor Silvesternacht zerstören wollen.
In den folgenden 80 Minuten  gelingt es dem Team des Schauspielhauses auf und hinter der Bühne, die kleinen Zuschauer in die Phantasiewelt hineinzuziehen. So wackelt und knallt und raucht und fackelt es aus vielen Ecken und Löchern, wenn Tyrannia (Gabriele Hintermaier) ihre Wut abfeuert und Irrwitzer (Reinhard Mahlberg) hektisch in seinem Labor herumfuhrwerkelt. Beide bilden ein grandioses Spielerteam - bös‘ und komisch zugleich.
Gut, dass die Gegenspieler Maurizio (mit staunenden Augen Jannik Mühlenweg) und Jackie Krakel (rabenkomisch und todesmutig Celina Rongen in einem liebevoll befederten Rabenkostüm von Gwendolyn Bahr) das Unheil verhindern können.
Dass dafür alle technischen Finessen eingesetzt werden, versteht sich von selbst, denn für das Schauspiel Stuttgart ist Kinder - und Jugendtheater eine Herzensangelegenheit; da wird nicht gespart, sondern geklotzt. Gut so!  Da können wir, als das Zauberduo den schlimmen Wunschpunsch mischt, den schillernd-wechselnden Farben im Saalhimmel nachschauen. Ein toller Effekt! (Licht: Adrian Groß) Auch die Galeristen sind aktiv: Sie lassen Tyrannia von oben herab, und in der Kirchturmszene agieren Maurizio und Jackie in luftiger Höhe, zusammen mit dem Retter Sylvester. (Amina Merai in der Doppelrolle, spinnen-elastisch als Made)
Nun, das 1989 erschienene Märchen von Michael Ende geht gut aus, wie es sich für ein Märchen gehört. Auch das ohne Pause inszenierte Familienstück (empfohlen ab 6 Jahren, meiner Meinung nach eher ab 8 Jahren geeignet) hat ein gutes Ende: Die Welt wird gerettet und ist schöner denn je. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Michael Ende hat vor 40 Jahren schon gewusst: „Wenn Geldhexen und Laborzauberer sich zusammentun - dann wird’s ehrlich finster in der Welt.“ Was und wen er wohl damit gemeint hat?
18h25: An der Bar wartet, der zauberischen Kraft beraubt, ein knallbunter Wunschpunsch. (Honi soit, qui mal y pense.)

Zu "Italienische Nacht"

Kritik zu "Italienische Nacht" - von Leo Hanel

Etwas spät bin ich. Ich hetze über den Schlossplatz, dann ins Theater. Als ich sitze, kann ich durchatmen. Noch rechtzeitig. Die Stimmung ist angespannt. Eine aufgeregte Premierenstimmung. Das Stück die „Italienische Nacht“ von Ödön von Horvárth spielt 1930 im oberbayrischen Murnau. Ob er damals schon wusste, wie aktuell sein Werk wirklich ist? Dass drei Jahre später der Faschismus an die Macht kommen würde? Und wie aktuell es auch heute, fast 100 Jahre später, noch sein würde?

Das erste Bühnenbild wirkt düster. Nebel, Biertische und Bierbänke, die die ganze Bühne ausfüllen. Es erinnert an ein verlassenes Oktoberfest. Ob das eine gute Inszenierung wird, wenn ich jetzt schon an Oktoberfest denken muss? Das Szenenbild bleibt das ganze Stück über bestehen. Keine großen Umbauten, die ablenken, keine unnötigen Effekte, die Fragezeichen hinterlassen. Der Fokus wird hier auf das Schauspiel und den Inhalt gelegt. So sollte Theater sein. Bin ich froh, irgendwie hatte ich mich auf etwas anderes eingestellt.
Alles beginnt in der Bar von Josef (Klaus Rodewald). Hier sind die Republikaner (in diesem Stück die Linken), Stammgäste. Sie reden über ihre bevorstehende italienische Nacht. Draußen marschieren Faschisten. Uneins darüber, wie ernst diese zu nehmen sind, kommt es zu Auseinandersetzungen. Im Großen und Ganzen geht es darum: auf der einen Seite um den bedrohlichen Faschismus, der im Land weiter Zuwachs findet und stärker wird und auf der anderen Seite um die Republikaner, die sich nicht einigen können, zersplittern und Machtspiele untereinander ausfechten.

Während der Stadtrat Ammetsberger (Elmar Roloff) seine Meinung verteidigt, dass „von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik (…) natürlich nicht gesprochen werden“ kann, erkennt der junge Martin (David Müller) die Gefahren. Auch „die italienischen Nacht“ wird dominiert von hitzigen Debatten. „Genau wie 1914“ versucht Martin die anwesenden Republikaner wachzurütteln, während der Stadtrat weiterhin um Ruhe mahnt, und vehement darauf beharrt, dass es damals ganz „andere Verhältnisse“ gewesen seien.

Spätestens hier überkommt mich Gänsehaut. Ein unwohles Gefühl. All die Figuren auf der Bühne spiegeln irgendwie Personen aus der aktuellen Debatte wieder. Das geht unter die Haut. Dann, im nächsten Moment muss ich lachen, bald weinen; tragische Stimmungsbilder. Mit viel Witz, Charme, Tiefgang und beängstigender politscher Aktualität hat Calixto Bieito hier die „italienische Nacht“ von Ödön von Horváth inszeniert. Doch eine Frage bleibt bei mir auch nach der Vorstellung noch bestehen: warum hat Calixto Bieito diese Mädchen so inszeniert?

Während der italienischen Nacht führen zum Amusement der Anwesenden zwei „herzige Zwilligstöchterchen, dreizehnjährig“ einen Tanz vor. Mager, gekleidet in aufreizenden Tütü-Kleidchen, unter denen die weißen Höschen zu sehen sind, erinnern sie an zwanghaftes Kinderballett und lassen ein beklemmendes Gefühl zurück. Mir wird nicht klar, was der Sinn dieses aufreizenden Aufzuges ist und warum das so gewählt wurde. Es erinnert mich an Kinderpornographie.

Nichtsdestotrotz, Calixto Bieito hat eine herausragende Inszenierung geschaffen. Mit Kunstgriffen schafft er aus Ödon von Horváths Volksstück zeitgenössisches Theater. Da gibt es die drei furchterregenden, fratzenartigen Frauenbilder, die während einer ganzen Szene vorne posieren. Sie erinnern an Prostitution, an Elend, an Rauschmittel, an Tod. An Kriegsversehrte. Und sie erinnern an Figuren von Otto Dix. An die Abgründe der menschlichen Seele. Ein überwältigendes Bild.
Und dann, neben den politischen Themen, stellt Calixto Bieito ein weiteres Thema in den Vordergrund: Martins Freundin Anna (Paula Skorupa) soll einen Faschisten um den Finger wickeln, um ihn auszuhorchen. Sie tut es. Sie tut es in vollstem Vertrauen zu Martin. Der Faschist wird übergriffig. Sie entkommt, doch fortan wird man mit ihr leiden. Während der folgenden Handlungsstränge ist sie, wenn auch im Hintergrund, immer auch mit auf der Bühne.

Ich fühle mit ihr. Wie sie mit sich ringt- zwischen der Kränkung, die sie gerade erfahren hat und dem, dass sie zu Martin stehen will. Sie leidet, sie weint, sie verliert sich. Sie hat einen inneren, schweren Kampf zu fechten, den ich mit ihr gehe. Durch Paula Skorupa, die die Rolle der Anna ausdrucksstark und überzeugend darstellt, wird die Frage nach der Position der Frau in der Gesellschaft, zu einem weiteren omnipräsenten Thema, der den wenigen Frauenfiguren in dem Stück, eine enorme Stimme zuspricht. Auch Leni (Nina Siewert) und Adele (Christiane Roßbach) glänzen in ihrer darstellerischen Leistung. Besonders Christiane Roßbach überzeugt mit atemberaubender Authentizität. Des Weiteren brillieren Peer Oscar Musinowski (Karl), der Faschist, Elmar Roloff (der Stadtrat) und David Müller (Martin) mit bemerkenswerter und mitreißender Überzeugung.

Dann neigt sich das Stück dem Ende. Am liebsten hätte ich noch mehr gesehen, von all den ergreifenden Charakteren. Die letzten Sätze werden auf einer (fast) dunklen Bühne gesprochen. Das Licht ist auf das Publikum gerichtet. Ich fühle mich beobachtet: Der Stadtrat: „von einer akuten, demokratischen Republik, kann natürlich keineswegs gesprochen werden (…), so lange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen!“ Martin: „Gute Nacht!“

Zu "Die Physiker"

Physiker im Wunderland - von Kendra Mäschke

Als Friedrich Dürrenmatt 1961, während des Kalten Kriegs und nach der Erklärung der Göttinger Achtzehn, Die Physiker verfasste, konnte er nicht ahnen, dass sein Stück im Jahre 2019, zu Zeiten Donald Trumps und Kim Jong Uns, traurigerweise immer noch eine solche Brisanz haben würde.
„Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“ Dürrenmatts Möbius erkennt die Gefahr für die Menschheit, die von seinem Wissen ausgeht und möchte verhindern, dass es an die Öffentlichkeit gelangt. Dafür bezahlt er den Preis eines Lebens in der Irrenanstalt.
Cilli Drexel inszeniert Die Physiker am Stuttgarter Schauspielhaus fast 60 Jahre nach ihrem Entstehen klassisch: Ein Raum, drei Physiker, zeitlose Krankenhauskleidung – es könnte fast jedes Jahrzehnt zwischen 1961 und heute sein. Das Bühnenbild wirkt klinisch und steril; die Wände sind weiß, an der einen Wand hängt eine Uhr, die nur die Sekunden zählt, daneben zwei Stühle und eine Stehlampe, ein Waschbecken. Der Clou ist jedoch, dass der Raum zentralperspektivisch gestaltet wurde, d.h. es gibt trotz Dreidimensionalität einen Fluchtpunkt, der dazu führt, dass der hintere Bereich des Raumes, in dem sich zwei Türen befinden, merklich kleiner ist. Der Effekt, wenn die Schauspieler auftreten oder abgehen, erinnert an Alice im Wunderland – eine passende und sicherlich gewünschte Assoziation. Vor allem Newtons erster Auftritt sorgt aufgrund seiner Körpergröße für schallendes Gelächter im Publikum.
Doch nicht nur dadurch sticht Benjamin Pauquet in dieser Rolle hervor. Sein Spiel ist authentisch, mit trockenem Humor, und er vermag auch durch Improvisation zu überzeugen, als er während des angedrohten Schusswechsels zwischen Einstein/Ernesti und ihm zum Konkurrenten hinüberhüpft und das an seiner Pistole verbliebene Klebeband entfernt – einer der komischsten Momente des Abends. Die Prinz-Eisenherz-Langhaar-Perücke, die ihm von der Maske verpasst wurde, tut ihr Übriges.
Generell lebt die Inszenierung vom Zusammenspiel der drei Physiker, neben Benjamin Pauquet noch Klaus Rodewald (Einstein/Ernesti) und Marco Massafra (Möbius). Sie spielen die Irren/Nicht-Irren mit viel Ironie, Leidenschaft und Authentizität, was leider nicht auf das gesamte Ensemble zutrifft.
Im zweiten Akt fehlt denn das gesamte Mobiliar und der Raum erinnert nun eher an eine Gummizelle, in der die drei Physiker nach ihren „Taten“ untergebracht sind – wohl, um zu verhindern, dass es noch weitere Tote gibt. Vor allem der Verlust der Stühle ist eine interessante Komponente: Wo Newton Kriminalinspektor Voß im 1. Akt noch darum bittet, sich zu setzen, obwohl beide schon sitzen, wird das Sich-Setzen im 2. Akt ohne die Stühle durch ein An-die-Wand-Lehnen oder Auf-den-Boden-setzen ausgeführt, was natürlich einer gewissen Komik nicht entbehrt, aber auch als Verlust der eigenen Grundlage gedeutet werden kann.
Die Inszenierung spielt mit vielen kleinen, beinahe unauffälligen Motiven: Das Bühnenbild wirkt auf den zweiten Blick wie ein alter Röhrenfernseher, zumal es von Leuchtröhren eingefasst ist. Die Uhr, die nur Sekunden zählt, erinnert an den Zeitschalter einer (Atom?-)Bombe.
Auch die Musik macht eine interessante Wandlung durch: Wo zu Beginn tatsächlich noch klassische Musik gespielt wird, wenn von dieser die Rede ist, driftet die gehörte Musik nach und nach ins Rockige und später Bluesige ab. Im 2. Akt fallen Kriminalinspektor Voß und Dr. von Zahnd dann im wahrsten Sinne des Wortes völlig „aus dem Rahmen“, als sie sich in Blues-Ekstase aus dem Raum rollen und vor dem Rahmen aus Leuchtröhren tanzen – ein Bild, welches erstmals die Frage aufkommen lässt, wer hier nun eigentlich die Irren sind?
Wissen ist Macht. Am Schauspiel Stuttgart kommt eine recht eingedampfte Fassung der „Physiker“ zur Aufführung, welche das Stück, durch die Konzentration auf den Konflikt der Physiker mit sich selber, mit einander und mit Mathilde von Zahnd, auf diese Erkenntnis reduziert. Die Gedanken sind also nicht frei, wenn es um wissenschaftliche Erkenntnisse geht, die das Fortbestehen der Menschheit gefährden.
Cilli Drexel liefert eine grundsolide, kurzweilige Inszenierung ab. Am eindrucksvollsten ist die Kulisse, welche auch das imposante Schlussbild liefert: Die Physiker sitzen in ihrem Salon auf dem Boden, resigniert und geschlagen, während die Bühne langsam hochfährt und unter ihnen Dr. Mathilde von Zahnd erscheint, in einem Sessel sitzend und rauchend, einem James-Bond-Bösewicht gleichend. Der Plan der Physiker wurde im wahrsten Sinne des Wortes untergraben.

Kritik zu Die Physiker - von Gerd Hexelschneider

Den letzten Dürrenmatt im Schauspiel Stuttgart (Besuch der alten Dame) hatte ich noch gut in Erinnerung. Es war ein wildes und lustiges Spiel, das auf einer unendlich steilen und großen Treppe stattfand und Schauspielern und Zuschauern viel Freude bereitete.
In dieser Spielzeit nun Die Physiker. Das Stück über die Verantwortung der Wissenschaftler und wie man wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen oder missbrauchen kann.
In Erinnerung bleibt nach einem solchen Abend der Satz des Haupthelden: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht zurückgenommen werden.“ Sind wir nicht doch vergesslich und haben ein zu viel an Information und erinnern uns falsch/ungenau oder verdrängen einen möglichen Missbrauch von Wissen und Macht? Kann man Wissen heute wirklich noch verstecken oder bewusst zurückhalten?  Ja natürlich denkt man an Google und Facebook und andere Mediengiganten, die inzwischen unseren Alltag beherrschen, auch wenn das Dürrenmattstück von 1961 ist und in der Zeit des Kalten Krieges spielt.
Diese Überlegungen kommen einem aber erst am Ende des Stückes, denn in erster Linie ist es eine wunderbar gespielte Komödie, in der 3 Wissenschaftler (Newton, Einstein und Möbius) in einem Sanatorium nach und nach ihre Krankenschwestern umbringen, die Polizei ermittelt und sich nach und nach die Handlung entwickelt und verschiedene Geheimnisse an den Tag bringt. 
Eigentlich ist es wie bei Ken Kesey Einer flog über das Kuckucksnest in dem die scheinbar Irren, die einzig Normalen in der Gesellschaft sind und sich in eine abgeschlossene sichere Welt zurückgezogen haben.
Die Stuttgarter Inszenierung erzählt diese Komödie mit unglaublicher Spielfreude und Liebe zum Detail. Die 3 Wissenschaftler/Geheimdienstler (Wer das Stück nicht kennt, sollten sich hier überraschen lassen) sind unglaublich markante und urige Typen und leben Ihre falschen Identitäten ganz köstlich aus. Es gibt viele kleine und wunderbare Einfälle und sie singen/spielen schräg und anrührend gemeinsam auf ihren Geigen und immer wieder auch im Chor. Herausragend für mich auch Gabriele Hintermaier als oberspießige Missionarin Rose, die mit Ihren 3 Kindern, die auch zauberhaft Hausmusik zelebrieren und urdeutsch aussehen, einen Abschiedsbesuch bei Ihrem leiblichen Vater machen, den sie bisher aber nie gesehen hatten. Das ist alles bis zu den Kostümen ganz liebevoll ausgestattet worden und die 60 -er Jahre, in denen das Stück ja geschrieben wurde, aufleben lässt. Wunderbar wieder Marco Massafra, der hier glaubhaft als irrer Kranker ausrasten kann und wenig später aber offen zugibt, das er das alles nur gespielt hat, um die Familie endlich loszuwerden. Das Stück ist aber nicht nur Komödie, sondern hat auch sehr ernste Momente. Sehenswert  und überzeugend Amina Merai als  Krankenschwester Monika, die dem Wissenschaftler mit viel Gefühl und Ernsthaftigkeit ihre tiefe Liebe gesteht und mit ihm ein völlig neues Leben außerhalb des Sanatoriums plant.  
Licht und Bühnenbild passen gut: Eine sterile weiße Umgebung wie in einer Klinik. Hier wurden bewusst kleine Türen gewählt, durch die man sich bücken muss, um in die Handlung einzutauchen. Das verstärkt den Eindruck einer eigenen Guckkastenwelt. In guter Erinnerung bleibt auch das Schlussbild, aber das verratet ich hier nicht… Ein gelungenes Stück. Bitte unbedingt ansehen und sich von den Einfällen überraschen lassen!

Zu "100 Songs"

Kritik zu 100 Songs - von Alina Plittmann

Kann man sich auf den eigenen Tod vorbereiten? Lohnt es sich überhaupt, darüber Gedanken zu verlieren? Sollte man vielleicht vor dem Tod Angst haben? Darf man überhaupt an den Tod denken, solange man lebt?
Ganz normale Menschen, die nichts miteinander zusammen haben, haben doch etwas zusammen – haben alles zusammen – ihren gemeinsamen Tod. Ein Zug kommt pünktlich an, Passagiere steigen ein, alles alltäglich. Der Zug explodiert, alle Passagiere erleben einen gemeinsamen Tod. Wie sind alle diese Menschen zur gleichen Zeit am selben Ort gelandet? Wie ist das passiert, dass ihre verschiedenen Wege – 100 Songs – genau in diesem Punkt sich gekreuzt haben? Die Plattitüde dieser Fragen ist offensichtlich: einer ist ein alter Greis, die anderen sind jung und verliebt, noch andere zerstritten, verzweifelt, begeistert, voller Hoffnung – wie halt alle Menschen auf der Erde.
Wer jedoch ein banales Stück erwartet, darf ruhig überrascht bleiben. Die Spannung fängt bereits im Zeitrahmen an. Das Stück spielt sich innerhalb von vier fatalen Minuten ab, zwischen 8.51 Uhr, als der Zug an den Gleis ankommt, und 8.55 Uhr, als die Trillerpfeife ohrenbetäubend wird und Kellnerin Sally ihre Tasse zum Boden fallen lässt. Schimmelpfennig hat es geschafft, die filmspezifischen technischen Mittel auf Theater gekonnt zu übertragen. Wie kann man im Theater mit Flashback, Flashforward oder Slow-Motion arbeiten? Schimmelpfennig löst diese Fragen und erzielt einen faszinierenden Effekt auf der Bühne.
Wann beginnt die Zeit und wo endet der Raum? Durch unzählige Wiederholungen wird die Zeit in Stücke zerteilt, zerlegt, zersplittert, zerbrochen und wieder zusammengestellt. Das Leben wird akribisch unter die Lupe genommen, denn das Leben geht erst gegen sein Ende ganz schnell vorbei. Wir sehen und hören keine trivialen Explosionen, Schreie, zerfetztes Fleisch, Blut – die Explosion wird jedes Mal metaphorisch aufs Neue umgesetzt. Jedes Mal erlebt der Zuschauer kurz vor der nicht ausgesprochenen Explosion das Leben in seiner maximalen Stärke, Dynamik und Intensität.
Die Bühne ist minimalistisch gelöst, bis auf Kostüme-Requisite gibt es keine Hilfsmittel. Das Stück ist komplett auf der Kunstfertigkeit der Schauspieler aufgebaut. Ein Kaleidoskop der Charaktere, Miniaturen, Songs, einander abwechselnde Bilder halten den Zuschauer in Spannung und sorgen für Dynamik bis zum Ende des Stücks.
Der geniale Sebastian Röhrle wechselt zwischen seinen zahlreichen Charakteren innerhalb von einem Wimpernschlag. Die fabelhafte Anne-Marie Lux ist wie das Leben selbst – überwältigend, dynamisch, aufregend. Der unglaublich plastische Robert Rožić ist überzeugend sowohl als schüchterner arabischer Junge als auch als selbstgefälliger junger Mann. Die zarte Katharina Hauter ist mal verträumt, mal tückisch. Die selbstbewusste Alexandra von Schwerin ist gleichzeitig rein und verdorben. Der durchdringender Reinhard Mahlberg bleibt gleichzeitig einsam, naiv und brutal. Alle sechs Schauspieler erstellen eine Magie auf der Bühne, die den Zuschauer bannt und in eine Art Trance versetzt.
Obwohl es eigentlich um den Tod geht, gibt es im Stück unerwartet viel Humor: ein Humor der Situation, der Worte, der Wiederholung. Immer wieder aufs Neue werden die letzten vier Minuten vor der Explosion durchgespult, erlebt, aufgedrängt, wiederholt. „100 Songs“ ist eine Lebensode 1 Stunde 45 Minuten lang, nach welchen sich alle alltäglichen, vergessenen, nicht mehr bemerkbaren Geräusche, Bilder und Gerüche des Lebens plötzlich intensivieren und auf den Zuschauer, der gerade das Kammertheater verlassen hat, einstürzen können.

Zu "Der Goldene Topf"

Die Welt hat viel mehr Farben als wir sehen

In seiner knallig bunten Neuinszenierung versetzt Achim Freyer die Zuschauer für 75 Minuten in eine Märchenwelt und eröffnet ihnen damit ein Denken abseits bekannter Pfade. Viele überraschende Momente erlauben keine abschweifenden Gedanken und stellen einen hohen Grad an Aufmerksamkeit jederzeit sicher.

Zunächst stimmen bereits Musik und Installationen auf dem Weg zum Theaterraum den Betrachter auf das Kommende ein, das dennoch unerwartet über sie hereinbricht. Auf der Bühne herrscht bereits vor Beginn des Stückes Aktion. Die Raumbeleuchtung wird vor und während des Stückes aktiv genutzt, um noch mehr Farblichkeit zu erzeugen. Dabei gelingt es dem gesamten Team, Spaß und Freude trotz eines ernsten Themas zu vermitteln, ohne jemals in Kitsch oder Unglaubwürdigkeit abzudriften. Licht- und Toneffekte, ein Sammelsurium an bunten, aber nie zu schrillen Kostümen, viele zum Teil überzeichnete Masken, über- und unterdimensionierte Figuren, Puppen, ein Modellauto, eine Stelzenläuferin, ein Clown, viele Artisten und schließlich ein echter Hund fügen sich dabei wie von geisterhafter Regiehand geführt zu einem großen Ganzen.

In zwölf Vigilien wird die Geschichte vom „Goldenen Topf“ erzählt, die trotz aller Märchenhaftigkeit am Ende die Frage aufwirft, ob wir uns in unserer modernen, durchgeplanten Welt nicht öfter abseits der Vernunft bewegen, nicht einfach etwas mehr wagen und ein bisschen mehr zurück in unsere Kindheit verfallen sollten. In dieser Interpretation scheint dennoch die Realität zu gewinnen, denn am Ende sehen wir alle Figuren in schlichtem Schwarz, wobei die sie vorher verdeckenden Masken nach und nach fallen gelassen wurden.

Den Darstellern kommt dabei keine leichte Aufgabe zutage, aber sie fügen sich nahtlos in die Gesamtinszenierung ein, die das eigentliche Kunstwerk ist. Musikalisch unterstützt von Schlagzeug und Akkordeon werden sie Teil dieser imaginären Fantasiereise und bewegen sich darin wie auf der anfangs eingesetzten Drehbühne, auf der alle Figuren anfangs einzeln vorgestellt werden, nicht nur gewandt, sondern auch mit verblüffender Sicherheit. Was aber das Entscheidende ist, dass sie sich auf dieses Freyer´sche Experiment einlassen. Das führt zu einer entspannten Atmosphäre auf allen Ebenen, die der Betrachter in jeder Theatersekunde wahrnehmen, erfühlen und spüren kann. Das berührt, weshalb das Stück lange nachwirken dürfte. Es ruft sicher auch geteilte Meinungen hervor, wurde vom Premierenpublikum aber sehr positiv aufgenommen. 

zu "Thaddäus Troll"

Thaddäus Trolls Reise zwischen Tiefsinn, Tugend und Wahrheit - von Alina Plitmann

Gernot Grünewald hat seinen Tribut an einen schwäbischen Schriftsteller, einen Verdrängungskünstler, einen Soldaten, der niemals über seine Schuld hinauswachsen konnte, einen, der seinen Frust und Depression mit Zynismus zu tarnen versuchte, an Hans Bayer alias Thaddäus Troll, gezollt. Eine respektvolle, intensive Auseinandersetzung mit der Biografie und dem Werk von einem, der das Glück hatte, niemals auf einen Menschen schießen zu müssen, doch gleichzeitig verflucht war, nur verspätet rebellieren zu können. Das Stück ist sehr gekonnt eklektisch gelöst. Eine gelungene Mischung aus deutschem Kabarett, Ästhetik der TV-Sendungen aus den 80-ern, deutschem Elektro-Pop der 00-er, Arthaus-Bildern und Originaltexten von Thaddäus Troll bringt den Zuschauer in die Atmosphäre einer Seele, zerrissen zwischen grausamen Kriegserinnerungen, Schuldgefühlen wegen eigener Feigheit, dem Wunsch, die „ernsten Wahrheiten ins Ironische zu übertragen“, einem Fluchtversuch in die vertraute Schwabenwelt und einem großartigen Scharfsinn von einer grotesken Selbstironie. Ein Versuch, die Gründe eigener Feigheit gegenüber dem NS-Regime in der schwäbischen Mentalität zu suchen, bringt eine gnadenlos scharfe Satire heraus, jedoch nicht distanziert und entfremdet, sondern durch den eigenen Schmerz und die Liebe zum Ländle und seinen Schwaben geprägt. Grünewald geht mit diesem hoch explosiven Stoff sehr behutsam um und schafft tatsächlich eine gebührende, rührende und überwältigende Würdigung, bei welcher der Zuschauer auch zum Teil des Stücks wird.

Giovanni Funiati, Jannik Mühlenweg, Benjamin Pauquet und Sebastian Röhrle leisten eine hervorragende schauspielerische Arbeit. Wie in einem Kaleidoskop bleiben sie durch eine flüchtige Bewegung mal eine einzelne Figur, mal zerfallen sie in verschiedene Charaktere, mal schließen sie sich zu einem gut koordinierten Drehteam zusammen. Die Szenen wechseln vom Lustigen ins Dramatische, vom Frivolen ins Tragische und immer wieder zurück in die alles beherrschende Selbstironie.

Die Bühne ist doppelseitig aufgebaut, was den Zuschauer zu dem visuellen und akustischen Teil des Stücks macht. Ein besonderes Lob gilt der visuellen Lösung des Stücks im oberen Bereich der Bühne. Die Bilder könnten absolut selbständig für eine anspruchsvolle visuelle Reihe stehen. Sie inszenieren glücklicherweise nicht das Geschehen auf der Bühne und dennoch sorgen sie für eine enorme Spannung, was eine großartige Ergänzung zu anderen künstlerischen Mitteln bildet und zur Magie des Stücks einen wesentlichen Teil beiträgt.

Manch ein Zuschauer könnte mit optischen und hörbaren Reizen fast überfordert werden, ich fand allerdings diese Zusammenstellung von verschiedenen künstlerischen Mitteln gerade lobenswert. Je nach der eigenen individuellen Auffassung kann man das Stück auf einem, mehreren oder allen zugänglichen Kanälen wahrnehmen, was dem Stück mehrere Facetten gibt und es gleichzeitig sehr individuell macht. Die einzelnen Teile sind präzise aufeinander abgestimmt, so dass der Zuschauer nicht emotional überlastet bleibt.

Grünewald lädt den Zuschauer auf eine Reise, deren Ausgangspunkt die Geburt eines Menschen in eine Welt ist, in welcher „der Geist abgegeben werden soll“ und nicht mal Gott einem weiterhelfen kann. Die Reise geht weiter zwischen Tiefsinn und Laune, Heuchelei und Tugend, mit dem Risiko, die eigene Seele vereisen zu lassen bis in die Flucht „in eine fragwürdige Wahrheit“. Sodele.

Zu "Imaginary Europe"

Ein europäisches Happening - von Kendra Mäschke

Europa ist in aller Munde. Zu Zeiten von Grenzdebatte und Brexit stellt sich die Frage, was Europa noch bedeutet – und wie wir Europäer uns die Zukunft Europas vorstellen. Die deutsche Theaterlandschaft bietet hier verschiedene Ansätze: Das Rheinische Landestheater zeigte zuletzt bei den Landesbühnentagen in Tübingen Konstantin Küsperts „Europa verteidigen“, einen schrillen und glitzernden Abriss der europäischen Geschichte, von den griechischen Göttern über die Wikinger und Römer bis zu den zwei Weltkriegen und der aktuellen Situation an Europas Grenzen – zum Schreien komisch und zum Weinen tragisch.

Während das Rheinische Landestheater sich mit der Vergangenheit Europas und dem Ist-Zustand auseinandersetzte, ist der Titel des ersten Projekts des neu gegründeten Europa Ensembles „Imaginary Europe“ – also, eine europäische Utopie. Die sechs jungen Schauspieler aus Kroatien, Polen und Deutschland kündigten gleich zu Beginn an, das Publikum in dieses Utopia entführen zu wollen – und es dabei zu unterhalten! Mit verrückten Kostümen wird die Einreise in den gelobten Kontinent nachgestellt, einschließlich der Abgabe jeglichen privaten Besitzes, auch seiner Träume.

Der Regisseur Oliver Frljić konzipiert den ganzen Abend entlang bedeutender Werke der Kunst. Beginnend mit dem „Schwarzen Quadrat“ von Kasimir Malewitsch enthüllen die Schauspieler unter der schwarzen Plane am Boden, die Malewitschs Werk nachbildet, „Das Floß der Medusa“ von Théodore Géricault. In packenden Augenzeugenberichten werden die Zustände an Bord des Floßes nacherzählt und man kann sich Vergleichen zur heutigen Situation im Mittelmeer nicht erwehren; erst recht nicht, wenn man Ariane Mnouchkines „Die letzte Karawanserei“ gesehen hat.

Die kannibalischen Zustände an Bord werden mittels Kunstblut plakativ dargestellt – und dem toten Kameraden wird liebevoll das Wort „Europa“ auf den blutigen Rücken gemalt, während die Anderen mit blutverschmierten Mündern um ihn herum sitzen. Einzig die Erzählerin bekommt von den Kollegen nur eine blutige Nase verpasst. Vielleicht ist sie der traurige Clown der Geschichte?
Das riesige Gemälde am Boden stellt sich als Puzzle heraus, welches von den Schauspielern in seine Einzelteile zerlegt werden kann (was dann auch lautstark passiert). Aus den Einzelteilen entstehen Türme, die die Schauspieler erklimmen, worauf sie, Statuen gleichend, „Angelus Novus“ von Walter Benjamin und „Der glücklose Engel“ von Heiner Müller rezitieren. Hier entsteht das wohl eindrucksvollste Bild des Abends: Sechs Schauspieler in langen Roben, auf selbstgebauten Sockeln stehend, schwanken langsam und synchron von einer Seite zur anderen. Ein Sinnbild für ein Europa, das sich selber erhöht hat und nun ins Wanken gerät?

Die Pause kommt mit einem Schlag und bezieht das Publikum mit ein: Es muss auf die Bühne und das Puzzle wieder zusammenbauen, diesmal aber mit einem neuen Bild, Eugène Delacroix‘ „Die Freiheit führt das Volk“. Das Bild, das den zweiten Tag der Julirevolution 1830 darstellt, als Sinnbild der Demokratisierung Europas, der Künstler selber mittendrin – Kunst als Revolution!
Daran anknüpfend stellen die Schauspieler sich vor; jedoch nicht jeder sich selber, sondern jeder jeden. Sie unterbrechen einander, ergänzen sich, verschwimmen zu einer Person, einem Europa, so dass dem Zuschauer bis zum Schluss nicht ganz klar ist, welche Geschichte zu wem gehört: Der Deutsch-Tibeter, der in seiner Kindheit Rassismus erfahren hat. Der homosexuelle Kroate, der keine Kinder haben kann und darf. Die Russland-Deutsche, die aufgrund ihrer Herkunft kein Nationalgefühl empfindet. An ihr entbrennt eine Diskussion, die auf Polnisch und Russisch geführt wird. Wer war nun schlimmer, die Deutschen oder die Russen?

Zu guter Letzt wird auch noch Jesus in die Debatte miteinbezogen und, am Kreuz hängend, interviewt. Was hält er von der Kirche heutzutage und den Missbrauchsvorwürfen? Und warum blickt er auf jeder Abbildung am Kreuz zur Seite und nicht ins Publikum? (Wir erfahren, er müffelt und braucht Deo – dieses wird ihm von den Schauspielern zugestanden.) Nacktheit am Theater wird von ihm übrigens gutgeheißen, was erklärt, warum die Schauspieler sich die meiste Zeit nackt auf der Bühne bewegen. Kleiderlosigkeit als ultimative Gottesanbetung! Die Schauspieler versuchen, ihn und sein Kreuz auf die Bühne zu stellen und scheitern. Jesus wankt und droht, umzufallen, ihm fehlt die Standkraft. Die Religion als Bindeglied einer Gemeinschaft ist obsolet geworden.

Die gesamte Inszenierung fühlt sich eher an wie ein Happening als wie ein inszeniertes Stück. Sechs Schauspieler rennen, meist unbekleidet, sonst in verrückten Kostümen, über die Bühne, das Bühnenbild wird auseinandergenommen und vom Publikum wieder zusammengebaut, es gibt Kunstblut und Jesus möchte das Publikum nackt sehen. Das Ensemble bringt diese Aktionskunst mit viel Enthusiasmus auf die Bühne. Und auch wenn man sich manchmal fragt, was das alles soll, regt die Inszenierung zum Nachdenken an – und das ist es doch, was Kunst erreichen soll.

Das falsche Bild von Europa - von Hanno Boblenz

Die Bühne als Gemälde. Théodore Géricaults „Floß der Medusa“, gemalt auf quadratischen Holzplatten. 1816 thematisierte der junge Franzose in seinem monumentalen Gemälde den skandalösen, durch die Unfähigkeit des Kapitäns verursachten Schiffsuntergang mit 137 Toten. Damals war Europa ein völlig anderes als heute. Später begegnet uns Delacroix‘ Bild der Julirevolution von 1830 mit der auf den Barrikaden triumphierenden Marianne. Es stammt ebenso aus einem anderen Europa. Kleinstaatlich, unvereint – aber doch im Aufbruch, um aus neuen, freiheitlichen Ideen geboren zu werden.

Beide Gemälde, vor allem aber die von Peter Weiss in seiner„Ästhetik des Widerstands“ dazu geschriebenen Texte, bilden das Thema von „Imaginary Europe“, dem ersten Stück des Europa Ensembles. Dahinter steckt eine Initiative des Schauspiels Stuttgart. Sie führt junge Schauspieler und Schauspielerinnen aus unterschiedlichen Ländern zusammen. Sechs Akteure aus Polen, Deutschland und Kroatien haben sich im Europa Ensemble zusammengefunden, spielen und sprechen auf Deutsch, Kroatisch, Polnisch, Englisch und Russisch. In mehreren Stücken sollen sie sich mit der Frage beschäftigen, wie Europa neu gedacht, die europäische Einheit gestärkt werden könnte.

Regisseur Oliver Frljić entwirft ein buntes, überwiegend düsteres Bild von Europa. Immer den Blick zurück auf die Katastrophen der Vergangenheit gerichtet, lässt er seine Truppe die literarischen Texte zu den Gemälden rezitieren. Doch erstmal startet das Stück als lautes, farbenfrohes, rappiges Happening des Untergangs, passend untermalt von Robbie Williams „Let me entertain you“.

Was trashig und lustig beginnt, wechselt abrupt in eine düstere Stimmung. Die sechs engagierten Akteure reißen sich die Kleider vom Leib und spielen nackt die apokalyptische Szene an Bord der Medusa nach, bis hin zum kannibalischen Überlebenskampf. Dass sie dabei unterschiedliche Standpunkte einnehmen, mal als Betroffene reden, mal das Geschehen von außen kommentieren, gehört zu den Ungereimtheiten des Stücks. Die überzeugenden, schauspielerischen Qualitäten der sechs Akteure mindert es jedoch nicht. Frljić sieht Katastrophen als Ausgangspunkt für die Hoffnung Europas. Dafür bemüht er auch Texte zu Paul Klees „Angelus Novus“, diesem gezeichneten Engel mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Munde von 1920. Frljić unterstellt dem Engel, nur zurück auf die Katastrophen der Vergangenheit zu schauen. Und lässt seine Schauspieler als Symbol der Trauer auf Stapel von Bilderplatten steigen, die wie übereinandergelegte Bücher aussehen. Verhüllt und verschleiert stehen die sechs dort oben, als hätten sie das gedruckte Wissen um die Tragödien der letzten Jahrhunderte unter ihren Füßen.

Rückblick auf eine düstere Vergangenheit ist das tragende Thema von „Imaginary Europe“. „Wir wollten die Zukunft Europas sehen, fanden aber nur die Schatten der Vergangenheit.“ Das klingt wenig verlockend, und ist es auch nicht. Irgendwann sitzt die Truppe nebeneinander auf der Bühne. Stakkatoartig schildern sie in kurzen Sätzen,wie sie selbst in Deutschland aufgenommen wurden. Positiv klingt anders. So hinterlässt das Stück ratlose Gesichter. Gibt es angesichts von Brexit und einem drohenden Rechtsruck keine Chance für Europa? Für eine EU, die letztendlich aus Revolutionen erwachsen ist? Oder wird es wie 1830, als die Julirevolution neue Despoten hervorbrachte? Zum Ende bemüht Regisseur Frljić noch einmal die Französische Revolution, den Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie als Basis für ein freies Europa. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? 230 Jahre später sieht die Realität tatsächlich anders aus. Ein wenig mehr Optimismus hätte „Imaginary Europe“ schon gut getan.

Imaginary Europe oder das Ende einer Utopie - von Sabine Krell

Was das Europa Ensemble am vergangenen Mittwoch in seiner Premiere ins Quadrat des Kammertheaters gebracht hat, ist eine Welt voll extremer Kontraste, schrill, laut, obszön, rücksichtslos; insofern ein Abbild nicht nur Europas, sondern der ganzen Menschheit? Die Nivellierung der sozialen Geschlechter allerdings, die multilinguale Präsenz der Darsteller und eine zum Staunen anregende Kreativität verhindern ein Desaster für Regisseur Oliver Frljić und Dramaturgin Carolin Losch.

Bereits nach einer Viertelstunde sind fünf von ihnen splitternackt. Einzig Tina Orlandini vom kroatischen Zagreb Youth Theatre wird die gesamten zwei Stunden über bekleidet sein. Die während der Kroatischen Filmtage 2016 als Beste Schauspielerin ausgezeichnete Kroatin entfaltet eine ungeheure Bühnenpräsenz; mit ihrer tiefen und festen Stimme gibt sie die Powerfrau, die in die Geschichte der europäischen Geschichten einführt, mithilfe derer sich nun vor den Augen des, wenn auch kleinen, aber immerhin europäischen Publikums die Utopie eines neuen Europäischen Theaters entfaltet.

Dies mit einer unglaublich aufwändigen Performance, für die, bis auf Beleuchtung und Musik, allein die Darsteller verantwortlich sind. Gefühlt 200 Kostüme werden innerhalb der gesamten Aufführung, zum Teil im Zehn-Sekunden-Takt gewechselt, allein die Eröffnungsszene, bei denen sich die je zwei deutschen, kroatischen und polnischen Schauspieler als Einreisende vorstellen, hat ein ganzes Schleppnetz voller Bären-, Fest- und Alltags-Kostüme und Gegenstände zum Ergebnis, das in einem Rutsch zur Seite hinauszogen wird, um den Blick auf ein riesiges Puzzle freizugeben, das den gesamten Bühnenboden ausfüllt. Es zeigt das Gemälde des französischen Malers Théodore Géricault, der 1819 das Schicksal der Schiffbrüchigen des französischen Flaggschiffes Medusa in Öl verewigte, das 1816 vor einem Cap an der Westküste Afrikas auf Grund gelaufen war. Von Hunderten von Kolonialsoldaten und Siedlern waren nach zwölf Tagen noch 15 am Leben. Die Darsteller erzählen diese Geschichte mithilfe der quadratischen Puzzleteile in ergreifenden Monologen. Herausragend immer wieder Adrian Pezdirc, der noch mehr als die Anderen ausschließlich sich selbst spielt, dies jedoch sehr überzeugend. Mit der Körperhaltung eines Königs – nackt, man wird an des Königs neue Kleider erinnert – schreitet er über die Bühne, wirft den Kopf zurück und animierte eingangs noch das Publikum gemeinsam mit seinen Mitstreitern zum synchronen Ein- und Ausatmen. Gemeinschaft eben. Europa. Warum nackt? Because „things will be much more understandable, as theatre generally should be.”

Von diesem Zeitpunkt an kannte die Aufführung an Obszönitäten kaum noch Grenzen. Zwischen wackelnden Brüsten und schrumpeligen Hodensäcken legt Deutsch-Tibeter, Tenzin Kolsch, mit erst 25 Jahren jüngstes Ensemblemitglied, seinen wunderschönen Körper seitwärts auf den Boden, um sich, die kannibalischen Verzweiflungstaten der Verhungernden imitierend, von den anderen Darstellern essen zu lassen. Aus deren Mündern tropft Theaterblut, das den Toten derart beschmiert, dass sich auf dessen Haut das Wort „EUROPA“ zeichnen lässt. Nach dem Ende dieser Tat drapieren sich die Anderen in malerischer Pose, das Opfer in ihrer Mitte. Ein wunderschönes Bild, keine Frage, für den, der die Form vom Inhalt zu trennen vermag. Frljić übrigens betrachtet diese Szene nicht als Parabel für die Flüchtlingsproblematik, sondern vielmehr als „Metapher für unser heutiges Europa“, wie er in einem Interview mit der Dramaturgin erklärt. Denn letztlich geht es ja trotz des durch und durch politischen Stoffes um die Formierung eines europäischen Theaters. Deshalb auch die Anlehnung an die Kunstwerke.

Derer nämlich gibt es zwei. Das zweite ist ebenfalls von einem Franzosen. Er heißt Eugène Delacroix und bildet einen Barrikadenaufstand während der Julirevolution 1830 ab. „Freiheit“ ist denn auch der Schlachtruf, den Adrian ins Publikum schreit, bevor die in Schwerin geborene Claudia Korneev konstatiert, dass auch diese Revolutionsästhetik letztlich keine Utopie für ein neues Theater anregen konnte. Dies allerdings erst nach der Pause. Denn zuvor fordert er die Zuschauer auf, das Ende des ersten Aktes und den Beginn des zweiten mit einem Umbau zu überbrücken. Etwa die Hälfte tut es, und so entsteht ein buntes Miteinander, in dem Schauspieler und Publikum die Rückseite der „Medusa“ zu dem ausdrucksstarken Delcaroix-Gemälde ordnen. Diese Pausenfüllerszene zeigt mehr von Europa als einige der Bühnenszenen. Denn hier sind echte Menschen am Werk, solche, die Frljić eigentlich zeigen wollte, die sich eben nicht exhibitionistisch darstellen und die zu einigem fähig sind, so sie denn dasselbe Ziel vor Augen haben.

Die Nacktheit freilich – inklusive dem Berühren und Küssen von Schultern, Bäuchen und Brüsten, das Publikum muss die Blöße bis in den Schlussapplaus hinein ertragen – ist ein Teil der Extreme, mit denen das Ensemble die Vielfalt in Europa spiegelt und mit der es die uralte ästhetische Tradition des Schocks dazu benutzt, sein Publikum zum Nachdenken anzuregen. Geradezu erholsam nämlich die aus den Gemäldepuzzleteilen gestapelten Podeste, auf denen sich die Schauspieler drapieren, eingehüllt in viele Quadratmeter Stoff in den Grundfarben der europäischen Nationalflaggen. Die Farben wallen bis auf den Boden hinunter und lassen den Zauber der 1920 von Paul Klee geschaffenen Aquarellzeichnung Angelus Novus erspüren, das seit 1989 im Jerusalemer Israel-Museum hängt. Der Engel hat „das Antlitz der Vergangenheit zugewendet“, wie Walter Benjamin 20 Jahre später schreiben wird, der diesen im Briefverkehr mit dem jüdischen Religionskritiker Goshem Scholem als Botschaft der Kabbala bezeichnet. Und hier ist man denn auch beim Antisemitismus angelangt, zu dem in der letzten Szene übrigens auch der Gekreuzigte befragt wird. Dieser wird von Jan Sobolewski als das „siebte Ensemblemitglied“ in dieses fragwürdige Interview einbezogen, bei dem sich der Befragte aus verständlichen Gründen nicht wehren kann. Er verweist in Sachen Antisemitismus auf eine Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, nach der Deutschland auf Platz eins der Liste der Länder mit den meisten diesbezüglichen Belästigungen und Angriffen geführt werde. Jetzt hätte es eigentlich spannend werden können im Rollenbuch. Stattdessen gelangt man stante pede wieder zum Thema Nacktheit. Wenigstens erhält das Publikum einen Erklärungsversuch für den netto rund 90-minütigen Anblick von Geschlechtsteilen, und zwar von Jaśmina Polak. Jesus sei nackt gekreuzigt worden, Gott habe den Menschen nackt erschaffen. Ihr Fazit, unterstützt von dem seinen Penis lüpfenden Jan: „If anybody has a problem with nudity, they have a problem with God.“ Um den Schock zu steigern, werden dann einzelne Besucher dazu aufgefordert, ihren Glauben unter Beweis zu stellen, indem sie ihre Nacktheit vor dem messianischen Antlitz preisgeben, als von diesem persönlich dazu Auserwählte.

Am Ende der Performance bietet das Europa Ensemble zwei Aussagen an. Für die Ästhetik: „Wenn man all das Verletzende verbietet, was soll man dann noch aufführen?“ Die politische wird Jesus in den Mund gelegt: „I imagine a Europe without religion and private property.“ Mit solchen Statements und nach so viel rücksichtslosem Gebaren wird das Publikum bis zum Schluss allein gelassen. Von der streckenweise ins Leben überführten Kunst und der Ansage „the art is in you“ schwingt nichts mehr mit, und auch die brillante Leistung der Schauspieler mit den oft schwierigen Monologen, die mit ausdrucksvollem Spiel kombiniert sind, werden von solchen, beinahe lapidar klingenden Phrasen nicht wirklich gewürdigt. Überhaupt lässt das Stück echte Menschenwürde und Solidarität vermissen. Konsequent wäre es gewesen, wenn Frljić und Losch ebenfalls beim Schlussapplaus nackt auf der Bühne gestanden hätten – und vielleicht noch unappetitlicher für das Publikum, aber wenigstens Ausdruck der Obszönitäten, die sich nicht nur in der europäischen Politik abspielen.

Sehr erfreulich hingegen die Ausstrahlung des Ensembles, das in den im Hinblick auf politische Aktualität, dem Ausloten dessen, was Theater bieten kann und der Vielfalt der Menschen in Europa ausgefeilten Dialogen auch improvisierte Teile enthält. Vollkommen natürlich sitzen die sechs in einer Linie und spielen sich gegenseitig Monologe zu, übernehmen sie vom Anderen, reden gleichzeitig, so dass ein wunderschönes inneres und äußeres Bild der einzelnen Lebensläufe von Adrian, Tenzin und Claudia entsteht, bevor Claudia, Jasmina und Jan in der nächsten Szene das Russische und Polnische an Ort und Stelle mit Händen und Füßen erproben. Eine gute schauspielerische Leistung, die nicht durch eine obszöne Theatersozialisierung entwürdigt werden sollte. Die Darsteller sind zwischen 25 und 30. Was sollen sie als nächstes auf der Bühne darstellen? Einen Akt oder gar eine Vergewaltigung? Nach dem Motto: Kennt man schon vom Internet. Warum nicht auch auf die Bühne damit?

Insofern findet hier die seit den Manifesten der Avantgarde bekannte Tatsache statt, dass sich Kunst paradoxal äußert. Dort sollte Tradition zerstört werden, indem man zuallererst eine neue schuf - hier werden Zustände angeprangert, zu deren Symptom man längst selbst geworden ist. Wer dieses Stück gesehen hat, macht sich nicht nur Sorgen um die Zukunft Europas, sondern auch um die Zukunft seiner Kunst.

Zu "Bernarda Albas Haus"

Das starke Geschlecht in großer Form - von Stefanie Steible

In dieser Inszenierung entwickeln alle acht weiblichen Figuren ihren eigenen, unverwechselbaren Charakter. Selbst die in der Romanvorlage von Lorca blassen Schwestern Amelia und Magdalena tragen einen nicht unwesentlichen Anteil zu einem überaus stimmigen Abend bei. Über allen aber steht Nicole Heesters, die man mit Fug und Recht als Bernada per excellence bezeichnen darf. Ein Genuss, diese Grande Dame des Theaters in einer solchen Rolle zu sehen. Sie schafft es, die Hauptfigur als ebenso dominante wie besessene, neugierige, aber in ihren Traditionen gefangene und dennoch erotischen Fantasien nachhängende Persönlichkeit darzustellen, die ihre fünf ledigen Töchter auf grausame Weise tyrannisiert. Das sogar die Art der Tyrannei differenziert dargestellt wird, zeigt schon, wie sehr hier bis ins letzte Detail gearbeitet wurde.

Unter den Schwestern vermag Paula Skorupa besonders zu überzeugen, die Martirio als verletzlich, gleichermaßen scheu, leidenschaftlich und verrückt aufleben lässt, um nur einige Facetten zu nennen und ihre Figur an dieser Stelle sogar weiterentwickelt, als es das Romanmaterial anbietet. Ebenso fantastisch der Auftritt von Josephine Köhler als älterer, zu verheiratender Tochter Angustias, von der man an diesem Abend gerne noch mehr gesehen hätte. Einzig die Textvorlage erlaubt es nicht. Auch Nina Siewert spielt und lebt ihre Adela mit voller Inbrunst. Hier hätte aber eine andere Maske für mehr Authentizität gesorgt, denn die Rolle des süßen, verliebten, kleinen Nesthäkchens nimmt man ihr dennoch nicht ganz ab. Der Julia-Effekt des Auflehnens gegen die Mutter dominiert ihre Rolle von Beginn an, einzig der Dialog mit La Poncia über ihr Verliebtsein in den imaginären Bräutigam der ältesten Schwester lässt erahnen, in welchem Gefühlsdilemma sie steckt.

Calixto Bieito gelingt es, in Zusammenarbeit mit seinem Team, den neun Darstellerinnen eine Bühne zu bieten, die sie in vollem Umfang der Schauspielkunst nutzen. Das Thema Tod schwebt in allen Dialogen mit und wird gleich zu Beginn mit der Einlage der Artistin Kaatie Akstinat thematisiert. Von ruhigen Momenten über fesselnde, leise Dialoge mit Tiefgang bis hin zu Explosionen der Wut und echten, vor Energie strotzenden Kämpfen nutzten die Darstellerinnen alles, was sie an Emotionen aus sich herausholen können, ohne dabei auch nur einmal theatralisch zu wirken.

Das sparsame Bühnenbild vermag ihre famose Leistung perfekt zu unterstützen und sorgt für einige, unerwartete Überraschungsmomente. Sie lassen eine Atmosphäre der Beklemmung, aber an einigen Stellen auch von Hoffnungsschimmern entstehen. Das geschieht zum Beispiel in den kurzen, aber nicht weniger eindrucksvollen Auftritten von Elke Twiesselmann als dementer Großmutter Maria Josefa, die dennoch unglaublich viel Lebensfreude versprüht.

Und nicht zuletzt Anke Schubert in der Rolle der Haushälterin trägt ihren Anteil an einer wunderbaren Leistung des gesamten Ensembles, das offensichtlich selbst viel Freude an der Arbeit miteinander hatte. Es transformiert einen fast hundert Jahre alten Text aus verlassenen, spanischen Dörfern in die Moderne, in dem aktuelle Themen rund um das Frauenbild in verschiedenen Kulturen angedeutet werden. Und davon lebt diese Aufführung, denn Lorca schreibt viel mehr als er sagt – und diese Kunst wird hier formidabel weitergelebt, so dass dieser wunderbare Theaterabend zu 150 Prozent zu empfehlen ist.

gewalt(tät)iges Sprechtheater - von Deborah Böhm

Der katalanische Opern- und Theaterregisseur Calixto Bieito inszeniert in Stuttgart Federico Garcia Lorcas „Tragödie von den Frauen in den Dörfern Spaniens“, das letzte Theaterstück des bedeutenden spanischen Dramatikers, bevor er, 38-jährig, von den Faschisten ermordet wird. Calixto Bieito, der seit 2007 bereits fünfmal an der Staatsoper Stuttgart Regie geführt hat, zeigt hier nun seine erste Arbeit für das Stuttgarter Schauspiel.

Das ausschließlich weibliche Ensemble (Männer sind unter ihnen zwar ein großes Thema, sie werden aber nicht verkörpert), spielt ein Stück der Unterdrückung. Bernarda Alba befiehlt ihren fünf Töchtern nach dem Tod ihres zweiten Mannes eine achtjährige Trauerzeit. Das bedeutet, dass die jungen Frauen in ihren besten Jahren ein von der Außenwelt abgeschottetes, karges und lustfeindliches Dasein fristen müssen. Während die Haustyrannin unter dem Vorwand der Tradition und Religion alle im Haus einsperrt, herumkommandiert, ausspioniert, mit dem Gürtel züchtigt und sich stets masochistisch daran ergötzt, den anderen das Leben zur Hölle zu machen, zeigt die gewalttätige Gefangenschaft immer deutlichere Auswirkungen unter den Schwestern: Anstatt sich gemeinschaftlich gegen die unterdrückende Mutter zu solidarisieren, kämpft jede gegen jede. Die verordnete Moral verkehrt sich ins Gegenteil, das unterdrückte sexuelle Begehren bahnt sich seinen Weg, wenn Amelia ihrer Schwester Martirio von hinten in die Bluse greift oder wenn die alte Bernarda sich immer wieder lustvoll ihr Trauerkleid bis zu den Schenkeln hochzieht. Jede Gelegenheit wird ergriffen, sich dem anderen Geschlecht zu nähern und diese Bedürftigkeit macht die Schwestern zu Opfern und Konkurrentinnen: Pablo E. Romano, ein junger Mann, macht Angustias, der ältesten, hässlichsten aber reichsten Tochter den Hof, während er zu Adela eine heimliche Liebesbeziehung unterhält und auch die Gefühle von Martirio weckt. Am Ende löst Bernarda das Problem wieder mit Gewalt, indem sie den Freier mit der Flinte vertreibt und sich Adela daraufhin das Leben nimmt. Angesichts dieser Katastrophe zeigt die Mutter erneut pure Gefühlskälte und verordnet den Schwestern Schweigen. Hauptsache der Schein bleibt gewahrt.

Die Bühne von Alfons Flores liefert zu diesem sprechlastigen Literaturtheraterabend wenig Ablenkung und doch große Symbolik. Eine schwarze Box mit weißer Wand im Hintergrund, die schließlich als Seite eines Buches übergroß und bedrohlich auf das Publikum zustürzt um dann lautlos ein Kapitel zu schließen. Wie in einem Marionettentheater werden alle Requisiten vom Schnürboden herabgelassen und wieder hinaufgezogen: eine große schwarze Tafel, leere Stühle, die leblos an Seilen baumeln, eine Frau an einem Seil, die mal wie eine Totenglocke über die Bühne schwingt, oder wie Jesus am Kreuz über der Familientafel schwebt.

Lorcas Stück kann als Parabel für den zeitgleich aufkommenden Faschismus in Spanien gesehen werden, gegen den er kämpfte. Die Männerwelt liefert den Frauen des Stücks scheinbar die einzige Möglichkeit ihrer heimischen Hölle zu entkommen und treibt sich doch nur wieder in die Unterdrückung. Gleichzeitig ist auch Bernarda eine (ehemals) Unterdrückte, die diese Unterdrückung weitergibt anstatt sie zu durchbrechen. An ihr zeigt sich wie hartnäckig und langlebig die Mechanismen von Gewalt sind. Auch die unterdrückten Töchter unterdrücken weiter: Sie ergötzen sich an der Folter einer ledigen Mutter, die ihr Kind aus Verzweiflung unter der gesellschaftlichen Ächtung umgebracht hat, obwohl es auch eine von ihnen sein könnte. Das sind starke psychologische und u. A. aktuelle Themen. Dennoch wirkt die Hauptfigur, Nicole Heesters Bernarda, an vielen Stellen zu eindimensional und klischeehaft. Nur manchmal funkelt ihre Motivation zur Grausamkeit, eigener Schmerz, aus ihren Augen und ihrer tierischen Körpersprache hervor. Die stärker differenzierten und leiseren Töne von Anke Schubert wirken da weitaus überzeugender, die im Chor der Untergebenen die Hausmagd, La Poncia, spielt. Starke Momente haben die Schwestern vor allem choreographisch als Zwangsgemeinschaft, wenn sich ihre Langeweile, Verzweiflung und ihre stets domestizierte Lust beim Zerreißen von Leintüchern oder dem synchronen Verschlingen von Wassermelonen-Schnitzen offenbart. Insgesamt bleibt der Abend aber überraschend brav und blass, angesichts der brisanten Themen und einem Regisseur, der dafür bekannt ist, diese in ihrer Symbolik und Sprengkraft schonungslos auszuloten. Das muss nicht immer schrill sein und ist an vielen Stellen gelungen. Vor allem durch die Bilder die die Bühne und die Schauspielerinnen gemeinsam entwerfen, weniger aber durch den Text und dessen Gestaltung, was schade ist, da dieser Bühnenmittel an diesem Theaterabend im Vordergrund steht.


Zu "Der Menschenfeind"

Im Reich der Eitelkeiten - von Yaël Brunnert

Schon das Bühnenbild spiegelt im wahrsten Sinne die Eitelkeit wider. Ein Glasboden bedeckt die Bühne. Die Decken bilden ein großes Himmelbett, all das schreit nach Pompösität. Dubois, eine kleine Rolle, die Julian Lehr wunderbar auf den Punkt verkörpert, muss sich zunächst alleine dieser Welt stellen. Artig putzt er mit seinen Schuhen den Glasboden. Er ist wie ein roter Faden in dieser Aufführung. Immer wieder steckt er seinen Kopf durch eine Luke und verkündet meist schlechte Nachrichten, und das so schön widerwillig. Über ihm hängen drei weiße Heißluftballons, in denen man zunächst nur Leben erahnen kann. Später senken sich diese und die Musiker kommen zum Vorschein, die diese schillernde, oberflächliche Welt treffend untermalen.

Anfangs sieht man sie nur schemenhaft, die Figuren in ihren prunkvollen, ausladenden Kostümen, wie sie manieriert über die Bühne stolzieren, flanieren. Besonders Robert Rožić als Philinte ist sehr filigran in seinen Bewegungen. Er und Alceste, Matthias Leja spielt diesen sehr facettenreich, liefern sich den ersten Schlagabtausch in dieser rauschhaften, verrohten Welt. Alceste, der sich nicht nur durch seine Worte, sondern auch in seinem zurückhaltenden Kostüm von den anderen Figuren abgrenzt, hält es in dieser Welt nicht mehr aus. Er kritisiert die Menschen, die sich nur in Eitelkeit suhlen. Er will gegen das Küssen und Umarmen, das ihm so falsch erscheint, kämpfen, doch Philinte hält dagegen „Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind.“ Aber Alceste kann das nicht. Er hasst die Menschen, und wird immer wieder die Wahrheit sagen und auf Missstände aufmerksam machen. Sein Vorhaben ist ehrenhaft, doch zuweilen kann er auch die Menschen treffen, die er liebt. Wie Célimène, zügelhaft und zugleich verletzlich gespielt von Therese Dörr.

Sein Misstrauen ihr gegenüber, das er durch einen Brief, dem sie einem anderen schrieb, legitimiert, wird ihr am Ende das Herz brechen. Doch es ist ein Auf und Ab mit den beiden, ein ständiger Kampf, ein Wechselbad der Gefühle. Von Verletztheit zu Wut zu Anziehung. Doch am Ende gibt es keinen wirklichen Platz für die Liebe in einer Welt, in der keiner keinem etwas gönnt.

Célimène und Arsinoé, wegen Krankheit heute von Katharina Hauter gespielt, und das sehr überzeugend, leisten sich hier einen gekonnten Schlagabtausch, der diese Welt so treffend wiedergibt. Arsinoé hat über Célimène gehört, sie habe sich nach dem Tod des Mannes nicht schicklich verhalten. Sie hätte natürlich versucht, sie zu verteidigen, aber es wäre unmöglich gewesen. Célimène hält dagegen, sie habe wiederum über Arsinoé gehört, sie sei prüde. Es endet damit, dass diese verzweifelt ausruft „Wenn ich wollte, könnte ich auch einen Liebhaber haben.“

Doch Alceste trifft nicht nur Célimène mit seinem Argwohn, sondern auch Oronte mit seiner Ehrlichkeit. Oronte, Sven Prietz spielt ihn herrlich affektiert, gibt nur vor, er wolle die Wahrheit über sein Sonett hören, aber am Ende klagt er Alceste dafür an und beschimpft ihn, dass dieser seine Zeilen verachtet. Doch, wie Alceste sehr treffend und aktuell sagt, er habe keinen Platz in der Politik, weil er immer die Wahrheit sage.

Die anderen Figuren bevorzugen es, über andere herzuziehen. Unter ihnen sind Acaste, Benjamin Pauquet, der seine Rolle schön falsch spielt, und Clitandre, Sebastian Röhrle überzeugt auch hier wieder, die beide um die Gunst von Célimène buhlen und sich schließlich einigen, dass sie dem anderen verraten, wenn ihr Objekt der Begierde sich einem von beiden offenbart. Ihre Falschheit und ihre Unfähigkeit wahre Gefühle zu empfinden, zeigt sich, als sie Célimène wegen der Briefe, die sie beiden geschrieben hat, bloß stellen und schikanieren. Hier sieht man Célimène herzzerreißend verletzlich. Ein kleiner Lichtblick ist die unsichere Cousine von Célimène, Éliante, wunderbar linkisch gespielt von Celina Rongen. Sie versucht im Negativen immer noch etwas Positives zu finden, denn die Liebe könne so etwas doch leisten. So sei doch, ein Beispiel von vielen, jemand in den Augen der Liebe, den man nicht versteht, tief. Sie wird dann allerdings harsch von Célimène unterbrochen. Für Sentimentalitäten ist keine Zeit, und wenn man sich nicht behauptet, geht man hier ohnehin unter.

In dieser Welt wird gehurt, gelogen, getänzelt, sich akrobatisch mit dem Körper und den Worten verbogen, und man schaut den Figuren gerne dabei zu. Besonders, weil es auch diese fein inszenierten ernsthaften, verletzlichen Momente gibt, die vielleicht doch noch Hoffnung geben, dass der Mensch nicht nur schlecht ist. Immerhin führt Alceste seinen Satz über den Hass der Menschen vom Anfang am Schluss nicht zu Ende. Vielleicht glaubt er, er hat einfach schon zu viel gesagt, aber vielleicht ist es auch ein Lichtblick, wenn auch nur ein kleiner.

Gefährliche Liebschaften in Panem - Von Kendra Mäschke

Kann ein mehr als 350 Jahre altes Stück, zumal eines, welches die Gesellschaft widerspiegelt, auch im Jahr 2019 relevant sein? Molières „Der Menschenfeind“ ist wahrscheinlich das autobiographischste seiner Werke – 1666 spielte Molière bei der Premiere selbst die Hauptrolle des Alceste und unterstrich damit die Vermutung, dass auch er seine Probleme mit dem Opportunismus und den Intrigen der Hofgesellschaft hatte.

Am Schauspiel Stuttgart inszeniert Bernadette Sonnenbichler die von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens übersetzte Fassung mit opulentem Bühnenbild, dessen spiegelnder Boden schon von DuBois, durch Wischlappen an seinen Füssen und akribisches, schlittschuhähnliches Auf- und Abgehen gewienert wird, während das Publikum den Saal betritt. Diese Auftritte DuBois’ wiederholen sich im Lauf der Inszenierung – die Spiegel für den eitlen Hofstaat müssen glänzen! Oder bewegt sich der gesamte Hof vielleicht auf dünnem Eis?

Drei Musiker – Marvin Holley (Gitarre), Marc Roos (Posaune), Fabian Wendt (Bass) – schweben, auf Plattformen verteilt, über allem und geben, im wahrsten Sinne des Wortes, den Ton an. Der gesamte Hofstaat scheint von der Musik regelrecht ferngesteuert – jede Figur hat ihr eigenes Bewegungsmuster, dem sie folgt, Stillstehen gibt es nicht. Einzige Ausnahme ist Alceste: Er bewegt sich frei und unabhängig im Raum. So unabhängig, dass er aus dem Zuschauerraum erstmals auftritt, sich mehrfach dort aufhält und das wilde Treiben von weitem betrachtet und auch am Ende des Stücks wieder dorthin zurückkehrt.

Das Bühnenbild ermöglicht Auftritte durch mehrere Türen und Luken, aber auch von hinten, durch diverse Vorhänge – fast schon eine Bühne in der Bühne, frei nach dem Motto „All the world’s a stage, and all the men and women merely players“.

Die Aufmachung der Figuren erinnert stark an die Verfilmung der „Tribute von Panem“: Die Kostüme farbenfroh und schrill, die Frisuren extravagant, aber vor allem die „Optimierung“ der Körper in Form von aufgeklebten Wangen- und Wadenimplantaten, Brust- und Armmuskelfüllungen oder, in Célimènes Fall, einem übertrieben ausladenden Hinterteil, sind eine deutliche Hommage an die dystopische Romantrilogie, in der sich jedes Mitglied der Oberschicht nach Lust und Laune optimieren lässt. Oronte kommt sogar ausnehmend androgyn daher. Einzige Ausnahme ist auch hier Alceste: Ohne jegliche Optimierung, in schwarzem Hemd und schwarzer Hose sowie einem weiten Mantel, mit blauer Plastiktüte in der Hand, hebt er sich deutlich von den anderen ab.

Das spielfreudige Ensemble rutscht, gleitet und tanzt gekonnt durch die Inszenierung. Besonders sticht hier Robert Rožić als Philinte hervor: Durch seine Körpersprache und Mimik gelingt ihm der Spagat zwischen Komik und Klamauk mühelos; eine Kunst, die nicht alle Kollegen ganz so gut beherrschen.
Wenn die Musiker nicht spielen, wird die Stille oftmals durch schweres Atmen, Stöhnen und Keuchen der Schauspieler gefüllt, vor allem, wenn Alceste nicht anwesend ist. Generell scheint seine Abwesenheit die Atmosphäre sexuell aufzuladen. Teilweise fällt die gesamte Hofgesellschaft in orgiastischen Szenen übereinander her, kaum eine Unterhaltung findet ohne sexuelle Konnotationen statt – Geschlechtsverkehr und Cunnilingus werden zwar an den Rand der Bühne bewegt, sind aber dennoch sichtbar und omnipräsent. Einzig die Beziehung zwischen Alceste und Célimène hat teilweise fast unschuldig-naive Züge. Die Küsse, die die beiden austauschen, sind von zärtlicher Natur – erst gegen Ende wandelt sich ihre Beziehung und Alceste fällt regelrecht über Célimène her, als er meint, sie nun endlich für sich gewonnen zu haben. Hier stellt sich das einzige technische Problem heraus: In engem Zusammenspiel bereiten die Mikrophone an den Wangen der Schauspieler Probleme. Dies mag aber auch ein reines Premierenproblem gewesen sein.

Bernadette Sonnenbichler ist eine unterhaltsame Inszenierung gelungen, die von schrillen Bildern und ausdrucksstarkem Spiel lebt. Teilweise rutschen die Interaktionen zwischen den Darstellern ins Alberne ab, aber das mag das Ziel sein: Die Oberschicht als nicht-ernstzunehmende Gesellschaft, fernab von den Nöten und Sorgen des Volks, nur in ihre eigenen Intrigen verstrickt, damals wie heute. Die offensichtliche Anlehnung an das futuristische Panem transferiert Molières Stück erfolgreich in das 21. Jahrhundert. Und für Social Media-Nutzer bleibt eigentlich nur eine Frage offen: Was ist aus Rico geworden?

Zu "DIe Wildente"

Meister der Verdrängung - von Maria Walter

Das Bühnenbild ist einfach – white cube, eine Ecke ragt ins Parkett. Meine spontane Assoziation: weißes Papier. Ein unbeschriebenes Blatt ist in diesem Familienkonstrukt wohl keiner. Auch die festen Schuhe, die alle Figuren tragen, geben ihnen nur scheinbar Halt.
Eine komplizierte Familiengeschichte entspinnt sich im Verlauf dieses Abends. Eigentlich werkeln alle recht zufrieden so vor sich hin (denkt man), doch dann kommt jemand zurück. Gregers (Reinhard Mahlberg) ist dieser Eine, der meint, er müsse die Wahrheit ans Licht bringen. Doch sein Denken, dass alles besser wäre, herrschten klarere Verhältnisse, wird zur Ironie. Auch weil die Figur sich so übertrieben freut. Wie ein kleiner Teufel steht Gregers feixend am Rand, während ein anderer die Erkenntnis hat, die sein Lebenskonstrukt auseinanderbrechen lässt.

Werle (Edgar M. Böhlke) mit seinem großen schwarzen Brillengestell erinnert mich an den grumpy old man aus Disneys „Oben“ – aber wird er auch wie dieser Altersmilde? Eher fügt sich sein abschließender Wiedergutmachungsversuch in das Gefüge aus „Wir schaffen eine heile Welt.“ Und dann? Scheitert er, weil keiner der anderen bereit ist, seine Komfortzone zu verlassen, seinen Horizont zu weiten. Vorerst.
Dunkelheit und Taschenlampen, schon sind wir auf dem Dachboden (oft gesehen, aber effektvoll). Die Wildente, Namensgeberin des Stückes, wohnt dort, wird umsorgt und im Gegensatz zu den Kaninchen verschont, wenn im eigenen Fake-Wald auf die Jagd gegangen wird. Für mich wird sie im Verlauf des Abends immer mehr zur Symbol für eine Traumwelt, wie sie nicht (mehr) ist, andererseits: Was ist daran falsch? Das ist das absurde an diesem Abend, dass man meint, die Frage „Wie viel Wahrheit Braucht der Mensch?“ mit „Anscheinend gar nicht so viel“ beantwortet zu bekommen.
Der erste Auftritt Hedvigs, auf Rollschuhen staksend, versprach spannendes Körpertheater. Dann geht es doch wieder viel um den Text. Zusätzliche Textfragmente vermischen sich mit Ibsen-Sätzen, die manchmal trotzdem klingen, als ob sie den Schauspielern gerade aus dem Mund gefallen wären. Vor allem bei Klaus Rodewald fällt mir das häufig auf. Das macht Spaß.
Immer wieder gibt es Wortwechsel und Szenen, die man entweder als Situationskomik oder tieftraurige Tatsachenbeschreibung sehen kann. „Wer sich so nahesteht wie wir“, sagen die beiden Männer und stehen dabei im maximalen Abstand zueinander an den Rändern der Bühne – oder Brillengläser, „mit denen man Feuer machen könnte“. Auch dass sich der zurückgekehrte erwachsene Sohn beim Gespräch mit dem Vater unter dem Tisch verkriecht, ist nur auf den ersten Blick komisch.
Als dann ein mal die wirkliche Welt („die was?“) außerhalb des weißen Bodens angesprochen wird, wird sie gar nicht gebraucht. Im kleinen Kosmos dieser Familie(n) gibt es scheinbar alles – darin steckt die ganze Welt. Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr erfährt man als Zuschauer über die Hintergründe, die Vergangenheit. In einer Art Familienaufstellung wird klar, wie es zur Verworrenheit kam. Die Abgründe werden immer tiefer. Am Ende leidet das jüngste, verletzlichste, naivste Glied der Familie. Die Unmittelbarkeit ihres Erlebens passt nicht in diese konstruierten Befindlichkeiten.
Was in Erinnerung bleibt ist die Spielfreude und Klaus Rodewald, der seine Figur so zeichnet, dass ich mich nicht entscheiden kann, ob Hjalmar etwa tatsächlich nicht der Hellste ist oder eben ein Großmeister im Verdrängen. Ist er wirklich so blind, dass er nicht sieht, dass seine Welt gerade zusammenbricht? Die Energie von Anne-Marie Lux. Und ihr Aluhut. Die Musikerin (Helena Daehler mit ihrer klaren wunderschönen Stimme) als leise Impulsgeberin und eine herrlich traurige Version von „Viel Glück und viel Segen“.
Es hat Spaß gemacht, zuzusehen. Es hat wehgetan, zu erkennen, wie sehr es sich die Charaktere in ihren Co-Abhängigkeiten gemütlich gemacht haben. Das ist es, was mehr noch als das Spiel von diesem Abend bleiben wird: Die Geschichte einer verstrickten Familie. Nicht die Frage „ob“ sondern „mit“ welcher Haltung sie sich in ihr Schicksal fügen. Es zurechtbiegen. Wie sehr sie die Wahrheit des Selbstbetrugs an sich heranlassen. Und Hjalmar (Klaus Rodewald); „Ich bin nicht fürs Unglücklichsein gemacht“, sagt er und dann ist er eben glücklich. Bevor das Chaos zu groß wird, bleibt er dann doch lieber in der festgefahrenen Welt. Und kann man es ihm verübeln? Alle Kränkungen, Beleidigungen, Mitschuld und Verfehlungen werden integriert. Zu einem schönen Bild gestellt. Allerdings sagt er selbst, dass er dazu kein Talent hat. Sein scheinbar rettendes Resümee, die Essenz, der den ganzen Abend treffend zusammenfasst: Mittelmaß wie wir, das geht nicht ohne Selbstbetrug. Das kann doch nicht gefährlich sein. Fast könnte man sie alle ein wenig um diese Haltung beneiden.

Kritik zu "Die Wildente" - von Stefan Steible

Ruhig, ohne jede Hektik versetzt uns Regisseur Elma Goerden in nordische Gefilde. „Die Wildente“ von Henrik Ibsen bietet in der Stuttgarter Inszenierung viele starke Momente, verliert aber gegen Ende den Spannungsbogen. Nach einem unprätentiösen Einstieg, der mehr einem Sprechtheater gleicht als der Szenerie im ersten Akt von Ibsens Werk nahezukommen, nimmt die Erzählung zunehmend an Schwung auf und die Figuren können sich in all ihrer Dramatik entwickeln. An vielen Stellen berühren die Dialoge den Zuschauer zunächst sanft, um dann mit aller Intensität, die Worte vermögen auszudrücken, auf ihn einzuwirken. Am Ende hinterlässt die Inszenierung einen sehr beklemmenden Eindruck.

Die drei Frauenrollen überstrahlen diese Inszenierung. Schauspielerisch überzeugt vor allem Anke Schubert in der Rolle der Gina Ekdal. Es gelingt ihr mehr als überzeugend, zwischen den Zeiten zu wechseln. Während sie in einer Sekunde noch über ihre Vergangenheit sinniert, versucht sie in der nächsten mit Inbrunst und gleichzeitiger Klarheit ihre Ehe zu retten. All ihre verzweifelten Versuche, aber auch ihre Ehrlichkeit nimmt man Gina ab und leidet mehr und mehr mit ihr. Die Ausweglosigkeit ihrer Situation überstrahlt die sonstigen Handlungsstränge in dieser Interpretation. Anne-Marie Lux stellt die perfekte Besetzung für Hedwig dar, wirkt aber an vielen Stellen überzeichnet und bringt den Zuschauer zwar an der einen oder anderen Stelle zum Schmunzeln, aber genauso oft zum Kopfschütteln. Dennoch scheint das Rollenbild und ihre Darstellung einer fast irren, sich selbst zerstören wollenden Tochter dem Publikum besonders zu gefallen.

Das Besondere der Inszenierung sind die immer wiederkehrenden musikalischen Einspieler von Helena Daehler. Sie ist in einer Gastrolle an der Elektrogitarre zu hören und zu sehen. Während sie sich lange Zeit außerhalb der Szenerie hält, wird sie immer stärker ins Geschehen auf der Bühne eingebunden, um schließlich selbst am Tisch zu sitzen und plötzlich vollständig am familiären Drama beteiligt zu sein. Mit ihren Kompositionen verleiht sie ihrer außerhalb des eigentlichen Werkes stehenden Figur unglaubliche Kraft und Stärke ohne Worte, nur durch die Sprache der Musik. Faszinierend daran ist die Detailgenauigkeit und Präzision, mit der sie jeden Beitrag à La Minute auf das Geschehen abstimmt. Einige kurze Gesangsbegleitungen schaffen Gänsehautmomente. Eine mutige, gelungene Idee der Regie.

Die Bühne in dieser Inszenierung ist sehr schlicht gehalten, Lichteffekte verleihen einigen Momenten auf geschickte Art zusätzliche Kraft und schaffen „Wow-Effekte“. De Kostüme fallen da etwas ab und verwirren teilweise eher, als interpretatorische Ansatzpunkte zu bieten. Insgesamt eine sehenswerte, interessante und moderne Inszenierung dieses eher selten gespielten Werkes, die in einer etwas kürzeren Fassung noch mehr überzeugt hätte.

Familiendrama und Lebenslügen - von Peter Schlegel

In Ibsens Drama „Die Wildente“ geht es um eine Familie, die daran zugrunde geht, dass ihre sogenannten Lebenslügen gnadenlos aufgedeckt werden. Eigentlich eine hochaktuelle Thematik: Identität, Lüge, Täuschung, in Zeiten, in denen es immer weniger gesicherte Wahrheiten gibt und weder Wissenschaft noch Religionen als allgemein gültige Wahrheitslieferanten akzeptiert werden. Ich hatte nun gehofft, in einer Neuinszenierung kreative künstlerische Herangehensweisen zu diesen Themen zu finden.

Die Inszenierung von Elmar Goerden war für mich in dieser Hinsicht jedoch mehr als enttäuschend. Das Geschehen auf der Bühne hat mich erschreckend an die Klimbim Familie erinnert, die legendäre Comdey-Serie mit Ingrid Steger, Elisabeth Volkmann und Wichart von Roëll, die Ende der 70er Jahre im deutschen Fernsehen ausgestrahlt worden ist. Da war der soldatische Großvater, der mit seinem Gewehr herumspielte, die freche Göre, die gerissene Ehefrau, der strunzdumme gehörnte Ehemann, der intrigante Hausfreund... eine witzig und charmante Schmierenkomödie, manchmal sogar mit etwas Tiefgang.

Von Tiefgang habe ich an diesem Theaterabend wenig gesehen, dafür jedoch langatmige Erklärungen und überfrachtete durchschaubare Symbolik. Zum Beispiel in einer Art 'Familienaufstellung mit Wildente' stellt der intrigante Freund dem betrogenen Ehemann und Vater pantomimisch in aller langatmigen Ausführlichkeit 'die Wahrheit' dar, die im Publikum jeder schon längst begriffen hatte. Oder: erste Szene Auftritt Gregers Werle: Vorne und hinten hat er ein halbes Dutzend Rucksäcke und Taschen an sich hängen, was wohl heißen soll, da kommt er nun, beladen mit seinen eigenen Komplexen. Oder: am Ende, nach der mehr als unvermittelten Versöhnung, werden die ganze Verletzungen mit Besen unter den virtuellen Teppich gekehrt...

Vielleicht war es ja die Absicht der Inszenierung, sich den existenziellen Fragen zu verweigern und das Drama zu einer Farce umzumodeln. Wenn das die Absicht war, dann wäre es schlüssiger, auf den Selbstmord Hedvigs zu verzichten. Das hätte viel besser in die Friede-Freude-Eierkuchen Atmosphäre gepasst, die sich zum Ende ziemlich unvermittelt eingestellt hat und bei der der betrogene Ehemann, trotz aller schonungslosen Wahrheiten, genau so strunzdämlich geblieben ist, wie er es so schon zuvor war. Obwohl - einen bemerkenswerten Satz hat er dann doch noch zustande gebracht, sinngemäß:  'Man muss versuchen kein Schwein zu sein'. Für diese Erkenntnis hat sich aber der ganze Aufwand nicht gelohnt.

Schauspielerisch hat mir in ihrer trockenen Art nur Anke Schubert als Gina Ekdal gefallen. Das komplett weiße Bühnenbild mit hochgezogenen Wänden, ohne Kanten und mit einer nach unten gebogenen Zunge am vorderen Bühnenrand hat mich an eine norwegische Schneelandschaft erinnert. Am Ende gab es trotz Allem längeren Applaus.

ZU "DAS IMPERIUM DES SCHÖNEN"

The Spieẞer in me is the Spieẞer in you - von S.G.

Ich erwarte vom Theater keinen unnötigen Klamauk in Form von Getanze und Gesinge, keine billige Theatereffekthascherei oder ständige Selbstreferenzialität und auch mit allzu starken Überlagerungen durch angeblich unterhaltsame Ideen der Regie oder wenig gezügelter Schauspieler*innen habe ich meine Schwierigkeiten. Ähnlich unnötig erscheint mir ein Theater, das zu wenig Anregung in intellektueller und ästhetischer Weise bietet, zu wenige Möglichkeiten des Ausforschens menschlich-philosophischer Fragestellungen und keine Identifikationsmöglichkeit mit Figuren oder Konflikten. Wenn ich weder auf neue Gedanken gebracht noch mir Gefühlsregungen ermöglicht werden, ist mir Theater nicht schmackhaft.
Und wenn mir eine Inszenierung nicht in den Kram passt, fange ich an herumzumeckern, mache Regie, Intendanz, Dramaturgie, mangelnde Schauspielkunst, etc. pp. verantwortlich. An mir liegt's nie, wenn mir ein Abend nicht gefällt!

Dunkle Bühne, bunte Figuren, abgründiges Gegeneinander

Mit all meinem Quatsch sitze ich nun also im Kammertheater und harre des Imperiums des Schönen, wobei mir Schönheit angenehm ist, Imperialismus eher weniger. Die Kammer ist karg ausgestattet: Eine schwarze Wand verkleinert die Bühne, lässt seitliche Durchgänge frei und ich ahne bereits, dass mittig sich eine Tür öffnen wird. Ein paar Stühle stehen links und rechts vor der Wand und ganz nah am Publikum auf beiden Seiten je ein Mikrofonständer. Für diesen Raum ist Regisseurin Tina Lanik ebenso verantwortlich wie für die Inszenierung eines Stücks, das seine Kraft aus den Figurenreden zieht und deshalb auf dieser, aufs schier Unsehbare reduzierten Bühne bestens funktionieren wird.
Das Stück und seine Konflikte entwickeln sich aus den inkompatiblen Erwartungen vor allem zweier Mitglieder einer Japan-Reisegruppe: Familienvater Falk hat seine Frau Adriana, seine Zwillingsbuben Ignaz und Ismael und vor allem seinen Bruder Matze nebst neuer Freundin Maja eingeladen auf einen zehntägigen Trip durch Japans Kultur, seine Tempel und Ansichten zum Leben. Er selbst ist Experte auf dem Gebiet, er war schon vorher in Japan, kennt sich bestens aus und hat vor allem schon einige intellektuelle Leistungen hervorgebracht über Manches, was Europäer*innen an japanischer Kultur weder kennen noch verstehen und wofür wir kein Gefühl haben. Mit einigem Sendungsbewusstsein will er seine Erkenntnisse nun vor allem seinem Bruder näherbringen und nimmt dabei in Kauf, dass dessen aktuelle Partnerin mitkommt auf die Reise.

Die beiden können sich allerdings wenig leiden: Von Anfang an findet Falk – gespielt als wunderbar selbstherrlich-überhebliches Arschloch von Marco Massafra – allerhand auszusetzen an Majas gesamter Lebenseinstellung, angefangen ihrem Vegetarismus, der die gemeinsamen Mahlzeiten stark verkompliziert. Nina Siewert gibt ihrer Maja starke Facetten abseits des vordergründigen Bäckereifachverkäuferinnendaseins, stark in Bezug auf Einfühlungsvermögen, stark in Hinsicht darauf, dass sie sich nicht die vegane Margarine vom Mehrkornbrötchen nehmen lassen wird: Sie bietet Falk den ganzen Abend über Paroli – gut so! Ihr Freund Matze kommt sehr sympathisch-schluffig daher und Martin Bruchmann verleiht seiner Figur die Plastizität eines kleinen Bruders, der aus Familienrücksichten die eigenen Ansichten lieber nicht preisgibt und sogar so weit geht, seiner Freundin in den Rücken zu fallen, was er später sehr glaubhaft bedauert. Katharina Hauter nimmt sich zurück genauso, wie es sich für Falks Ehefrau gehört, wobei sie immer wieder andeutet, welche Schwierigkeiten Falk heraufbeschwört mit seiner engstirnigen Vernageltheit. Ihre Hilfestellungen nimmt Falk nie an, also zieht sie sich in den äußeren Schein ihrer Bluse zurück, bis sie auch aus der Enge der Situation herausplatzt, verhalten natürlich aber dennoch konsequent. Die beiden Jungen, gespielt von Daniel Fleischmann und Marielle Layher, sind bisweilen widerliche kleine Besserwisser, die zur Unterhaltung der Reisegruppe ebenso beitragen wie zu der des Publikums. Alle sechs Schauspieler*innen geben ihren Figuren genau das, was sie brauchen, um ihre vielen zu enttäuschenden Erwartungen zur Schau zu stellen, auch wenn das Gegeneinander Falks und Majas die Hauptsache bleibt.

Worum geht es den beiden? Um Essgewohnheiten, um den richtigen Umgang mit der fremden Kultur, um Offenheit im Denken und Fühlen, um das richtige Gefühl für die Mitmenschen. Eine der vielen Fragen, die sich mir stellen: Wie kann es sein, dass Falk so dermaßen zärtlich über Feinheiten des Yūgen – "eine[r] Stimmung, die für Transzendenz offen ist" – zu monologisieren in der Lage ist, aber in keiner einzigen Faser seiner spießigen Engstirnigkeit auch nur ein bisschen etwas von zu fühlen scheint, was er verkündet. Diese Unvermitteltheit von Kopf und Herz, von intellektuellen Höhenflügen einerseits und mangelnder Rückbindung an die eigene Gefühlsstruktur andererseits, birgt Konfliktstoff bis hin zu katastrophalen Vernichtungen und beschäftigt mich den ganzen Abend über. Die Unmöglichkeit Falks, sich auf seine Mitmenschen so einzulassen, dass er sie nicht nur als Bespiegelung seines eigenen Geltungsbedürfnisses gebraucht, wird von der starken Maja zusehends vorgeführt – womit sie sowohl die Sympathien für sich gewinnt als auch die Auseinandersetzungen mit Falk, der nicht in der Lage ist, einen Kompromiss zu schließen. Dazu müsste er nämlich von der eigenen Position abrücken, was sein Ego niemals zulässt.

Verlieren wird Falk am meisten. Am Schluss gewonnen haben die anderen ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung, jedoch auf Kosten der Gruppe, die ebenso aufgelöst ist wie Falks Familie. Mehr narzisstische Kränkung ist kaum vorstellbar.
Gewonnen habe ich sinnliche Erfahrungen darstellenden Spiels, anregende, tiefgründige Dialoge und die große Lust, endlich einmal wieder andere zu animieren, einen Theaterabend zu genießen. Denn danach möchte ich mich gerne austauschen und gemeinsam nachdenken, wo die eigenen Grenzen der Toleranz und Akzeptanz liegen, welche Überheblichkeiten wir selbst ausleben und was das Herumgemeckere an Mitmenschen, Theatermacher*innen oder Inszenierungen mit einem selbst zu tun haben könnte.

Vom "Imperium des Schönen" bin ich begeistert, es bietet, was ich mir wünsche: Anregende Selbstbespiegelung auf vielen Ebenen des Daseins.

ZU "DIE WEBER"

Zombieapokalypse am gläsernen Turm - von Kendra Mäschke

Als Gerhart Hauptmann „Die Weber“ 1891/92 schrieb, verarbeitete er ein Stück Zeitgeschichte, den Weberaufstand von 1844, zu einem sozialkritischen Drama, welches auch im Jahr seiner Uraufführung, fast fünfzig Jahre nach den eigentlichen Aufständen, den Nerv der Zeit traf. Ursprünglich mit einem Aufführungsverbot belegt, konnte die Uraufführung 1893 in Berlin nur in einem privaten Kreis stattfinden – erst 1894 fand die erste öffentliche Aufführung statt.
Georg Schmiedleitners Inszenierung am Stuttgarter Schauspielhaus verdeutlicht die Brisanz des Stücks auch mehr als 100 Jahre später. Sein Fabrikant Dreißiger ist ein im trumpesk-goldenen Anzug gekleideter Chauvi, dessen schicke Designer-Villa einem gläsernen Turm gleicht. Diese wird zu Beginn des ersten Akts passenderweise auf den Händen seiner Arbeiter ins Zentrum der Bühne „getragen“. Die Weber unter seinen Füßen sprechen, flüstern, skandieren und zischen, während er, verstärkt durch ein Mikrofon, über seine Geschäftsprobleme schwadroniert. Das Mikrofon, welches seine Stimme über die der Arbeiter erhebt, findet sich spannenderweise am Ende des zweiten Akts in der Hand des Arbeitermädchens wieder, welches Dreißiger zu sich holt und welches, auf die Frage, wer der aufrührerische Arbeiter sei, nur ein lautloses „Bäcker“ mit den Lippen formen kann. Zwischen dem zweiten und dritten Akt findet sie dann ihre Stimme wieder – und was für eine! Anne-Marie Lux überzeugt nicht nur schauspielerisch, wenn sie in verschiedenen Rollen, mal ängstlich, mal hilflos, mal lasziv, über die Bühne schleicht, tapst oder schreitet, sondern auch gesanglich.
Schmiedleitner gelingt es, aus Hauptmanns Vorlage ein Stück zu machen, welches ebenso gut in den letzten Jahren geschrieben worden sein könnte. Der Berg aus Jeans, auf dem sich der zweite Akt abspielt, erinnert an Szenen auf den Barrikaden in Schönbergs/Boublils Musical-Adaption von „Les Misérables“ – in Akt 3 ist genau dieser Berg auf einmal das Fundament von Dreißigers Welt, seinem Domizil. Die Weber selber sind nicht mehr bereit, sein Leben zu tragen und haben sich bereits abgewandt. Als auch der Berg im Erdboden versinkt, gerät Dreißigers Welt im wahrsten Sinne des Wortes ins Wanken – seine Villa, hängend an Stahlseilen und nunmehr ohne Unterstützung von unten, schaukelt, wackelt und gerät gegen Ende des vierten Akts mehr und mehr, mal rechts, mal links, in Schieflage, wie ein sinkendes Schiff. Als die Weber nach seiner Flucht sein Haus stürmen, erinnert das eher an eine Zombieapokalypse und dieses Bild zieht sich bis zum Schluss des Stücks durch, als alle, wie auf einem Schlachtfeld aus Jeans im Gegenlicht stehen, die Männer mit nacktem Oberkörper, die Frauen in Unterkleidern. Ihrer eigenen Hände Arbeit haben sie davor, wie von Sinnen, über die Bühne verteilt.
Die Inszenierung lebt von unglaublich starken und symbolträchtigen Bildern, unterstützt von einer eindrucksvollen Beleuchtung. Das Publikum wird regelmäßig geblendet – ein genaueres Hinsehen, ein Erkennen der dramatischen Zustände soll verhindert werden. Auch im Jahr 2019 gilt: Welcher Käufer möchte denn schon Genaueres bezüglich der Produktionsbedingungen seiner Kleidung in Dritte-Welt-Ländern wissen?
Passend auch der Schriftzug hinter Dreißigers Minibar in seinem Glaskasten: „Protect me from what I want“ steht da noch im ersten Akt. Sobald die Minibar in Benutzung und aufgeklappt ist, reduziert sich die Aussage auf „Protect me from what (?)“. Hätte Dreißiger zu Beginn eingelenkt, seine eigenen Wünsche zurückgestellt und die seiner Arbeiter angehört, müsste er sich im vierten Akt nicht vor selbigen schützen.
Die Stärke des Ensembles besteht darin, dass sich keiner in den Vordergrund spielt. Die Rollenwechsel tun ihr Übriges, um die Oberschicht zu einer Masse verschmelzen zu lassen, ebenso wie die Weber als Arbeiterschicht als solche agieren.
Georg Schmiedleitner hat Hauptmanns „Die Weber“ erfolgreich in das 21. Jahrhundert übertragen – das von ihm inszenierte Zusammenspiel von Bühnenbild, Beleuchtung, Kostüm, Schauspiel und Dramaturgie stellt auf einer zweiten Ebene unter Beweis, was in Zusammenarbeit geschaffen und erreicht werden kann.


DU MUSST DEIN ÄNDERN LEBEN - Von Larissa Besler

Gerhart Hauptmann, bedeutendster Vertreter des deutschen Naturalismus – bekannt für seine Dramen, denen einige bereits in der Schule freud- wie leidvoll begegnet sind. 1892 erschien sein Sozial-Drama über die Weberaufstände in schlesischen Provinzen von 1844. Ziemlich lange her – warum also etwas so lange Vergangenes ansehen? Ich war zunächst skeptisch, doch siegte die Neugier nach der Ankündigung einer verdichteten Inszenierung mit aktuellem Bezug.
Regisseur Schmiedleitners „Die Weber“ zeigt zunächst ausgehungerte ArbeiterInnen vor nicht enden wollenden Jeans-Bergen. Sofort schießen sämtliche Bilder durch den Zuschauer-Kopf: das sollen sicher die unterbezahlten, notleidenden Menschen sein, die in giftigen Dämpfen in Massenproduktionen in China, Bangladesch, Indien oder sonst wo, unsere Kleidung unter den widrigsten Umständen fertigen. Fabrik-Chef Dreißiger (Thomas Sarbacher) in seinem goldenen Anzug wälzt jegliche Verantwortung gegenüber seinen Angestellten an seinen Bediensteten Pfeifer ab. Selbst den Pfarrer als Vertreter des Christentums macht er sich zunutze. Dreißiger macht sich ein schönes Leben, das – wie seinem Plädoyer entnehmbar – unfassbar anstrengend und kompliziert ist. Die schwächlichen und dummen ArbeiterInnen könnten dies niemals durchhalten – Selbstbeweihräucherung at its best. Die Phrasen über die Verantwortung eines Unternehmers, seine Beschwichtigungen und Selbstversicherung zeigen keinen Funken Empathie oder Versuch von Verständnis. Die elendige Unzufriedenheit der Angestellten wird dadurch jedoch nicht besser. Einer hat sogar seinen geliebten Hund geschlachtet, um nach Jahren endlich einmal wieder ein bisschen Fleisch zu essen. Die nächsten Gedanken: allgemeine Kapitalismuskritik, die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer, Ost-West-Konflikt, verzweifelte Unzufriedenheit und das Aufpoppen von AfD und Pegida und/ oder doch „Hello, Mr. Trump“?
Moritz Jäger (Peer Oscar Musinowski) tritt auf, der von seinem glorreichen Soldatenleben erzählt, betäubenden Schnaps mitbringt und schließlich durch Anstimmen des Weberlieds zur Revolution aufruft. Veränderung jetzt – die Rebellion gegen die Obrigkeiten beginnt. Es wirkt, als begehre eine gesamte Gesellschaftsschicht auf. Die Aufständischen erreichen schließlich Dreißigers luxuriöses Domizil. Es scheint, als würden sie es zunächst noch auf den Schultern tragen, dann demolieren sie es und plötzlich bekommt der feine Herr doch etwas Panik. Jäger wird von der Polizei festgenommen und beim Abführen von der gewaltvollen Masse doch wieder befreit. Die Polizei wird vermöbelt, Dreißiger entschwindet. Die RebellInnen ziehen weiter und wollen im Nachbardorf auch andere Leidtragende ermutigen. Das Militär stellt sich der Masse in den Weg, sieht sich jedoch gezwungen, den Rückzug anzutreten. All dies geschieht im Off, wir sehen nur den alten Webermeister Hilse den Aufstand verurteilen. Er glaubt weiterhin an eine christliche Gerechtigkeit sowie ein irgendwann kommendes göttliches Eingreifen. Schließlich schießt eine Kugel der Soldaten quer und tötet ihn.
Mit welcher Intention Hauptmann das Stück niedergeschrieben hat, ist bis heute umstritten. Vermutlich wollte der Autor die Wiederauferstehung der 1848 gescheiterten Revolution erzwingen. Daher wurde dem Stück auch noch vor der Uraufführung ein Aufführungsverbot erteilt, dass 1893 wieder aufgelöst wurde. Der am Ende sterbende Hilse steht also für einen christlichen Konservativismus, der auf eine höhere Macht hofft, anstatt selbst für eine Veränderung in Aktion zu treten. Genau dies kam jedoch in Georg Schmiedleitners Inszenierung viel zu kurz. Hilse fällt und bevor die Situation wirken, die Bedeutung sacken kann, stehen im hinteren Teil der Bühne bereits alle zum Applaus parat. Warum dazwischen zudem die Verfeindeten Dreißiger und Jäger Arm in Arm stehen, erscheint mir ebenso unverständlich. Gehörte dies noch zur Inszenierung oder war dies bereits eine Premieren-Beglückwünschung? Generell empfinde ich das Ende als etwas schludrig geraten, ebenso die unkoordinierte Applausabfolge. Abgesehen davon ist diese komprimierte Fassung angenehm und tiefgründig. Die puristisch gehaltene Bühne legt den Fokus ganz auf die DarstellerInnen. Dreißigers Haus als fahrbarer, getragener, dann schwebender Glas-Quader unterstreicht die Kluft zwischen Arm und Reich. Vor allem die Sprechchöre sowie die bloße
aufgereihte Menge der ArbeiterInnen hat eine beeindruckende, kraftvolle Wirkung, die erst die Unzufriedenheit und dann den enthusiastischen Aufbruch zur Schlacht stark zur Geltung bringt. Der passende Einsatz von Licht und Nebel unterstützt diesen Effekt. Starke Bilder, die diese Inszenierung zeigt, aber auch viele Interpretationsvarianten – ob dies gut oder schlecht ist, lässt sich diskutieren.

Im Hochofen des Kapitalismus - von Amos Heuss

Noch bevor die ersten Sätze erklingen, ist der Ton gesetzt: Der schwarze Brandschutzvorhang vor der Bühne ist heruntergelassen, nur ein zwei Meter hoher Streifen bleibt offen und gibt die Sicht auf eine Düne von Blue Jeans frei. Kaum merklich wabert Rauch im Hintergrund – es entsteht der Eindruck eines riesigen Hochofens. Mit knappsten gestalterischen Mitteln ein so zwingendes Bild zu erzielen, dazu möchte man Volker Hintermeier gerne gratulieren, dessen Bühnenbild ohnehin eine Hauptrolle in Georg Schmiedleitners Inszenierung der „Weber“ von Gerhart Hauptmann spielt.

Dass in den kommenden 90 Minuten eingeheizt werden soll, macht der erste Akt von Anfang an deutlich. Geschoben von sich in die Höhe reckenden Webern beziehungsweise Arbeitern –  die Textfassung der Inszenierung vermeidet jede Referenz auf die titelgebenden Weber – schwebt eine glänzende Stahlplattform mit silbernen Vorhängen ein, auf der sich der Fabrikant Dreißiger (gegeben von Thomas Sarbacher) im goldenen Diskoanzug als sinnierender Alleinunterhalter am Ständermikro betätigt. Erhellend im doppelten Wortsinn ist an diesem Bild vor allem die sich unten mühende Arbeiterschaft: Durch starke Scheinwerfer von hinten angestrahlt und kräftig durch Bühnennebel zum Rauchen gebracht vermittelt sich der Eindruck eines lodernden Feuers, das erst für die richtige Temperatur in den oberen Stockwerken der Gesellschaft sorgt. Verrußt-schuftende Hungerleider als Brennstoff der bling-bling- Ökonomie – hier scheint der Auftakt zu einem explosiven Theaterabend gelegt zu sein.

Sprengkraft hat das Stück wahrlich genug: 1892 erschienen, handelt es vom Aufstand der schlesischen Weber von 1844, bildete jedoch auch deren soziale Lage im Kaiserreich ab. Hauptmanns Darstellung der Folgen ungezügelter kapitalistischer Entwicklung wurde von den wilhelminischen Behörden sofort mit einem Aufführungsverbot belegt und konnte erst zwei Jahre später öffentlich gezeigt werden. Der Plot von den einfachen Webersleuten, die ihr elendes Leben nicht mehr ertragen und aus Verzweiflung und Wut gegen ihre ökonomischen Unterdrücker losschlagen, ohne sich noch um Recht, Gesetz und Herrschaftsverhältnisse zu kümmern, ist längst zum Klassiker sozial engagierter Bühnenliteratur avanciert. Immer wieder wurde die Dichtung zum Anlass wütender Gegenwartsanalysen der kapitalistischen Wirtschaft, ihrer Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnisse genommen.

Leider will sich die versprochene Hitze nicht so richtig einstellen. Die Inszenierung hält viele Feuer am Lodern, bleibt dabei jedoch merkwürdig kühl. Doppelt und dreifache Böden machen es mitunter schwer, das Wesentliche im Blick zu behalten, Leidenschaft kommt angesichts der vielen angebotenen Lesarten kaum auf. Dies zeigt sich bereits zu Anfang der Aufführung: Die aufgehäuften Jeans, welche die Arbeiter unaufhörlich aufheben, falten und wieder zu Boden werfen, stehen eben nicht nur für die textile Beschäftigung des Lumpenproletariats – sie können unschwer auch als gespenstischer Fingerzeig auf die Kleiderberge gelesen werden, welche durch die Versklavung und Vernichtung von Millionen von Menschen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern entstanden. Sehen wir hier eine Form von Vernichtung durch Arbeit, wie sie, zumindest im übertragenen, das heißt existenziell-menschlichen Sinn, in Hauptmanns Text durchscheint?

Noch bevor der Gedanke ganz durchgedrungen ist, lenkt schon der deckenhohe Spiegel die Aufmerksamkeit auf sich, vor dem Dreißiger monologisiert. „PROTECT ME FROM WHAT I WANT“ steht auf diesem, dem Publikum wird die eigene Verstrickung unter die Nase gerieben. Was wir wollen – finanziellen Wohlstand etwa – wird nicht nur auf dem Rücken der anderen erworben; es kann sich auch bedrohlich gegen uns wenden, wenn die Habenichtse der Gesellschaft erst einmal aufbegehren. Mehrmals wendet sich die Aufführung an die Ränge, etwa am Ende des zweiten Akts, wenn plötzlich eine Batterie Scheinwerfer sanft den Zuschauerraum erleuchtet und Emilie (gespielt von Anne-Marie Lux) melodiös auf Englisch ins Publikum säuselt: „Fear has never been a good adviser“ und „everything is change“. Da eine naturalistische Ästhetik nicht in Frage kommt, werden Appelle an die emotionale Betroffenheit der Zuschauer durch den direkten Kommentar zum Publikum ersetzt. Das mag vor emotionalem Kitsch schützen, lässt aber nicht gerade Empörung über die gegenwärtigen Zustände aufkommen.

Der naturalistische Blick wird an diesem Abend jedoch nicht nur gebrochen, sondern auch bis zur Kenntlichkeit aktualisiert. Die Arbeiter treiben neben Verzweiflung, Hunger und Rachedurst auch Sendungsbewusstsein und der Wille zur Performance an. Das wird spätestens mit dem Auftritt des eben aus dem Militär entlassenen Arbeitersohn Moritz Jäger (Peer Oscar Musinowski) zu Beginn des zweiten Aktes klar, der in DSDS-Manier auf die Bühne geschlendert kommt und sich für den Rest des Abends durch die Akte ulkt. Gemeinsam mit dem Arbeiter Gottlieb (Jannik Mühlenweg) bildet er ein Paar geiler Macker, die dem restlichen Bodensatz der Gesellschaft den Weg durch die technogesättigte Randale in Dreißigers Villa im vierten Akt und in die Straßenkämpfe mit der Ordnungsmacht am Ende der Inszenierung weisen. Diese Weber sind mehr Typen denn Figuren, Talk-Shows entstiegene Klischees mit genau der Art rücksichtsloser Brutalität und Stumpfsinn, die dem bürgerlichen Betrachter jede durch menschliche Ähnlichkeit aufkommende Sympathie verwehren. Gezeigt werden keine romantisch-sympathischen Naturmenschen, vielmehr Unterprivilegierte der hässlichen Art und dennoch Opfer der herrschenden Verhältnisse und ihrer Profiteure. Dabei gehen zwar die seelisch-moralische Ambivalenz und die sprachliche Authentizität verloren, die Hauptmanns Figuren so plastisch machen; vermieden wird aber ein kulinarisches Klassiker-Souper, dass den Zuschauer zum bloßen Konsumenten einer fernen Vergangenheit degradiert. Am Ende des Abends wird den Webern denn auch die moralische Integrität verwehrt, die Hauptmann den zum Untergang geweihten noch zubilligte: Statt wie im Stück in den sicheren Tod im Kampf gegen die Staatsmacht zu ziehen, lässt sich der übriggebliebene Gottlieb vom Fabrikanten Dreißiger eine dicke Zigarre reichen. Die Opfer seiner Genossen waren nicht umsonst, sie haben in der natürlichen Selektion der Starken und Erfolgreichen einem neuen Stern am kapitalistischen Firmament den Aufstieg ermöglicht.

Ausbeutung, Gewalt und Aktualität - Von Daniel Michalos

Die Bühne gleicht einem Schlachtfeld. Das Ensemble watet in den herumliegenden Jeans – ihrem früheren Produkt – wie in einem Sumpf aus Blut. Nebel steigt auf. Ein grelles Licht taucht die Bühne in ein Inferno. Nach fast anderthalb Stunden hat Georg Schmiedleitner alles versucht und doch nichts erreicht.

Es beginnt mit einem Monolog des Fabrikanten, zu dem der Chor wie biomechanisch angetrieben immer wieder Jeans faltet und sie auf einen Haufen wirft, von wo sie ein anderer ArbeiterInnen wieder aufnimmt, ausschüttelt und wieder faltet. Wut mischt sich in die immer gleichen Bewegungen ein. Wut über den Bullshitjob, den auch der Pfeifer innehat, der Controller sozusagen, der nichts anderes tut, als Zahlen aufzuschreiben. Immer kuschend vor dem Fabrikanten und vor den ArbeiterInnen. Aber die Wut, die Aufregung führt zu nichts. Mehr Wut, mehr Aggression, mehr Zerstörung. Das Haus des Fabrikanten abgewrackt, der Polizeichef gelyncht. Soldaten, die in die Stadt einmarschieren. Die angekündigte Revolution ist so von gestern, wie das Stück, auch wenn es doch eigentlich aktueller denn je sein müsste. Grade in Stuttgart – der Autostadt, wo der Fabrikant auch Dieter heißen könnte und die Bewegungen der ArbeiterInnen am Band ähnlich mechanisch verlaufen. Und wo auch in den Büros ein Bullshitjob den nächsten jagt und von den MitarbeiterInnen mehr Einsatz, mehr Zeit, mehr Energie verlangt wird. Wo eine Wirtschaftsministerin den 12-Stunden-Tag fordert, obwohl Keynes bereits 1930 eine 15-Stunden-Woche vorhersagte. Eine Gesellschaft, in der Jobs kreiert werden, die dazu da sind, nichts Sinnvolles oder Produktives zu tun, aber Arbeitsplätze abgeschafft werden, die direkt in der Wertschöpfungskette liegen.
Die wirkliche Frage, die sich dann auch stellt, ist: Brauchen wir Revolution oder Evolution? Aufstand oder Verständigung? Gewalt oder Konsens?
Von den Webern wird hierzu keine Antwort gegeben. Die Gewalt, die Gottlieb und Moritz Jäger anzetteln, führt nicht zu Gerechtigkeit. Die Politik, die der Fabrikant anruft, ist machtlos. Eine Idee wird an die andere gereiht (die meisten davon grandios), und nehmen sich dabei die Aufmerksamkeit. Immer wieder werden so Bilder evoziert, die von Biomechanik über V-Effekt zu Battleship Potemkin reichen. So gut und eindrücklich diese aber auch sind, sie stehen für sich alleine, sie verbinden sich nicht zu einem Ganzen. Also wird einfach alles herausgeschrien. Direkt ins Publikum. Also ob die ArbeiterInnen den Revolutionsaufruf sprichwörtlich nehmen und uns gleich mit in die Mangel nehmen wollten. Als ob Emotionen wertlos sind in dieser Gesellschaft und direkter menschlicher Kontakt (außer körperlicher) nicht zum Ziel führt. Dabei ist dieser ganz klar: Wer lauter schreit, gewinnt! Lediglich Anne-Marie Lux als Emilie verschafft ihrer Stimme Gehör. Weil sie eben nicht schreit, sondern die ruhigen Momente auskostet, singt, erzählt, schaudert. Und so wie sie nicht schreit, sondern ihre Stimme leiser erhebt als alle anderen, wird sie am Ende zu den verlierenden Gewinnern zählen. Die Einzige mit einer Stimme, die einzige, die ihr Glück nicht selber in die Hand genommen hat. Für alle anderen gibt der Lärm der Revolution keinen Platz für ihre Stimme her.

So erreicht trotz aller Brecht’schen Akrobatik das Publikum die Message nur in einer Form Absolution: Die Reinigung des Gewissens, dafür, dass wir an den richtigen Stellen lachen, dass wir entrüstet sind, wenn wir es sein sollen, dass wir eben das Böse in dem Stück erkennen und auch Schlecht heißen. Am Ende spenden wir dann mächtig Applaus für diese Tour de Force und am liebsten für uns selber. Nach dem Stück ist dann allerdings wieder vor dem Stück. Konsum.

ZU "MEDEA"

Machtkampf zwischen Stille und Text, Reden und Schweigen - von Daniel Michalos

Am Anfang steht für mich immer die Frage, wo sich eine Inszenierung „Medea“ zwischen wildem Tier, verrückter Frau oder einer Person, der Unrecht angetan wurde, verortet.
Mateja Koležnik beginnt ihre Medea mit einer leeren Bühne. Ein kaltes Treppenhaus mit einem hell erleuchteten Aufzugsschacht in der Mitte wird der Schauplatz von Grillparzers Drama. Die folgende Stille (oder ist es eben ein Schweigen, das das Leid bereits vorwegnimmt) wird durch den heulenden Wind und die klappernden Fenster umrahmt. Das Bühnenbild erinnert an einen Film der Berliner Schule. Kühl und mit Grün-, Blau- und Brauntönen. Die Wände gefliest, damit die Schuld wie Blut am Ende der Tragödie von den Wänden gespült werden kann. Es bietet Raum für Szenen und Momente ohne Text, vielleicht sogar gänzlich ohne Spiel.
Es sind ein paar wenige elektrisierende Momente, bis Marietta Meguid als Gora und Sylvana Krappatsch als Medea die Bühne betreten. Ab diesem Moment entwickelt sich ein Machtkampf zwischen Stille und Text, Reden und Schweigen und vor allem zwischen Mateja Koležnik und Franz Grillparzer. Meguid und Krappatsch nuscheln sich den Text in bester Filmmanier zu, sezieren die Versform von Grillparzer, fragmentieren, wo es nur geht. Das tut dem Text von Grillparzer gut, nur leider schaffen das nicht alle. Koležnik fragmentiert das Stück. Immer wieder kommen Szenen des Schweigens als Ausdruck der Unterdrückung Medeas, der keine Stimme gewährt wird für ihr Leid; für das was ihr angetan wird. Diesen Szenen könnte ich noch deutlich länger zuschauen und in diesen Momenten entwickelt Krappatsch mehr Charakter auf der Bühne als es ihr Grillparzer im gesamten Text zugesteht.
Aus der eindimensionalen textlichen Medea wird so eine plastische, mehrdimensionale, zerrissene Medea, die Grillparzer nie liefern könnte und die Krappatsch aufgrund ihres Körperspiels eindrücklich gelingt. So wie sich in Medeas Figur die Frage aufwirft, ob in der Frau Trauer und Wut, Opfer und Agitatorin gleichzeitig vereint werden können, öffnet sich Krappatsch der Frage und bildet die Projektionsfläche für meine Gedanken. Kreusa (gespielt von Katharina Hauter) soll den Gegenpol spielen; leicht, traurig, einfach. Auf ihr sollen in Grillparzer Text die Sympathien ruhen, sie soll den Gegenpol zu Medea bilden. Dass das in meinen Augen nicht geschieht, liegt an Koležniks Inszenierung und Krappatschs Medea. Schon in Euripides‘ Medea ist sie deutlich stärker aus einer Emulsion verschiedener Gefühle gezeichnet, als es in den späteren, christlich geprägten Textversionen der Fall ist. Koležniks Medea ist in diesem Sinne nur die Weiterentwicklung dieser Figur, der sich die Kategorisierung von Gut und Böse, diesen eindeutig religiösen Deutungen, verschließt und somit die gesellschaftliche Ordnung an sich hinterfragt.
Das einzige Zugeständnis an Grillparzers Medea sind die Momente, in denen Medea von den Geistern der Toten heimgesucht wird. Was zunächst aussieht wie der Abstieg in den Wahnsinn, die Legitimation für ihr Handeln, erscheint mir vielmehr wie die Darstellung ihrer Sensibilität. Medea ist die einzige, die eine Verbindung zu den Toten herstellt (unabhängig davon, ob sie sie nun getötet hat oder nicht, von einer Frage der Schuld ganz abgesehen). Für alle anderen ist das menschliche Leid, das Leben den eigenen Zielen untergeordnet.
Kreon und Medea prallen dabei immer wieder wie zwei inkompatible Teile einer tristen Welt aufeinander. Unverstanden stehen die beiden Figuren auf der Bühne und sprechen sprichwörtlich, wie auch inhaltlich aneinander vorbei: Kreon als Agent des nekropolitischen Patriarchats und Medea als Vertreterin der biopolitischen Weiblichkeit. Durch ihren Entschluss, diese Definitionen umzukehren, entwickelt sie sich für die Männer der Geschichte zu einem Risikofaktor, einer Gefahr für deren Macht. „Mir graut’s vor deinen dunklen Mächten“, ruft Jason noch. Wie sinnbildlich ist dieses Bild, da es doch nicht Medeas dunkle Mächte sind, die der Tragödie Startpunkt sind, sondern das Begehren der Männer. Medea aber hinterfragt und deshalb muss sie ausgeschaltet werden. Klaus Rodewald (Kreon) kämpft dagegen an, während sich Jason bereits seit langem ergeben hat. In jeder Szene schiebt er Medea an, drängt sie in die für die Frau geschaffene Rolle, in die er auch seine Tochter erzogen hat, und erst der äußerste nekropolitische Akt Medeas raubt ihm den Willen. Am Ende bleiben die Männer Kreon und Jason alleine auf der Bühne zurück, verlassen von den Frauen und nur mit ihrer Schuld ausgestattet. Wie schön könnte die Welt doch sein, wenn es sie nicht gäbe?

Stäffele nuff, Stäffele na – von S. G.

Ein erster Gedanke: Coole Bühne! Hinter dem eisernen Vorhang kommt ein portalhoher Aufbau eines Treppenhauses zum Vorschein, das sich zickzack um einen milchgläsernen (Aufzug-)Turm herumwindet. Wir blicken auf die Holztreppen, von innen strahlt der Turm, Wände und Decken sind grün gefliest. Die Milchglasfenster des Turmes klappern im zugigen Treppenhaus. Keine sehr einladende Atmosphäre.
Hier soll nun also Grillparzers Medea gespielt werden, in aller Kürze, gehetzt. Denn das ist es doch, wozu ein Treppenhaus unweigerlich verleitet, zum schnellen Hoch und Runter, zu Auftritten und Abtritten im wörtlichsten Sinn.
Medea tritt meist von oben auf, dazu ihre beiden Kinder und die Amme, während für König Kreon nebst Tochter Kreusa und Wunschschwiegersohn Jason, dem Noch-Ehemann Medeas und Vater ihrer Kinder, der Auftritt von unten vorgesehen ist. Medea verschwindet zwar auch zwei Mal zum Rauchen in den Keller und Jason schaut nach den Kindern im oberen Stockwerk, aber ansonsten bleibt die Regie der Oben-unten-Aufteilung treu.
Wir sehen also die Bewohner eines Mietshauses, die eine gewisse Vorgeschichte haben: Medea muss vor Ihrem Vater aus Kolchis fliehen, Jason fiel ebenfalls in Ungnade seiner Polis Jolkos. Beide flüchten zusammen mit ihren Kindern und stranden in Korinth.
König Kreon will die Flüchtlinge nur ohne Medea bei sich aufnehmen, weil sie ihm zu wild sei. Wie er darauf kommt, dass von Medea eine diffuse Gefahr ausgeht, verdeckt die Inszenierung zum Beispiel durch dunkle Kleidung, von Kleid bis Neglige, Zigaretten-Monologe aus dem Keller und arg zurückhaltendem Spiel: Medea wirkt zwar etwas mitgenommen, aber auf einen Kaffee würde man sich schon in ihre Wohnung bitten lassen, um der guten Nachbarschaft willen. Die vielen Striche am Text sind weniger Konzentration als vielmehr Reduktion auf den Aspekt eines Scheidungsdramas, das jedoch die Geschichte und den Zauber der Figuren zu stark beschränkt.
Kreusa, die Tochter Kreons, freundet sich ganz gut mit Medea an und beide kümmern sich liebevoll um die Kinder aber mehr noch mit Jason, dem seine Frau nach Kreons Einwand immer unheimlicher wird. Beide, Jason und Kreusa, schwelgen in Jugenderinnerungen.
Als ein Herold die Treppe hinauf eilt und den Bann Jasons und Medeas aus Jolkos verkündet, ist für Kreon klar: Medea muss sein Land nun verlassen, ohne Jason, und vor allem ohne Kinder. Nach manchem Hin und Her mit Jason will er ihr schließlich einen der zwei Knaben überlassen, die Kinder sollen selbst entscheiden, welcher, ganz wie es zu ordentlichen Scheidungsauseinandersetzungen gehört. Freilich sind die Kinder damit überfordert, sie wenden sich an Kreusa, ihre Stiefmutter in spe.
Da sitzt nun Medea im Treppenhaus und krümmt sich auf der Treppe vor Leid. So ganz leicht fällt ihr die Tötung ihrer Kinder wohl nicht, aber irgendwann geht sie treppauf und kommt kurz drauf mit Kissen wieder herunter, die Kinder sind tot.
Auch Kreusa, die Rivalin, ist inzwischen vergiftet durch Medeas Hochzeitsgeschenk. Kreon, mit so wenig Ausdruck wie den ganzen Abend über, nimmt diese Neuigkeiten zur Kenntnis und schickt Jason fort, er ahnte ja ohnehin schon früh, dass Medea Unheil bringt. Nun ist es Jason, der auf der Treppe hockt und sich zusammenkrümmt, als er vom Tod der eigenen Kinder erfährt, sein Gesicht verdeckt, der Rücken zum Publikum.
Insgesamt immer wieder ein verstecktes Spiel: Im Turm laufen hinter Milchglas nackte Geister umher, die Seelenqualen Medeas äußern sich genauso wie diejenigen Jasons durch diejenigen Verkrümmungen, zu der die Treppe eben auffordert, wenn sie sich nicht gerade in den Keller hinunter gegangen ist.
Wenn man Pathos und Emphase aus dem Stück streicht, bleibt nicht viel übrig. Der Star des Abends sind die Stäffele, sie bestimmen die Handlung, sie greifen ein in Tötungen und Wehklagen, sie machen aus den Figuren (Könige, Prinzessinnen, Fürstentöchter und -söhne) ganz normale Leute mit ganz normalen Problemen, wie "Wer bekommt die Kinder?" Das Treppenhaus entzaubert den Mythos, das Spiel hinter Milchglas und mit dem Rücken zum Publikum verdeckt, worum es bei Grillparzer gegangen war: Um ein Flüchtlingsdrama und die Liebe Medeas zu Jason und ihre grausame Entscheidung – zum Wohl ihrer Kinder.
Grillparzers Verse funktionieren gut, seine Sprachgewalt und Rhythmik könnten fesselnd sein, wenn sie nicht durch Bühne und Regie allzu sehr gehemmt würden, sich zu entfalten. Bei aller Metaphorik der Stufen, zu sehen ist und bleibt ein Treppenhaus. Das einzige, was an dieser Aufführung glänzt, sind die grünen Kacheln an Wänden und Decken.

zu "Jugend ohne Gott"

Eine Welt ohne Gerechtigkeit - von Yael Brunnert

Stuttgart, 25. November 2018. Bedrohlich, kalt und düster, so beginnt es schon. Gespitzte Holzpfähle hängen von der Decke wie Damoklesschwerter. Daneben ein kaltes Karussell, bestehend aus Ketten, an die später noch Lederwesten gehängt werden; eine Anmutung an Sadismus. Die Jugend ohne Gott, alle in denselben hellblauen Kostümen mit Kapuzen, tritt zu bedrohlichen Klängen auf. Sie starrt sich feindlich an und geht aufeinander los. Es wird geschlagen und gewürgt. Später dann exerziert sie unter dem Kommando vom Feldwebel, verkörpert von dem sehr vielseitigen Sebastian Röhrle. Der Lehrer, so schön leidend gespielt von Marco Massafra, ist abseits und man ahnt schon, dass er nie dazugehören wird.

Am Anfang spricht der Lehrer noch, „denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend auf“ und er macht seine Meinung bei dem Pfarrer deutlich. „Wieso ist die Kirche auf der Seite der Sägewerke und nicht auf der Seite der Kinder am Fenster, die nichts zu fressen bekommen?“ Der Pfarrer antwortet, dass es so sein muss, weil die Reichen gewinnen. Diese Antwort gefällt dem Lehrer nicht. Der Pfarrer fährt unbeirrt fort, man darf Gott nicht vergessen, aber der Lehrer kann nach dem Krieg nicht mehr an ihn glauben. Doch im Laufe des Abends wird der Lehrer immer leiser. Er beobachtet, und der Spitzname „Fisch“ von T, gekonnt kalt verkörpert von Robert Rozic, scheint zu passen. Aber im entscheidenden Moment spricht der Lehrer wieder. Man meint erst, es ist zu spät. Denn ein Junge ist gestorben, der N (Daniel Fleischmann), verletzlich und bedrohlich zugleich. Der Z, (Julian Lehr) sensibel und auch aggressiv, soll ihn umgebracht haben, weil N sein Kästchen mit dem Tagebuch erbrochen hat. Hier schweigt der Lehrer noch. Doch dann gesteht er dem Richter, dass er das Kästchen erbrochen hat. Die Frau in Weiß, E, gespielt von Celina Rongen, die viele ergreifende Monologe an diesem Abend hat, klagt den Lehrer zuvor immer wieder an: Wieso hat er nicht früher etwas gesagt?!

Doch diese gute Tat bringt nichts Gutes mit sich. Gott hat diese Welt verlassen. Denn weil der Lehrer die Wahrheit gesagt hat, sagt Eva (auch Celina Rongen) nun auch die Wahrheit und wird dann zu Unrecht verurteilt. Denn niemand glaubt ihr, dass sie bei der Tat zwar dabei war und, obwohl sie einen Stein in der Hand hielt, ihn nicht geschmissen hat, weil er ihr von einem Fremden aus der Hand gerissen wurde. Aber es ist ohnehin eine tragische Welt. Hätte sie nichts gesagt, wäre ihr Freund Z, der Eva liebt und die Schuld auf sich nahm, unrechtmäßig verurteilt worden. Gerechtigkeit gibt es also nicht.

Für kurze Hoffnung in der verlorenen Welt sorgt die Liebe von Eva und Z. Eva, sie ist die Einzige, die einen richtigen, und natürlich nicht zufällig gewählten, Namen hat. Aber auch diese stellt sich nachher als einseitig heraus, denn Eva sagt in ihrer traurigen Verletzlichkeit, dass sie den Z nicht geliebt hat; obwohl man nicht sicher ist, ob sie es dem Richter (auch Sebastian Röhrle) nur nicht sagen will. Eva und der Lehrer werden zu Geschassten. Einzig Julius Caesar (wieder Sebastian Röhrle, der heimliche Favorit an diesem Abend) ist auf der Seite des Lehrers, findet es mutig, dass er die Wahrheit gesagt hat; zugleich aber auch dumm, weil er nun nie wieder eine Lehrerstelle finden wird. Hier ist sie wieder, die fehlende Gerechtigkeit.

Es bleibt jedoch nicht bei dem einen Toten. Der Mörder T wird zum Selbstmörder und hinterlässt einen Brief, in dem er den Lehrer anklagt. Er habe ihn in den Tod getrieben, weil er wüsste, dass er den N umgebracht habe. Der Lehrer hatte ihn überführt, weil Eva den Fremden mit Fischaugen beschrieben hatte, seelenlos. Ganz am Anfang heißt es schon, dass wir uns im Zeichen der Fische befinden. Zwischen dem Lehrer und T gibt es eine starke Szene. Sie sind sich bedrohlich nah, T ist hier noch arrogant, sagt, er sei unschuldig, weil er Rehaugen und keine Fischaugen habe, der Lehrer sei der Fisch. Dieser lässt sich aber nicht einschüchtern, der Lehrer lächelt sogar zum ersten Mal. In der Körperlichkeit von T spürt man hier schon, später wird es noch verstärkt, dass er sich seiner nicht mehr ganz so sicher ist.

Als man erfährt, dass er sich umgebracht hat, weiß man nicht, ob man mit ihm Mitleid haben soll. Mit seiner Mutter, auch Robert Rozic, was das Dilemma unterstreicht, dass man schwer zwischen Schuldigen und Unschuldigen unterscheiden kann, fühlt man vielleicht etwas mit. Doch ihr Auftritt ist eigentlich zu kurz, um eine emotionale Bindung aufzubauen. Mit dem Lehrer, dem Neger, wie seine Schüler/Innen ihn nennen, weil er sich für die Neger ausspricht, fühlt man mit, als er am Ende mit seinen traurigen Augen in den Zuschauerraum blickt. „Der Neger fährt zu den Negern“. Hier hält ihn nichts mehr und man wird an das Zitat von Rilke erinnert, das früher schon einmal fiel: „Die Einsamkeit ist wie ein Regen, sie steigt vom Meer den Abenden entgegen…“.

Zwischen Generationskonflikten, Verrohung und Kälte - von Maria Walter

„Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit feurigen Schwertern.“ Die Sprache Horváths ist oft bildhaft, stark und poetisch. Das Bild des Fisches zieht sich durch das gesamte Stück. Zeitalter, Augen, Seelen. Was wird das für eine Generation? Viele große Fragen.

Gut, dass ein paar dieser Sätze noch einmal im Programmheft stehen. Manchmal vermisse ich ein wenig Luft, ein bisschen Zeit, um einzelnen Sätzen noch nachzuhängen. Am liebsten will ich sie festhalten, doch dann geht es weiter. Es müssen ja auch viele Informationen untergebracht werden in diesen knapp zwei Stunden. Ein wenig anstrengend ist das schon. Einmal schaue ich auf die Uhr. Noch 20 Minuten. Auch wenn es ein Sonntagabend ist, lange kann ich mich nicht mehr konzentrieren. Das Gute: Manchmal kann man auch getrost die Augen schließen, so packend sind die erzählenden Passagen – vor allem Celina Rongen schildert genial mitreißend. Da hätte es den Regen und die laute Totenglocke und den Sarg gar nicht gebraucht.

Anfangs wechseln sich spielerische und erzählende Szenen recht gleichmäßig ab. Ich bin dankbar für die „Pausen“, in denen ich das eben Gehörte sacken lassen kann. Auch wenn dabei natürlich durch die Figuren, die sich im Raum bewegen, wieder ganz neue Bilder in meinem Kopf entstehen. Das Bühnenbild erscheint zunächst schlicht, erweist sich aber als extrem wandelbar.
Im Fortgang des Abends wird es jetzt auch inhaltlich dichter. Trotz der Informationsflut bin ich froh, gerade dieses Werk Horváths noch nicht so gut zu kennen. Denn so ist es für mich noch eine echte Neuigkeit, zu erfahren, wer den Z denn nun wirklich erschlagen hat. Wie es weitergeht mit dem Lehrer.

Besonders beeindruckend: Diese „Jugend ohne Gott“, grob, brutal, in ihrem Raufen wirken die Jugendlichen auf mich wie junge wilde Tiere. Eben noch so machtkämpferisch, sind sie in der nächsten Szene ängstlich, befolgen synchron zitternd die Anweisungen des Feldwebels, üben, stehen still, halten Wache. Ist sie gar nicht so platt, gottlos, grob? Ist sie nur auf der Suche? Da fragen sie dann mitten im Chaos des Lagers doch wieder den Lehrer um klare Anweisung, eine Richtung. Sie sind eben doch auch noch Kinder – die Fangen spielen, Nähe erforschen, Karussell fahren. Und sie sind Kinder, die Angst haben und einsam sind. Die noch keine Zungenküsse kennen, die erschrecken, wenn sie merken, dass sie eine Seele haben. Aber eben nicht alle bemerken das. Dem, der es tut, wird es zum Verhängnis. Überhaupt: Dieses ganze System ist nicht so starr, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Selbst der Feldwebel ist kein 100%iger Vertreter - „Reden wir besser nicht über den Krieg, ich habe drei erwachsene Söhne.“

Immer wieder werden tolle Bilder auf der Bühne hergestellt. Ein Junge stirbt an einer Lungenentzündung. Ein Fußballengel holt ihn ab (wieder beschwört „nur“ eine Erzählung dieses Bild vor dem inneren Auge). Ein Trauerzug im Kreis, ein Reigen, ein Totentanz, fast unbemerkt verschwindet der Betrauerte. Es gibt viele Rollenwechsel, und doch steht jede Figur ganz für sich. Die Dreieinigkeit des Gerichts, in einem ganz eigenen Tanz, stellt als erstes die Frage: „Glaubst du an Gott?“ Das ist auch einer dieser Momente, in denen ich froh bin, dass die Kostüme – schlicht, mit wenigen Attributen arbeitend – mich nicht auch noch vor Interpretationsaufgaben stellen.

Was mich im Fortgang des Stückes fast am meisten erschreckt: Die Mörderfigur wird mir verständlich, ihre Beweggründe nachvollziehbar – denn sie zeigt menschliche Regungen. Das wird vor allem durch den Lehrer möglich, das behutsame Erzählen Marco Massafra, der diese Figur auch durchschaut, sie versteht. Es ist die Suche nach Gefühlen, das Erfahren-Wollen aller Facetten des Lebens, das den Mörder zu seiner Tat treibt.

Was bleibt: ein beklemmendes Gefühl, eine vage Bedrohung, Kühle. Die Ketten und Pfähle und Schatten verstärken diesen Effekt. Eine präzise Inszenierung, die die Spitzen des Textes gut zur Geltung bringt. Toll gespielt, ohne dass der Text darunter leidet. Offensichtlich wird hier nichts angesprochen, aber man merkt: dieser Text ist erschreckend aktuell – Statt erhobenem Zeigefinger wird hier allerdings eher ein unterschwelliger Appell an meine eigene Mündigkeit geboten: Aber reicht das? Wir müssen über all das reden, was da heute angeschnitten wurde. Auch wenn das sicherlich nicht angenehm werden dürfte.

Dann endet der Theaterabend, wie der Roman beginnt. Blumen zum Abschied.

Am Schluss bin ich erstaunt, dass da nur sechs Schauspieler auf der Bühne sind. So viele Figuren waren da, von so vielen Szenen wurde mir erzählt. Gut, dass der Schlussapplaus so lange dauert, so habe ich Zeit, die Figuren zu sortieren, die Rollen einzuordnen und dann auch einmal die Schauspieler dahinter wahrzunehmen. Ein voller Theaterabend, der ein bisschen anstrengend, aber wichtig war; aufrüttelnd, fordernd und bewegend.

Zu "Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel"

"Hinter jedem Mann steht eine großartige Frau" - von Alina Plitman

Es heißt so schön: „Hinter jedem großen Mann steht eine großartige Frau“. Ist der Mann ein Monster, ein Schurke, ein Despot oder ein Machtbesessener, wird Frau stets großartig in ihrer Liebe, die ihrem Mann den Rücken deckt, seine Politik rechtfertigt, seine Vulgarität kaschiert und sein Auftreten in der Öffentlichkeit zur Schein-Normalität bringt. Denn es heißt auch nicht umsonst „Egal was du bist, steh wenigstens dazu“.

Drei mächtige Frauen treffen sich in einem Raum zu einer Pressekonferenz. Jede Frau ist einzigartig, jede Biografie ist einmalig und jede einzelne will der anderen die Show stehlen, weil es nur einen Star in einem Raum geben kann: nämlich sie selbst. Jede verurteilt die Regierungsart der anderen und jede zählt ihre eigenen Misserfolge zu den Erfolgen und notwendigen Maßnahmen in ihrem Land. So gleich und so verschieden sind alle drei: Eine Verkörperung der Quintessenz einer Frau, eine metallische Stabilität des kommunistischen Glaubens und eine junge moderne „Madame La Présidente“. Drei giftige Schlangen in einer Truhe – kann es noch elektrisierter werden?

Das Stück überrascht durch sein beinahe altmodisches Konzept: Vier Personen auf der Vorbühne, keine Bewegung, fast keine technischen Effekte, nur das klassische Schauspiel in seiner puren Form. Erwartet der Zuschauer eine schwarze Komödie mit einem gnadenlosen entblößenden Humor, wird er von der Sänfte und Weichheit der Figuren verblüfft. Selbst für einen reinen „Zickenterror“ ohne jeglichen politischen Hintergrund sind die drei Damen einfach zu harmlos. Für eine Kontroverse mit dem Gesprochenen könnte vielleicht eine Videoreihe im Hintergrund sorgen, die die zarten Worte der Damen buchstäblich widerlegen würde. Diese einfache Möglichkeit, die Spannung im Stück zu steigern und den Konflikt auf der Bühne zuzuspitzen, wird leider nicht benutzt und durch kein anderes künstlerisches Know-how ersetzt.

Der gradlinige Auftritt von Frau Margot einerseits und die charmante Art von Frau Imelda und Frau Leila andererseits werfen eine gesellschaftsrelevante Frage auf, ob eine höfliche Verlogenheit besser als eine unerträgliche Direktheit ist. Frau Imelda (Anke Schubert) und Frau Margot (Christiane Roßbach) stellen  sehr überzeugende Figuren dar, jede in ihrem Element. Der Zuschauer hasst sie und ist gleichzeitig fasziniert, gebannt und hypnotoseiert von ihrer Stärke und ihrem Selbstbewusstsein. Frau Leila (Paula Skorupa) ist leider weniger klar in ihrer Persönlichkeit. Angefangen mit einer Undefinierbarkeit im Kostüm durch die fehlenden „Louboutins“, welche inzwischen ein Markenzeichen für diese Art von Frauen geworden sind, wird dem Zuschauer keine selbstsüchtige, pfiffige „Diana des Morgenlandes“ präsentiert. Wir sehen lediglich eine unsichere, die guten Manieren vernachlässigende, peinliche Intellektuelle, die hysterisch auf jede Andeutung an mangelnde, chirurgische Sterilität im Raum reagiert und somit die Grenze zwischen „raffiniert“ und „debil“ komplett verwischt. War dies jedoch eine Absicht, eine solche Figur zu einer Groteske zu treiben, ist sie gelungen.

Eine spannende Frage der Möglichkeit von Kommunikation zwischen Menschen wird durch die Figur des Dolmetschers gelöst. Drei mächtige Frauen müssen die Grenzen ihrer Macht doch erfahren, weil sie sich ohne Dolmetscher weder miteinander, noch mit den Journalisten unterhalten können. Der Dolmetscher, der eine Verbindungsrolle spielt, bekommt, überraschend für die drei Machthaberinnen, eigene Macht über sie. In seinem Ermessen liegt ob das Treffen friedlich verläuft, ob jede von ihnen eine gute Figur vor der Presse macht und wie jede von ihnen in Erinnerung der Nachfahren bleibt. Erwartungsgemäß verdreht der Dolmetscher jedes Wort nach seinen Vorlieben, obwohl dem Zuschauer seine Motivation nicht sofort einleuchtet. Vielleicht ist er einfach ein schlechter Dolmetscher? Eventuell versucht er durch nicht wahrheitsgetreue Übersetzung potentielle Konflikte aus dem Raum zu schaffen, weil ein guter „Dolmetscher immer einen Satz voraus sei“? Erst am Ende wird klar, dass der deutschstämmige Dolmetscher sich für seine verdorbene Kindheit im Jena der 80er Jahre an Frau Margot zu rächen versucht. Das Motiv der Rache des Dolmetschers bringt Frau Margot so stark in Vordergrund, dass die zwei anderen Damen, im Vergleich zu ihr, unschuldige Lämmchen zu sein scheinen.

Im Allgemeinen benötigt der Zuschauer schon eigene Vorkenntnisse, die er in das Stück mitbringen sollte. Ich finde es aber schade, dass einem unwissenden Jugendlichen nicht nur die einzelnen Aspekte, sondern, durch fehlende Kenntnisse der Geschichte, die gesamte Handlung entgeht. Dennoch nicht zu umgehen ist der Gedanke, dass, trotz der unmöglichen Übersetzung des Dolmetschers und noch besser gar ohne Übersetzung von ihm, die drei Hauptfiguren „durch Frequenzen, ähnlich den Fledermäusen“ sich doch verständigen können, gemeinsame Themen finden und sogar eine Art von Smalltalk schaffen.
Eine unterhaltsame, leichte Komödie für einen schönen Zeitvertrieb. Wer allerdings eine vielschichtige, politisch elektrisierte Satire oder sogar eine schwarze Komödie erwartet, wird von dieser humorvollen Talk-Show enttäuscht.

Diktatorengattinen mit Bedürfnissen - von S.G.

Auf der Vorderbühne des Theaters sind drei rote, etwas abgeschabte Sessel bereit gestellt, daneben ein Rednerpult, ein Kaffeewagen, ein grüner Plastik-Barhocker. Ein roter Samtvorhang bietet die Fläche, vor den drei Frauen und ein Dolmetscher treten und zwar vom Zuschauerraum aus. Der Anlass für dieses Treffen ist die gemeinsame Pressekonferenz zu Verfilmungen der Leben von drei Diktatorengattinen. Eine solche unmögliche Konstellation herzustellen, ist Theater in der Lage. In Burkhard C. Kosminskis Inszenierung ist diese Unmöglichkeit durch die Figuren- und Szenenzeichnung schnell vergessen.

Frau Margot
Margot Honecker, die frühere Ministerin für Volksbildung und Ehefrau des Staatsratsvorsitzenden der DDR hatte in einem Interview im Jahr 2012 eine einfache Antwort auf die Frage nach den Toten an der deutsch-deutschen Grenze: „Die brauchten ja nicht über die Mauer zu klettern, um diese Dummheit mit dem Leben zu bezahlen.“ Theresia Walser erfindet für ihr Stück eine Frau Margot, die nicht zusammen mit den anderen in ihrem Sessel Platz nehmen möchte, die ihre Uhr nicht auf die Ortszeit umstellt und die Unmengen Filterkaffee trinkt, aber dennoch immer wieder nach Cola verlangt: Bestimmt hat sie in ihrer DDR-Lebenszeit ein arges Defizit an kapitalistischer Brause aufgestaut. Dass ihr Erich gerne im Saarland beerdigt worden wäre, erschließt sich ihr nicht, sodass sie seiner Bitte nicht nachkommt sondern ihn bei sich behält – wofür ihre Gewittertasche eine tragende Rolle spielt. Christiane Roßbach gestaltet Frau Margot distanziert-stur und vermittelt mit ihrem spröden, ostigen Grau staubige Sozialismus-Nostalgie oder vielmehr deren Karrikatur.

Frau Imelda
Imelda Marcos, die Ehefrau des langjährigen Machthabers der Philippinen, Ferdinand Marcos, half seiner Regierung zum zweifelhaften Ruhm des zweitkorruptesten Regimes der Welt, ihr astronomische Privatvermögen ist Ausdruck der Ausbeutung ihres Landes.
Die Kunstfigur Frau Imelda zeigt uns ihr Bedürfnisse: Die hundert Journalisten der Pressekonferenz sind ihr zu wenig, denn sie braucht ein ganze Volk, und sie benötigt schön gestaltete Umgebungen und Felder aus Blumen. Ihr Leben möchte sie als Oper verewigt wissen. Einer Schauspielerin, die sie im Film darstellt, soll man ruhig anmerken, dass sie ihrer Rolle nicht gewachsen ist. Sie freut sich sehr, dass ihr Volk ihr ein Museum für ihre Schuhe eingerichtet hat, immerhin 3000 Stück. Und sie isst sehr gerne Makrönchen. Ein Berg Haare wirkt zusammen mit dem lila Kleid an sich schon sehr komisch, doch kann Anke Schubert mit einem heiligen Ernst einige Situationen komödiant auskosten.

Frau Leila
Leila Ben Ali aus Tunesien, Asma al-Asad aus Syrien, Suzanne Mubarak aus Ägypten, die Bezüge zu diesen drei Herrscher-Gattinnen sind vielfältig, wobei Suzanne Mubarak tatsächlich Ehrenbürgerin der Universität Stuttgart ist.
Frau Leila nun tut sich schwer mit dem Wasser aus Wasserleitungen, es sei voll von Asseln, vor deren Ausscheidungen sie sich wohl ekelt. Sie vermutet, dass sie von Nicole Kidman gespielt werden würde auch deshalb, weil sie nicht dumm sei, die Kidman. Und sie dichtet gerne, ein Gedicht, das den Titel des Stücks enthält. Paula Skorupa gibt ihrer Figur die fragile Empfindlichkeit einer Porzellanpuppe.

Der Dolmetscher
Er hat einerseits das Bedürfnis, seinen Job zu erledigen, er verdient schließlich sein Geld mit dem Simulatandolmetschen. Andererseits nutzt er die Gelegenheit, Frau Margot als ehemaliger DDR-Bürger zu erklären, was ihm in seiner Jugend, beim militärischen Strammstehen während der Fahnenappelle und überhaupt, alles fehlte, nämlich die Freiheit der Gedanken – die er nun allerdings schon wieder nicht erreichen kann, weil er ja nur wieder fremde Aussagen von einer Sprache (Deutsch) in die andere (auch Deutsch) übersetzen darf. Dass ihm dies mal mehr, mal weniger gelingt, können wir ohne Sprachbarriere nachvollziehen, Übertitelung nicht nötig.

Meine Bedürfnisse
Die vielen Gags und Pointen des Stückes sind sicher sehr lustig, das Premierenpublikum quietierte dies mit lautem Jubel und frenetischem Applaus für die vier Darsteller, das Regie-Team wurde rhythmisch beklatscht. Ich selbst hätte gerne auf die Hinterbühne geschaut, sowohl im Theater als auch im soziologischen Sinn: Was bleibt da noch alles im Verborgenen an Dynamik auf der Bühne und in der Psyche der drei Damen? Die Inszenierung wäre auch ohne die historischen Gegebenheiten seiner Figuren ein Lacherfolg. Durch die Bezüge zur Historie beschwert, bleiben für mich jedoch Fragen offen, die das Stück leider gar nicht erst stellt. Frau Margot: "Ich langweile mich. Es ist immer das Gleiche." Frau Leila: "Andererseits ist so eine Schauspielerin keine Besserungsanstalt."

Zu "Romeo und Julia"

Zwischen düsterer Dramatik, Liebe und Hass - von Peter Schlegel

Ich erinnere mich an verstörende Fernsehbilder aus dem Balkankrieg in den 90er-Jahren, in denen Jugendliche gezeigt wurden, die während des Bombenhagels auf Belgrad wilde Partys feierten, während ihre Eltern in sinnlosem Hass dabei waren ihre Zukunft zu zerstören. Für mein Gefühl nährt der 1976 in Bosnien geborene Regisseur Oliver Frljić aus diesen Wurzeln sein 'Romeo und Julia'. Verstörende Bilder im abrupten Wechsel springen vom 'Garten der Lüste' zum 'Tanz der Vampire' von 'Killing me softly' zu dumpfen Trommelschlägen aus dem Herzen der Finsternis.

Bereits der Auftakt ist fulminant. Zwei Männer (und das steht zweifelsfrei fest) in Renaissance- Kostümen küssen sich leidenschaftlich vor dem noch geschlossenen Vorhang: „Ähh, wird Julia hier von einem Mann gespielt, oder noch 'moderner' wird Julia zum Julius?“ Der Gedanke ist schnell vergessen, als sich der Vorhang öffnet und sich das Publikum im Bühnenhintergrund in einem riesigen Vexierspiegel selbst entdeckt. (Ein ganz Mutiger winkt sogar.) Dann steigen inmitten von Nebelschwaden Grabsteine und zwei Särge geräuschlos aus dem Boden empor. Düstere dunkle Gestalten schreiten langsam nach vorne, versammeln sich um die zwei Särge und beginnen die leblosen Körper aus ihnen herauszuheben. Die trauernden ehemals verfeindeten Familien sind es, denen Pater Lorenzo seine Version der tragischen Geschichte schildert.

Peng! Schrille Töne, Discoflimmern, eine wilde Party, durchsetzt von Gestalten, aus dem Höllenteil des 'Gartens der Lüste'. Auf einem meterhohen, mit Stoff ummantelten Gerüst, das sich später als Gefängnis in Form einer Kirche entpuppt, singt eine Frauenfigur inbrünstig 'Killing me softly' von den Fugees. Es ist das Fest, auf dem sich Romeo und Julia erstmals begegnen... Jetzt sind wir am Anfang des im Weiteren bekannten Dramas, glaubt man, wenn da nicht weiterhin diese Dissonanzen wären: Julias Vetter Tybalt und Romeo ein schwules Liebespaar (ach ja der Anfang), ein äußerst brutaler Vater, der Julia übelst misshandelt, eine Balkonszene, die mehr einer Kreuzigung über dem Kirchenportal gleicht und in der 'Szene aller Szenen' zerreisst Julia das Kissen, das das nie geborene gemeinsame Kind symbolisiert, mit einem Schrei entzwei und die Federn von Nachtigall und Lerche vermischen sich am Boden zu einem Leichentuch.

Man kann es kaum glauben, trotz dieser düsteren Dramatik gibt es reichlich zu lachen. Dafür sorgen hauptsächlich Christoph Jöde und Valentin Richter als Mercutio und Benvolio. Grandios wie sie Shakespeares Kunstkniff des Komischen im Dramatischen umsetzen. Sie schaffen es, dass man für eine kleine Weile nicht mehr in einem Staatstheater der Gegenwart sitzt, sondern im Globe Theater des 17. Jahrhunderts, wo während der Vorstellungen eifrig geschwatzt, gegessen und gelacht wird.

Der Mord an Julias Vetter Tybalt entfacht in Julia eine Liebe, die sich vom Hass ernährt. Nina Siewert wird in diesem Taumel aus widerstrebenden Gefühlen zu einer Julia, die einen schaudern lässt. Dieser Hass auf die Umstände, die Eltern, die Morde, die ganze Verzweiflung, diese gewaltige Energie aus Liebe und Hass, die hoffnungslos scheint, wird in der Sterbeszene zu etwas Neuem amalgamiert, das weder Hass noch Liebe noch Hoffnung ist und für das es eigentlich kein Wort gibt, Jannik Mühlenweg und Nina Siewert haben es dennoch gefunden.

Ein Theaterabend, der mir lange in Erinnerung bleiben wird, der alle Register einer großen Bühne gezogen hat, hervorragende Schauspieler, phantastische Kostüme, tolles Bühnenbild - eben alles einfach so, wie Theater sein soll.

Am Ende großer Applaus.

Fantasien und Fieberträume - von Stefanie Seible

Einen interessanten Ansatz verfolgen Regisseur Oliver Frljić und Dramaturgin Carolin Losch mit ihrer rückwärts gerichteten Betrachtung der allseits bekannten Geschichte von Romeo und Julia. In schnell vergehenden 1:45h legen sie den Fokus deshalb nicht auf das Nacherzählen der Handlung, sondern entwickeln die Charaktere sehr geschickt. Sie setzen andere Schwerpunkte als den klassischen Familienkonflikt. Insbesondere im Spannungsverhältnis zwischen Mutter und Vater Capulet gelingt dies sehr gut. Letzterer behandelt seine Tochter mehr als Ware denn als eigenes Blut. Die Vehemenz, mit der sich Julia gegen eine geplante Zwangsheirat wehrt, überzeugt auch schauspielerisch.

Und obwohl für mich persönlich Theaterstücke schwierig sind, in denen sich schon nach wenigen Minuten zwei Personen – in diesem Fall Romeo und Tybalt – vollkommen entblößt auf der Bühne präsentieren müssen, gewinnt das Stück genauso wie seine Figuren zunehmend an Schärfe, Spannung, aber auch Eleganz und Witz. Das gelingt durch eine ziemlich perfekt abgestimmte Mischung aus Lichteffekten, düsterer und heiterer Musik sowie Kostümen. Die Inszenierung schafft im Verlauf des Abends viele starke Bilder, die noch zusätzlich unterstützt werden durch mehrfach auftauchende Gestalten in Anlehnung an das Meisterwerk „Der Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch. Durch ihr wiederkehrendes Erscheinen symbolisieren sie die Fantasien und Fieberträume der Beteiligten. Ein geschickter dramaturgischer Schachzug, der zunächst überfordert, aber sich im Verlauf des Abends als dankbare Idee erweist. Auch die tieferen Stimmlagen von Romeo und Julia unterstützen die gewählte Form der Inszenierung nicht unerheblich. Implizit machen sie klar, dass wir es hier nicht mit zwei unbeholfenen jungen Menschen zu tun haben, sondern mit Persönlichkeiten, die per bewusster Entscheidung den Tod als einzigen Ausweg wählen. 

So wird das Hoffen auf einen positiven Ausgang in diesem Entwurf von Beginn an begraben: Dargestellt in einer Friedhofsszene, in der Romeo und Julia ihren eigenen Särgen entsteigen. Romeo, den Jannik Mühlenweg in seiner ersten großen Theaterhauptrolle tapfer spielt, bleibt dabei neben einer starken Nina Siewert recht blass. Auch wenn die Rolle ihm körperlich durch die kraftvolle Inszenierung einiges abverlangt, nimmt man ihm den bereits in der Liebe Erfahrenen nicht so richtig ab. Die mit der eingangs dargestellten Nacktszene angedeutete Homosexualität wirkt gekünstelt. Julia hingegen wird uns hier nicht als eine schwache 14jährige präsentiert, die erstmals mit Haut und Haaren unverhohlen liebt, sondern als omnipräsentes Wesen, deren Charakterzüge klar herausgearbeitet werden.

Alles in allem sehen wir hier eine moderne, kluge und sehenswerte Inszenierung, die nachwirkt, aber es dennoch schwer macht, zu gefallen. Jedoch - das will sie möglicherweise auch gar nicht.

zu "Die Abweichungen"

Viel Lärm um nichts? von Yael Brunnert

Stuttgart, 18. November 2018. „Much Ado About Nothing“. Viel Lärm um Nichts. So könnte man „Die Abweichungen“ auch nennen. Doch nach und nach zeigt dieser Abend sehr schön, wie der Tod eines Menschen alles auf den Kopf stellen kann, aber auf eine unerwartete Art.
Eine Putzfrau bringt sich um und worüber regen sich die Leute auf? Dass sie in ihren Miniaturmodellen der Häuser ihrer Arbeitgeber/Innen Abweichungen eingebaut hat. Statt einem Kind sind zwei da und der Schrank ist nicht nur in einem anderen Raum, sondern es versteckt sich auch ein Dinosaurier darin. Aber das sind eigentlich nur vordergründige Dinge, hinter denen sich Abgründe eröffnen.
Lisa Kaindl, nuanciert und facettenreich gespielt von Katharina Hauter, und ihr Mann Franz, verkörpert von dem Meister der Querelen Sven Prietz, betreten die Bühne, ein Miniaturmodell im Großformat. Kalt und steril. Kurz zuvor war noch die Spurensicherung in weißen Anzügen dort. Kalt und steril ist auch die Beziehung zwischen den beiden, und wird auch immer mehr dazu.
Geküsst wird sich nur durch die Luft. Am Anfang ist sich das Ehepaar aber immerhin noch einig. Sie haben die Putzfrau doch immer gut bezahlt. Wir konnte sie sich einfach so umbringen? Sie fühlen sich betrogen. Es geht nicht um die Tote, sondern nur um sie selbst. Sie diskutieren darüber, wieso Lisa sie auf einmal beim Nachnamen und nicht mehr einfach Jennifer nennt.
Grandios. Später erfährt Kaindl von dem Miniaturmodell seines Hauses und besucht die Kuratorin, nuanciert und fragil gespielt von Josephine Köhler. Franz Kaindl ist außer sich, als er feststellt, dass Jennifer ein Kind mehr in das Kinderzimmer gesetzt hat. Es kommt zur verbalen Auseinandersetzung zwischen Kaindl und der Kuratorin. „Sind Sie sicher, dass Sie nur einen Sohn haben?“ Er ist sich sicher. So geht das noch eine Weile weiter. Kaindl steigert sich immer mehr in seine Wut hinein, sie wird noch von ihm hören. Seine Obsession mit der Kuratorin geht so weit, dass er sich mehr und von seiner Frau entfernt, die am Ende nur noch ein Häuflein Elend ist. Die Szene, in der sie bei ihrer Ärztin anruft und einen früheren Termin haben will, ist sehr berührend gespielt und changiert zwischen einer Bandbreite von Emotionen. Man liebt die langsam erblindende Mutter der Kuratorin, fein gespielt von Verena Buss, als sie Franz gehörig die Meinung sagt.
Das zweite, ältere Paar Ulrike und Hans Schab, bei dem Jennifer auch geputzt hat, wird von Anke Schubert und Peter Rühring sehr einfühlsam verkörpert. Sie wissen zunächst gar nicht, was los
ist. Jenny ist schon wieder nicht gekommen. Ulrike muss sich um ihren dementen Mann kümmern und tut dies auch rührend, selbst wenn er zuweilen aggressiv wird. Aber im nächsten Moment tanzt er mit Ulrike, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Trotzdem fühlt man in seinen ausfallenden und vergesslichen Momenten mit Ulrike und bewundert sie auch dafür, dass sie nie von seiner Seite weicht, selbst wenn er davon spricht, dass sie (die Ausländer) in die Sozialsysteme einwandern und sie erdrücken. Clemens J. Setz hat die Figuren fein und differenziert geschrieben und Elmar Goerden hat sie ebenso fein inszeniert.
Boris Burgstaller und Reinhard Mahlberg sind das dritte Paar, Walter und Adam Oesterle. Auch diese beiden spielen sehr facettenreich. Walter teilt den Enthusiasmus der Kuratorin über das Modell. Ihn stört es nicht, dass der Schrank in einem anderen Zimmer steht und sich in diesem nicht seine Pläne, sondern ein Dinosaurier befindet. Adam allerdings macht immer wieder spitze Bemerkungen, dass die Putzfrau es offensichtlich besser gewusst habe. Der Selbstmord von Jenny hat auch Auswirkungen auf dieses Paar. Adam erwischt seinen Partner dabei, wie er den Schrank bewegt. Sofort verteidigt Walter sich, er wolle nur mal sehen, ob Jenny nicht vielleicht Recht hatte. Diese Szene wird zu einer der Schlüsselszenen. Adam wird immer lauter und Walter immer kleinlauter. Der Autor J. Setz, schöne Hommage an den Autor, habe gesagt, dass es zwei Wahrheiten gebe, versucht Walter seine Tat weiter zu rechtfertigen. Einmal die gerichtliche und dann die ekstatische, die Werner Herzog verwendet. Er verändert Dinge, damit man sie besser sieht. Hier bricht Adam in Gelächter aus, wohl zu Schutz, was Walter verletzt. Adams Lachen wird zu Wut und schlägt dann in Tränen um.
Die Kinder der Paare sorgen dafür, dass man wieder durchatmen kann. Josephine Köhler spielt auch die Tochter der Oesterles und Tom Kaindl, der auch den Assistenten der Kuratorin zugleich wunderbar linkisch und dann großspurig spielt, als er eine Museumsbesucherin (auch Katharina Hauter) bei der Vernissage abschleppt, ist der Sohn der Kaindls. Sie spielen beide wunderbar sich langsam annähernde, sympathisch schrullige Jugendliche, die uns buchstäblich zu imposanten Klängen und der Stimme „Houston“ ins All mitnehmen. Das Ende will ich noch nicht vorweg nehmen, denn Sie sollen von einem nun älteren Franz im Moment zum Nachdenken angeregt und berührt werden.

Alltags-Universen, Abweichungen und Außenseitertum - von Maria Walter

Kurz vor 20 Uhr. Einlass. Über eine gewundene Rampe geht es in die Kammerspiele. Eine einfache Zuschauertribüne. Vorne: ein schlichter Raum. Viele weiße Flächen, klare Linien, mehrere Ebenen. Blöcke – noch sind sie leer. Und dann beginnt es, am Tatort: Eine Putzfrau hat sich umgebracht, in ihrer Besenkammer. Die Ermittler finden Modelle: Kleine Nachbauten der Wohnungen „ihrer“ Familien – nur mit jeweils einer Veränderung. Ein zweites Kind, kein Kühlschrank sondern ein Ticketautomat. Aber ich will nicht zu viel verraten.
Das gleich vorneweg: Ich empfehle diesen Theaterabend. Denn es hat Spaß gemacht, dieser Geschichte, oder vielmehr all diesen Geschichten zuzuschauen. All den Alltags-Universien, die durch diese Abweichungen aus ihren gewohnten Bahnen geraten. Ihre Schwachstellen zeigen. Ihre Potentiale. Die Suche nach Erklärungen – für den Selbstmord, für die Kunst, für das eigene Leben – sind so bunt wie die Figuren. Da ist ein schwules Paar, ein nur auf den ersten Blick beherrschter, ruhiger Lehrer, eine Frau, die ihren dementen Mann pflegt und Grobheit, Langsamkeit, Wiederholungen erträgt. Dazu: Die Parallelwelt zweier Teenager – gekonntes Aneinander-vorbei-Reden. Überhaupt sind die (Telefon-) Gespräche herrlich inszeniert. Da wird mit dem Raum, mit Bewegung gespielt.
Wie geht es nach den Funden weiter? Eine begeisterte (fast schon ekstatische) Kuratorin plant eine Ausstellung, und das wirft alle aus ihren Bahnen. Die Spannungen zwischen den Figuren sind fabelhaft, schnelles Spiel, klare Wechsel. Besonders faszinierend: Julius Forster, der unglaublich geschickt zwischen verwirrt-beflissenem Assistenten und nervös-verliebtem Teenager hin- und herspringt.
Eine Szene ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Die Annäherung der beiden Teenies. Sie verabreden sich zum Spaziergang, Treffpunkt vor der Galerie. „Wir sind ja doch irgendwie drin“. Wieder einer dieser Sätze, die erst auf den zweiten Blick ihre Poesie enthüllen. Von denen gibt es – für mich – viele in diesem Stück. Sie sind also zusammen unterwegs. Und dann – nach einer herrlichen Abhandlung über den Deutungsspielraum von Sommersprossen – endlich der erste Kuss. Die beiden sind im Taumel, verliebt, spinnen sich in ferne Welten. Die Mopedhelme werden zu Astronautenhelmen. Der Schrank zum Raumschiff. Glitzerregen. Laute Musik. Ein Moment Theatermagie. Alles ist da in diesem Augenblick, die Handschuhe der selbstmörderischen Putzfrau, die Kindlichkeit in Form eines alten Plüschteddys: ihre Erinnerungen, die Gegenwart, die Zukunft. Sie schauen in die Ferne. Sie tun das so überzeugend, dass meine Nachbarn die Köpfe drehen, um zu sehen, was da ist.

So wird das Bild auf der Bühne immer dichter im Verlauf des Abends: die Räume und Figuren verschränken sich immer mehr. Linien werden aufgebrochen. Trotz der nach wie vor wenigen Requisiten kommt mir die Bühne immer voller vor. Der große Raum wird zu vielen einzelnen, Wohnzimmern, Schlafzimmern, Bädern, Galerien – auch dank geschickter Lichtregie. Alleine der Schrank wandelt seine Bedeutung für mich nicht nur einmal.
Jeder reagiert anders auf den Selbstmord und auf die Veränderung, die Abweichung eben. Betroffen, pikiert, mit Aktionismus, abwehrend. Es ist spannend, diese Perspektiven nach und nach zu erkunden und wirken zu lassen. Jede Figur wird für mich mit jedem Satz greifbarer. Am Schluss zeigt selbst die begeistert-eloquente Figur der Kuratorin eine „Schwachstelle“, eine menschliche Regung.
Da ist viel gutes Teamwork und der Truppe macht das Spielen Spaß. Das merkt man. Aber erst danach, mit ein bisschen Abstand. Denn während des Stücks – ich habe während der knapp zwei Stunden ohne Pause kein einziges Mal auf die Uhr gesehen – bin ich zu beschäftigt mit den Geschichten, die mir gerade erzählt werden.
Was sich mir nicht ganz erschließt, ist der Einsatz der Musik, Geräusche manchmal nur, wie Stühlerücken. Einmal mutet es afrikanisch an. Dann eine Art Funkspruch. Dass hier Welten aus den Fugen geraten und teils Universen zwischen zwei Menschen stehen, meine ich auch ohne Raumschiff-Sound zu begreifen.
Und dann sind da noch diese Fragen, die quasi währenddessen entstanden sind: Wie sähe „mein“ Modell aus? Welche Abweichung wäre darin möglich? Wie stünde ich zur Ausstellung meines privaten Wohnumfeldes? Oder betreiben wir diese nicht gerade schon selbst, wenn wir unsere Leben auf Instagram und Facebook teilen? Ist es Stalking, sich auf Pinterest Dekoideen zu sammeln?
Das Stück wird aber nicht plakativ oder politisch. Es fallen eher beiläufig erscheinende Bemerkungen, die die wahren Meinungen der Figuren zeigen. Kleine Spitzen, in denen sich manch ein Zuschauer schmerzlich wiedererkennen mag. Genauso subtil: Die Namen, die vorkommen – Werner Herzog, Henry Darger, Glessner Lee – nicht als notwendige Voraussetzung zum Verstehen des Stückes oder der Kunst, sondern eher als Anregung – so, dass ich Lust bekomme, mehr darüber zu erfahren.
All die Feinheiten zwischen den Figuren – vor allem, was zwischen den Paaren passiert – hätten sich mir durch die bloße Lektüre des Textes von Setz wohl kaum erschlossen. Solche Geschichten erfährt man durch keinen Post, keine instagram-Story. 
An diesem Theaterabend wird nichts einfach banal auf dem Tablett serviert – gab es denn nun wirklich ein zweites Kind? Was er bietet sind eher anregende Häppchen. Einladungen zum Selber-Überlegen. Viele Fragen (interessierte, nicht irritierte) schnappe ich auf, als sich die Zuschauer nach dem langen Applaus wieder ins Foyer begeben. Viele gute Möglichkeiten, Gespräche zu beginnen. Viele gute Möglichkeiten, andere Menschen und ihre Sicht auf „Die Abweichungen“ kennenzulernen. 
Es geht um viel an diesem Abend. Große Themen. Selbstmord, Außenseitertum, Depression, junge Liebe, Ehe, was ist Kunst?, Demenz, Trost, was ist Privatheit?, was Realität?, Trauer, Angst, Religion. Aber viele Lacher gibt es auch. Viel Schmunzeln. Ich glaube jeder kann seine ganz eigenen Anknüpfungspunkte entdecken. Ein Theaterabend mit Nachwirkungen, mein erster, aber sicherlich nicht letzter Besuch im Stuttgarter Kammertheater.

zu "Orestie"

"Ich bin seine Frau, nicht sein Gewissen." - von S.G.

Iphigenie. Zeitpunkt des Todes: 19:37 Uhr

Keine Sorge, sie stirbt ganz human, die kleine Iphigenie: Betäubung, bittere Pille, süßer Trunk und schon schläft sie unter ärztlicher Aufsicht ein in den Armen des Vaters Agamemnon – der große, schlanke Matthias Leja, dessen Spiel und Blick unheimlich einschüchtert. Sein Opfer wurde nötig, um günstige Winde wehen zu lassen, um die Schiffe nach Troja zu bringen, um den Krieg zu gewinnen. Zwar hadert der Vater sehr mit seiner Entscheidung, aber als seine Ehefrau Klytämnestra – kühl mit streng gescheitelter Kurzhaarfrisur: Sylvana Krappatsch –, deren Tochter ein Teil von ihr ist, ihn von der Umsetzung des Seher-Spruches und Rat des Bruders abbringen will, fasst er den Entschluss erst recht, er bezwingt sie ohnehin beim Beischlaf (nein, sie ziehen sich nicht aus dazu). Das alles geschieht am, auf, unter und vor dem bürgerlichen Wohlfühlaltar, dem Esstisch mit vier Bänken. Welchem Gott gehuldigt wird, lässt der*die Seher*in Kalchas – überzeugend android gespielt von Paula Skorupa – jede Person im Publikum für sich selbst entscheiden, er*sie stellt lediglich ein paar Möglichkeiten zur Wahl. Warum es Iphigenie trifft und nicht die in der Inszenierung ältere Tochter Elektra – hier noch wunderbar pubertär: Anne-Marie Lux –, ist nicht weiter von Belang, der Sohn Orest als Stammhalter kommt als Opfer freilich nicht in Frage, schließlich werden Männer bevorzugt. Bereichert durch zwei Darsteller-Kinder bekommen wir ein von Anfang an ein sehr ordentliches Bürgerhaus vorgeführt mit akkurat drapiertem Tischtuch, Schuhen in Reih und Glied und einer zumindest gewollten Familienidylle, in der jeder beim Essen berichten soll von den Strapazen des Tages, von den Sorgen und Nöten. Agamemnon tut sich genau so schwer wie seine Rotzgöre Elektra, die zwei Minuten zu spät zum Essen erscheint, wohl aber aus anderen Gründen: Das Opfer seiner Tochter verdirbt ihm irgendwie den Appetit. Aber Wein hilft (kein Chardonnay, irgendwas Rotes, schmeckt ja auch besser zum Rehbraten), zumindest wenn man die Flasche aufbekommt.

Menelaos. Zeitpunkt des Todes: 20:15 Uhr

Krieg halt. Da sterben die Menschen schon mal. Agamemnons Bruder Menelaos – entscheidungsfreudig: Michael Stiller – ist ebenso tot wie viele andere Soldaten des Krieges. Klytämnestra freut sich über den Sieg, begrüßt ihren Ehemann, hält eine Ansprache hinter dem zur Kanzel umfunktionierten Esstisch (ohne Tuch), die dem Herrscher zu lang vorkommt, rollt dem Kriegsgewinner den roten Teppich aus. Er ziert sich ein wenig aber lässt sich überreden, das Haus, sein ordentlich unordentliches Haus auf rotem Teppich zu betreten. Beim anschließenden Wiedersehens-Sex (mit Tuch, nur gestorben wird nackt) hockt diesmal sie auf ihm. Von Journalisten befragt nach den anstrengenden letzten Jahren seit der Feldherr kurz nach dem für die Öffentlichkeit ominösen Tod der Tochter das Haus verlassen musste, gibt die Hausherrin an, nur seine Frau zu sein und nicht sein schlechtes Gewissen. Sie ist dann aber doch mehr als nur die Gemahlin, sie ist auch Mutter ihrer ermordeten Tochter, was bleibt ihr anderes übrig, als den Mord zu rächen?

Agamemnon. Zeitpunkt des Todes: 20:32 Uhr

Auf der Hinterbühne, in der Badewanne streckt sie ihn nieder, mit einem silbernen Messer (Beweisstück delta oder so). Sie verkündet durch die vierte Wand, direkt zum Publikum: "Er ist tot. Ich bin am Leben. Ich bin frei. Die Ordnung des Hauses ist wieder hergestellt." Zuvor informiert sie uns direkt, dass es ab jetzt nur noch Wahrheit gebe, keine Lügen mehr. Kassandra, die aus dem Krieg mitgebrachte trojanische Königstochter – total verrückt: Therese Dörr –, trägt ein iphigenie-gelbes Kleid und bringt arge Unruhe ins Haus, Elektra fragt sie deshalb: "Fickt mein Vater Dich?". Tut er wohl. Man bringt sie besser um, ein Liebeslied, nicht wie häufig leise sakrale Chorgesänge im Hintergrund. Übrig bleiben, erstmal, die beiden Kinder Elektra (inzwischen erwachsen und reif geworden) und Orest – völlig durch den Wind: Peer Oscar Musinowski –, der den ganzen Abend lang psychoanalytisch befragt wird über seine Tat oder genauer seine Erinnerungen daran. Er hat ein großes Trauma überlebt, was ja schon eine Leistung ist bei all dem Sterben.

Ägist. Zeitpunkt des Todes: 21:31 Uhr

Der Liebhaber der Mutter wird von Orest getötet. Er berät sich mit Elektra, kämpft dann mit der Mutter. Blitz und Donner. "Es gibt keine Wahrheit.", verkündet Orest.

Klytämnestra. Zeitpunkt des Todes: 21:38 Uhr

Die Kinder hassen sie, sie hat den Vater umgebracht, sie stirbt durch Orest, das Tischtuch wird zum Leichentuch. Orest wird schwer mental gestört. Wer tötet nun Orest, den Muttermörder?

Orest: "Wir sind Menschen. Einfach nur Menschen."

Und diese haben irgendwann gelernt, die Körper anzuhalten, nicht mehr zu explodieren, die Vergeltungsaffekte zu beherrschen. Der purpurne Hausmantel des Patriarchen wird abgelegt und rote Roben übergeworfen, man hält Gericht. Hochwürden, also Athene – nun sehr besonnen: Therese Dürr –  leitet die Verhandlung. Die Repräsentanten tragen vor, fordern die Hinrichtung Orests oder weisen darauf hin, dass er in seinem Zustand keine Gefahr mehr darstellt. Wer soll ihn richten? Ein Mensch? Alle Menschen? Per demokratisch-mehrheitlicher Entscheidung? Er sich selbst? "Was tu' ich nur?", fragt er sich.

Großes Wiedersehen

So ein Theaterregisseur guckt in seiner Freizeit ja vielleicht auch viel Netflix (oder HBO). Der Rezensent zwar nicht mehr gar so viel, aber manches kommt ihm sehr bekannt vor. Die Fishers zum Beispiel aus "Six Feet Under", der Familiensage um eine mitunter dysfunktionale Bestatterfamilie: Der Mutter sind  Familienzusammenkünfte und gemeinsame Essen sehr wichtig. Der Vater ist zwar tot, schon von Beginn der Erzählung an, er mischt sich dennoch immer wieder ein, um seine Kinder zu beraten. Die Teenager-Tochter ist zunächst schwer zu integrieren, wird im Lauf der Zeit aber immer erwachsener, reifer und selbständiger (Elektra bekommt dann auch den Korken aus der Flasche). Zwei Söhne, die hin- und hergerissen sind, ob sie ihrem Vater nacheifern oder ihr eigenes Ding machen. Gut fürs Bestattergeschäft aber: Gestorben wird immer. Elektra fragt den Vater: "Was vermisst Du am meisten, seit Du tot bist?". Es ist der Wein (wahrscheinlich Lemberger).
Dr. Melfi, die Psychotherapeutin des gebeutelten Mafia-Bosses Tony Soprano aus der gleichnamigen Serie, begleitet den Gangster, der oft auch nicht anders kann, als seine Widersacher umzubringen, weil diese ihm dieses oder jenes angetan haben. Seine Ängste und Nöte versucht sie aus kühler Distanz mit ihm aufzuarbeiten, muss sich aber immer mehr ihre Faszination für den Menschen Tony eingestehen. Er kann einem aber auch leid tun, dieser Mörder, immer so verzweifelt, weil er doch so handeln muss wie er handelt.
Oder "House of Cards". Allein schon, dass die Inszenierung vor Haus-Metaphern ("Das Haus macht mir einige Probleme!") nur so strotz, nein, auch die machthungrigen Herrscher über Leben und Tod stehen Pate für Agamemnon und Claire-tämnestra, die eiskalte Frau unter, neben und schließlich über dem Ehemann, die ihre Chance nutzt ihm heimzuzahlen, was er ihr angetan hat. Ihre Frisur und ihr Kostüm passen, auch das Durchbrechen der vierten Wand, aber Agamemnons Physiognomie erinnern mehr an F. Merz als an F. Underwood. Beim Habitus ist schwer zu sagen, wessen überwiegt.

"Götter sprechen in Zeichen. Zeichen sind offen für Interpretation."

Der Regisseur Robert Icke hat, für eine Produktion in London im Jahr 2015, diese Serienfiguren sehr geschickt in Aischylos' Orestie hinenmontiert. Seine Inszenierung schafft es, verschiedene Zeit- und Bewusstseinsebenen, nicht nur die der Figuren auf der Bühne sondern auch die derjenigen im Publikumsgericht, miteinander zu verflechten. Ein anregender, spannender Theaterabend, an dem die Schauspieler*innen glänzend zeigen können, mit welchen Zerrissenheiten Menschen so umgehen müssen, welche Tragweite ihre Entscheidungen haben können. Viel Innerlichkeit wird nach außen gekehrt und einige essentielle Fragen gestellt. Wer muss sich nun verantworten und wie? Wen trifft welche Schuld? Fragen Sie Ihr Gewissen und fällen dann ihr Urteil!

Recht in roter Robe - von F.M.

Das Gift ist farb- und geschmacklos

"I will always love you" singt Iphigenie. Ihr Vater Agamemnon steht hinter ihr mit dem Gürtel seines roten Kimonos in der Hand. Der Heerführer muss seine Tochter eigenhändig töten, um den Krieg von Troja zu gewinnen, so die Prophezeiung.  Doch er schafft es nicht, jedenfalls nicht in diesem Moment.
Es braucht die Überredungskunst seines Bruders Menelaos, der den utilitaristischen Wert der Tat in den Mittelpunkt rückt. Diese Unterredung ist schwer mit anzusehen und grausamer als der klinisch ausgeführte Akt an sich.
Ein auf den ersten Blick klassisches Abendessen. Es gibt Wild und Iphigenie versteht nicht, warum ein Tier für sie sterben solle. Darauf erwidert ihre Mutter Klytämnestra bedeutungsträchtig, dass der Hirsch gestorben sei, damit sie leben können. Es ist Iphigenies letztes Abendmahl, der Rotwein verstärkt dieses Bild. Gift. Der Tod ist schnell und schmerzlos.
Diese erste Szene ist kein klassischer Bestandteil der Orestie, wird aber in Robert Ickes Inszenierung eingesetzt, um ein größeres Verständnis für die Charaktere zu schaffen. Besonders die Voreingenommenheit gegenüber Agamemnon wird so etwas aufgeweicht.
Iphigenie geistert auch nach ihrem Tod über die Bühne. Als Traumgestalt von Klytämnestra oder Agamemnon, oder Wahnvorstellung Orests. Todeszeitpunkte, von denen es bei diesem blutrünstigen Abend immerhin sechs gibt, und Beweisstücke werden als Übertitel eingeblendet. Denn Icke hat die Perspektive einer Gerichtsverhandlung mit Rückblicken gewählt. Dieses Gericht tagt am Ende des 3 3/4 stündigen Schauspiels und soll klären, ob Orest des Muttermords schuldig ist.

Die Prophezeiung erweist sich als wahr und Agamemnon kehrt aus einem verlust- aber auch siegreichen Krieg zurück. Im Schlepptau hat er Kassandra, eine Fremde, die mit ihrem gelben Kleid Ähnlichkeit zu Iphigenie aufweist. Nun sitzt die Familie abermals beim Abendessen. Etwas hat sich verändert. Und es ist nicht nur der Fakt, dass Elektra mittlerweile einen Korkenzieher benutzen kann.
Der relativ stringente Erzählfaden der Geschichte wird durch zweierlei unterbrochen. Von Gesprächen zwischen Orest und seiner Therapeutin und kurzen Interviews der Beteiligten.

Rache über Rache

Klytämnestra in einem roten Kimono nimmt das Recht in ihre Hand und ersticht ihren Mann und seine vermeintliche Geliebte mit dem Küchenmesser. Das rote Kleidungsstück tritt immer in Erscheinung, wenn eine Person über eine andere richtet. Die Parallele zur Richterrobe ist hier mehr als deutlich.
Orest und Elektra eint der Drang nach Rache für den Mord an ihrem Vater. Orest tötet daraufhin seine Mutter und ihren Geliebten.
Somit sind wir nun am dritten und letzten Teil des Stückes angekommen, bei dem Orest sich für seine Tat rechtfertigen muss. Barfuß, mit blutgetränktem T-Shirt und in Handschellen steht Orest vor dem Gericht. Pallas Athene ist in dieser Inszenierung die Richterin, die zugunsten von Orest entscheidet.
Es fühlt sich nicht an, als ob man als Zuschauer zu einem bestimmten Urteil gedrängt wird. Alle Charaktere kommen zu Wort und die verschiedenen Motive werden nachvollziehbar. Wieso aber Elektra und Orest keinen Groll gegen ihren Vater hegen, obwohl der ja ihre Schwester vergiftet hat, bleibt offen.

Familienzwist vor Glas und Stein

Das Ensemble überzeugt durch seine Authentizität, besonders stechen Anne-Marie Lux (Elektra) und Peer Oscar Musinowski (Orest) in ihrer Vielfalt an Emotionen hervor.
Die Bühne ist schlicht und wirkungsvoll. Den Hintergrund bildet ein Arena-artiger Halbkreis aus Backsteinwänden mit Säulen. Davor steht eine steinerne Badewanne, in der Agamemnon sein Ende findet und eine Assoziation zu einem Altar weckt. Vor der Wanne befinden sich zwei Ebenen verschiebbarer Glastüren. Im Vordergrund steht ein schlichter Esstisch mit Bänken. Den Großteil der Zeit befinden wir uns im Anwesen der Familie, aber mit kleinen Umbaumaßnahmen wird es zum Schluss zum Gerichtssaal.
Robert Icke überträgt das epische Drama sprachlich in die heutige Zeit. Die Worte sind passend und es wird weder krasse Umgangssprache noch Jugendsprache verwendet. Der Chor ist bei Icke nicht auf der Bühne, sondern es dröhnen Choral-Gesänge aus Lautsprechern. Der von Selbstjustiz geprägten Familienzwist, der kein „Happy-End“ zulässt ist auch nach knapp zweieinhalb tausend Jahren aktuell. Und durch den ausführlichen Prolog ist die Handlung für Zuschauer verständlich, die sich nur oberflächig in Orests Universum auskennen. Obwohl die Aufführung Opernlänge hat, kommt keine Langeweile auf.
Es geht um den Umgang mit Verantwortung, das Gemeinwohl im Kontrast zum Individuum. Es wird die Familie als sicherer Hafen in Frage gestellt. Als Zuschauer*In ist man froh, in einer Demokratie zu leben, deren Rechtstaat Selbstjustiz bestraft und die Todesstrafe ausschließt. So ist ein Familiengemetzel immerhin nicht alltäglich.

Zu "Vögel"

Was prägt unsere Identität? von Deborah Böhm

Mit einem eindringlichen Plädoyer gegen kulturell-politisches Schwarz-Weiß-Denken eröffnet Burkhardt C. Kosminski am Freitagabend seine Intendanz am Schauspiel Stuttgart. Das Drama „Vögel“ des mehrfach ausgezeichneten kanadisch-libanesischen Autors Wajdi Mouawad feiert zugleich seine deutschsprachige Erstaufführung.

„Und sein ganzes Leben ist so. Weder Schicksal, noch Zufall, immer dazwischen. Eine Brücke“ (Mouawad, „Vögel“, S. 24). Was Wahida, die amerikanisch-arabische Freundin des 35-jährigen Protagonisten Eitan (einem Biogenetiker mit arabisch-jüdischen Wurzeln) über die historische Figur des Leo Africanus sagt, gilt für sämtliche Figuren des Dramas: Sie befinden sich im Dazwischen. Vorsichtig werden Brücken gebaut, aber weitgehend von Identitätsprinzipien und der Last des kulturellen Erbes verhindert oder gar eingerissen.

Begonnen bei der Großelterngeneration Zimmermann, Leah (herrlich lakonisch, Evgenia Dodina) und Etgar (überzeugend, Dov Glickman): Wie sich herausstellt, haben sie ihre jüdische Familie auf einer Lüge aufgebaut. Etgar rettete einst als israelischer Soldat ein palästinensisches Baby. Er behält es aus einer Mischung aus Humanismus, Egoismus und Zufall und zieht den kleinen „David“ mit seiner Frau auf. David (großartig, Itay Tiran) entwickelt sich zu einem fundamentalistischen, gängige Klischees bedienenden, jüdischen Patriarchen, der den arabischstämmigen „Ziervogel“ Wahida (Amina Merai) als Nestbeschmutzerin empfindet. Beim Pessach-Mahl nennt er seinen Sohn deshalb einen „Vatermörder“. Tragisch-ironisch und paradox wird dieses Ödipus-Motiv über drei Generationen auf die Spitze getrieben. Der wohlmeinende Großvater erscheint durch sein Verschweigen von Davids biologischer Herkunft als eigentlicher Vatermörder und David wird fast zum Mörder seines Sohnes: Ausgelöst vom familiären Widerstand, bereist das junge Paar das gelobte Land und erlebt dort die Hölle. Bei einem Attentat wird Eitan schwer verletzt und fällt ins Koma. Das führt seine zersplitterte Familie am Krankenbett zusammen und Wahida auf die andere Seite der Mauer. Damit zerbricht die hoffnungsfrohe Beziehung der jungen Generation. Am Ende bleibt David, mit seiner  Herkunftsgeschichte erst im späten Erwachsenenalter konfrontiert, nur der Ausweg des Wahnsinns, der ihn umbringt. Er kann die beiden Seelen, seine palästinensische Herkunft und seine lebenslange jüdische Identität, unmöglich in seiner Brust vereinen. Sein Sohn nimmt es sich zwar vor, aber als „Erbe zweier Völker, die einander zerreißen“ bleibt er dennoch untröstlich. Wird Eitan das Kunststück des Amphibienvogels aus dem persischen Märchen gelingen, der durch seinen Mut, sich nicht auf seinen herkömmlichen Lebensraum zu beschränken, seine Art weiterentwickelt oder zerbricht er daran, so wie sein Vater?

Kosminski bringt das mehrsprachige Stück (Arabisch, Deutsch, Englisch, Hebräisch) von einem hochgradig besetzten, multikulturellen Ensemble auf die Bühne. Die meisten Darsteller weisen selbst eine transnationale Biografie auf. Man kann erahnen, dass jeder eine sehr persönliche Geschichte zu den Themen, die das Stück verhandelt, zu erzählen hätte. Die Sprachenvielfalt irritiert nicht, sondern unterstützt die kulturelle Verwicklung und das Darin-gefangen-Sein der Figuren auf anschauliche Weise, z. B. wenn David zu seinem (meist) Deutsch sprechenden Sohn Eitan auf Hebräisch sagt: „Du sprichst in der Sprache der Mörder“, und dann selbst fluchend ins Deutsche rutscht.

Wie das Schicksal, so drehen sich auch die Schauspieler auf der frisch reparierten Drehbühne unausweichlich im Kreis. Das Setting des Bühnenbildners Florian Etti ist schlicht. Mehr als eine Wartehallenbank, einem Sofa, Tisch, Stühlen und einem Krankenhausbett ist kaum vorhanden. Der Bühnenraum wird lediglich durch mehrere weiße Bahnen strukturiert, die sich auf und ab bewegen. Mit einem Schattentheater gelingt es, den sexuellen Missbrauch der jüdischen Soldatin an Wahida, auf eine verallgemeinernde, symbolische Ebene zu heben. Abseits des Textes wird hier der gewalttätige Umgang beider Völker mit Licht- und Schatteneffekten veranschaulicht, wohingegen die stetige musikalische Untermalung des Stücks, aus Oud und Klezmer, das Anliegen der Völkerverständigung unterstreicht.
Ansonsten sind die Bühnenmittel, auch die Kostüme von Ute Lindenberg, sehr zurückgenommen. In seiner Dominanz hat der Text über dreieinhalb Stunden einige Längen und der Grat zum Pathos ist manchmal schmal. Die Einordnung in sog. klassische, nicht zeitgemäße Inszenierungen, fernab der omnipräsenten Videoleinwände, liegt nahe.

Dennoch tragen tiefgehende zwischenmenschliche Momente und berührende Bilder das Stück, was nicht zuletzt dem Können der Darsteller zu verdanken ist, ihrer Körpersprache und den unter die Haut gehenden Tönen. Diese Schlichtheit, die im Kontrast zu den meisten Produktionen der Ära Petras steht, tut überraschend wohl und wirkt wie eine Detox-Kur von zu viel Reizüberflutung. Nichtsdestotrotz wäre ein an manchen Stellen vielfältigeres Auskosten der ästhetischen Möglichkeiten in der Eröffnungsproduktion wünschenswert.

Von Chromosomen, Identitäten und Liebe - von Alina Plitman

Was ist eigene Identität? Das eigene Spiegelbild oder die Muttersprache, 46 Chromosome, die Traditionen eigener Eltern oder unsere Erinnerungen? Diese Fragen stellt Wajdi Mouawad in seiner modernen Version von Romeo und Julia – einer ewigen Geschichte einer Liebe, die wegen Vorurteilennicht sein darf.

Zwei junge Menschen treffen sich in der Universitätsbibliothek in New-York. Er macht vielleicht die dämlichste Anmache aller Zeiten, erzählt ihr leidenschaftlich von Bing Bang und Chromosomen. Sie findet ihn witzig und lädt in den Club zum Tanzen ein. Eine fast banale, rührende, moderne und eigentlich ganz normale Geschichte. Normalität verschwindet, als Eitans Eltern von seiner Freundin Wahida erfahren. Sie ist keine Jüdin. Noch schlimmer, sie ist eine Araberin. Mit seiner Liebe spuckt er seinen Eltern sprichwörtlich ins Gesicht, sie darf nicht sein. Der Familienstreit könnte noch ewig dauern, wenn Eitan nicht in Lebensgefahr gekommen wäre. Vor dem Antlitz des Todes erscheint plötzlich glasklar, wie unbedeutend manche Familiengeheimnisse, Traditionen und Vorurteile sein können.

Das Stück Vögel behandelt mehrere Themen in mehreren Schichten. Wie ein Kaleidoskop will man das Stück wieder und wieder anschauen, aufs Neue drehen, um neue Figuren zu erzeugen. Die Figuren sind zunächst die philosophischen Fragen, ob alles im Leben determiniert ist, ob wir einen Einfluss auf unser Leben haben, ob wir frei entscheiden können, ob wir überhaupt in irgendeiner Sicht frei sind. Dann taucht das Thema der Liebe auf, die viele Arten von Liebe zum Vorschein bringt: Romantische Liebe, Möglichkeit einer Liebe von zwei Gegenseitigkeiten, Liebe eines Kindes zu seinen Eltern, Mutterliebe und Vaterliebe, Generationskonflikte. Das Thema der Einsamkeit deckt scharf auf, wie einsam man innerhalb einer Familie sein kann. Wie einsam sich ein Mensch fühlen kann, bis er seine Identität (wieder-)findet. Wie einsam man die Normalität des Lebens, der gewöhnlichen, täglichen Abläufe empfinden kann, wenn es keine Erfüllung des eigenen Ichs dabei vorkommt. Und natürlich das Thema „Judentum“: Wie schmerzhaft kann ein Jude in dieser Welt empfinden, wie verzweifelt vergisst er sich in seinem Bedürfnis, sich zuschützen, bis er nicht merkt, dass er selbst zum Angreifer wird.

Besonders lobenswert ist die Zusammenstellung der Schauspieler. Das authentische, rührende, an manchen Stellen das Herzzerreißende, aber stets mit jüdischer Ironie lebensbejahende Spiel bringt den Zuschauer mitten in das Geschehnis – am Familienfest, am Tatort, im Krankenhaus. In diesem absolut gelungenen Ensemble spielt Evgenia Dodina zweifellos die erste Geige. Jedes Wort, jeder Blick, jede Handbewegung, jedes Schweigen sagt alles, was man über das Leben an sich wissen soll.

Die Sprache spielt ihre eigene Rolle – nämlich eine Hauptrolle – in diesem Stück. Die vier Sprachen, die ineinander wie arabische Schrift auf den Papierwänden im Bühnenbild fließen, bezaubern, anziehen, fesseln und sich in die Magie der Laute einwickeln. Obwohl die Übertitel stets die Übersetzung geben, an manchen Stellen bleiben sie von den Schauspielern auf der Vorbühne verdeckt. So bleibt dem Zuschauer keine andere Wahl, als in den Zauber des Klangs einzutauchen und in sich hineinzuhören. Ein ungewöhnlicher Effekt, der eine Wahrnehmung der Sprache auf der Metaebene erlaubt.

Das Bühnenbild ist minimalistisch gelöst, was die Zuschauer bei einer überwältigenden Menge von Text dankbar annehmen. Papierwände bieten eine wunderbare Möglichkeit zum Spielen mit dem Hintergrund der Bühne. Ich würde mir fast wünschen, wenn manche Monologe zu Gunsten weiterer, ornamentaler Bilder auf dem Hintergrund, die nicht nur in arabischer, sondern auch in den anderen Sprachen des Stücks, als optische Reize, erscheinen. Schade, dass das Involvieren des Papiers als Medium, dass durch Reißen, Bemalen, Geräusche erzeugen bestimmt den großartigen sprachlichen Anteil des Stücks bereichern würde, ein wenig zu spärlich vorkam. Einen besonderen Platz nimmt die lebendige Musik, die ihren Beitrag zu der Bühnenmagie leistet.

Eine intensive Auseinandersetzung mit komplizierten und eigentlich unangenehmen Themen, mit überwältigenden Monologen und großartigem Spiel der Schauspieler, die man wieder und wieder aufs Neue anschauen will. Das Stück Vögel stellt gewiss viele Fragen und gibt mindestens eine Antwort, wie Etgar zu seinem Sohn David spricht „Das Leben ist einfacher als man denkt“.

Unüberwindbare Brücken - von Hanno Boblenz

Eitan liebt Wahida, Wahida liebt Eitan, die beiden Studenten führen eine moderne Beziehung, jeder arbeitet an seiner Doktorarbeit. Man reist zwischen den Kulturen, pendelt zwischen New York, Marrakesch, Amman und Jerusalem. Fertig. Aber so einfach ist das Leben nicht, schon gar nicht für eine Palästinenserin und einen Juden. Der Autor Wajdi Mouawad ist im Libanon aufgewachsen, mit dem Hass auf Juden als Staatsräson. Eitan, der Jude aus Berlin, und die in New York lebende Wahida, könnten unterschiedlicher kaum sein. Als Genetiker und Naturwissenschaftler sieht Eitan den Menschen als eine Molekularmasse, als Ansammlung von 46 Chromosomen. Es ist ihm unerträglich, „sich unnützen Träumereien hinzugeben“. Die einfühlsame Romantikerin Wahida dagegen lässt ihren Gefühlen freien Lauf.

Doch Gegensätze ziehen sich an und die beiden finden schnell zusammen. Es wäre ein modernes Märchen der Völkerverständigung geworden, hätte Eitan seinen Eltern nicht seine Liebe zu Wahida gestanden. Doch die Vorstellung, dass sein Sohn eine Araberin liebt, eine Angehörige des Todfeinds, ist zu viel für Eitans Vater David. „Sie stammt nicht aus unserem Kreis“, brüllt er ihn an. Keine Jüdin, also unpassend. Kann diese jüdisch-palästinensische Beziehung trotzdem Klischees, Traditionen, Wertvorstellungen, Konventionen überwinden? Nein. David ist gefangen in seiner tradierten Welt und Eitan wirft dem Vater vor: „Leid ist nicht vererbbar, Du vergiftest mich mit dem Leid Deiner Generation.“
Die „Vögel“ spiegeln mehr als den natürlichen Generationenkonflikt wider. Nur Eitans Mutter Norah versteht ihn, hatte sie in ihrer Jugend doch selbst gegen alle Konventionen verstoßen. Die Tochter strammer DDR-Kommunisten wusste nichts von ihrer jüdischen Herkunft, als sie gegen den Willen der Eltern David heiratete. Trotzdem steht Norah zu ihrem David, befürchtet, dass sich Eitans Liebe zu Wahida zwischen sie und ihren Gatten stellt.

Was als Tragödie zwischen Wahida und Eitan beginnt, wächst sich zum Familienkonflikt aus. Als Eitan die wahre Herkunft seines Vaters David in Jerusalem erforschen will und das erste Mal seine Großmutter Leah trifft, geraten Wahida und Eitan in einen Sprengstoffanschlag. Dabei wird er schwer verletzt. Seine Eltern fliegen samt Großvater Etgar aus Berlin ein, treffen auf Davids leibliche Mutter Leah und das Familiendrama nimmt seinen Lauf. Eitans Großvater Etgar gesteht, dass er David als Soldat 1967 im Sechstagekrieg im Palästinensergebiet fand und adoptierte. David ist also kein Jude.
Der Autor spielt mit den Sprachen, verlangt damit aber den Zuschauern genauso viel ab wie seinen Schauspielern. Denn die springen permanent zwischen hebräisch, englisch, arabisch und deutsch, der Zuschauer bleibt über eingeblendete Texte auf dem Laufenden. Das fordert Publikum und Schauspieler gleichermaßen. Furios und packend, wie Itay Tiran als Vater David auf Hebräisch Hasstiraden ins Publikum schreit. Abscheu oder Liebe, Worte drücken Gefühle aus. Und das Publikum versteht es, ohne die Sprachen zu sprechen.

Mouawad spielt mit den Kulturen, untermalt die Handlung mit Musik. Sie begleitet die Schauspieler auf ihrer Reise durch diese unversöhnliche Welt, in der nichts zueinander finden will. Geht es um arabische Themen geht, erklingt die orientalische Laute Oud, jüdische Teile untermalen von Geige gespielte Klezmer-Töne.
Finden Wahida und Eitan trotz aller Hindernisse zusammen? Kann sich Eitans Großvater mit seiner jüdischen Jugendliebe Leah versöhnen, die er vor 35 Jahren verlassen hat? So einfach ist unsere Welt nicht. „Dieser Krieg wird tausend Jahre dauern“, prophezeit David. Er hat Recht: Nine-Eleven, die Intifada, die Unterdrückung der Palästinenser und zuletzt der Krieg in Syrien zeigt: Okzident und Orient stehen sich noch immer unversöhnlich gegenüberstehen. Auch für Wahida und Eitan gibt es kein Happy End. Dreieinhalb packende Stunden mit einer kurzen Pause, nur getrübt durch etwas zu viel Pathos, das Mouawad in den letzten 15 Minuten übers Publikum kippt. Aber auch ein bravouröser Einstand für den neuen Intendanten und Regisseur Burkhart C. Kosminski.