Der Weg zu­rück

von Dennis Kelly
Kammertheater
Dauer – ca. 1:35 Std, keine Pause
Premiere
Fr – 15. Sep 23
Sieht so die Zukunft aus? Forschungslabore und Fernsehstudios werden in Brand gesetzt, Universitäten gestürmt. „Die Regression“ heißt die gewalttätige Bewegung, die sich die technische, kulturelle und politische Demontage unseres Zeitalters auf die Fahnen geschrieben hat, denn der uneingeschränkte Fortschrittsglaube habe die Menschheit an den Rand des Abgrunds geführt. Ein nationaler Regressionsrat verkündet: Wissen ist Qual, Nichtwissen ein Segen. Kenntnisse auf den Feldern der Wissenschaft und Medizin werden negiert, die Kommunikation wird vereinfacht, Religion abgelehnt, Kunst und Kultur zensiert. Innerhalb von 100 Jahren entwickeln sich die zivilisatorischen Errungenschaften schrittweise zurück, und die Gesellschaft wird wieder in einen archaischen Zustand versetzt.

Der britische Dramatiker Dennis Kelly entwirft ein radikales Gedankenexperiment und erzählt sein satirisch überspitztes Zukunftsszenario als Familiengeschichte über fünf Generationen. Im Mittelpunkt steht jeweils die Jugend: Dawn, Tochter des Gründers der Bewegung, opfert ihre Liebe für die Ideale, ihre Kinder propagieren den Überwachungsstaat, ihr Enkel leistet Widerstand in einer zunehmend barbarischen Umgebung. In einer Zeit, in der der Radius des Wissens auf ein Minimum beschränkt worden ist, wird Dawns Urenkelin die Zukunft jedoch neu befragen. Sind wir die letzte Generation, die imstande ist, die Weichen für das Überleben der Menschheit zu stellen? Wer weiß, welche Wege und Irrwege künftig beschritten werden? Der Weg zurück zielt mitten ins Herz unserer verunsicherten Gegenwart.
In dieser Produktion wird Stroboskoplicht verwendet.
Inszenierung
Kostüme
Bewegungscoach
Licht
Marc Döbelin
Dramaturgie

Pressestimmen

Theater der Zeit
Elisabeth Maier, 21. Sep 23
(Selma Spahićs) Zugriff ist direkt, klar und ohne Schnörkel: Die Regisseurin hebt die dunklen Töne hervor. Sie spielt die Tragödie eines auf die Spitze getriebenen Fortschritts aus. Ihre Theatersprache fokussiert die Radikalisierung, die eine Gesellschaft über die Generationen hinweg erfasst. Dennis Kellys Gedankenexperiment … entwickelt die Regisseurin überzeugend. …

Klug zeichnet das Regieteam den Weg von vier Generationen in die Regression nach. … Die Reise durch die Generationen hat Spahić in einem eineinhalbstündigen Theaterabend verdichtet. Dawn nennt der Vater sein Kind, was übersetzt Morgenröte bedeutet. Doch die junge Frau wächst zu einer Kämpferin gegen den Fortschritt heran. Celina Rongen legt ihre Rolle vielschichtig an … die zweifelnden Blicke, die Rongen dem Text grandios entgegensetzt, lassen dieses vermeintlich große Ziel fragwürdig erscheinen. In dem jungen Fanatiker Jonathan findet sie einen Mitstreiter, der keine Fragen stellt. Felix Jordan zeichnet seinen Weg in die Gewalt sensibel nach.

… Im Takt tanzen diese jungen Menschen in ihre eigene Zerstörung. Wie die Worte tötet der Junge am Ende seine eigene Schwester. Die Bühnenmusik von Aken und Nemad Sinkauz spiegelt den Prozess der Gleichschaltung. … Am Ende der Dystopie steht eine schreckliche neue Welt.
Zur vollständigen Kritik
Ludwigsburger Kreiszeitung
Uta Reichardt, 18. Sep 23
Im November 2021, inmitten zahlloser Lockdowns, wird das Stück, ein Auftragswerk für das Berliner Ensemble, uraufgeführt. … Kellys gut 90-minütiges dystopisches Gedankenmodell in fünf Szenen wurde von der Zeit an manchen Stellen sozusagen eingeholt.

… Ungemein ausdrucksstark und ambivalent, zwischen Witz und tiefster Verzweiflung, gelingt gleich schon David Müllers Anfangsmonolog „Eines Mannes“, dem aufgrund der gesundheitlichen Errungenschaften unserer Zeit einerseits zwar seine gesunde Tochter Dawn geschenkt wird, der andererseits aber seine Frau unter der Geburt verliert. Als Folge erwächst aus dieser Krise allerdings sein fataler Wunsch nach Regression …

… Dieser (bitterbösen) Realität (aus den Ideen des Vaters) in Form der regressiven Bewegung, die sich zur totalitären Staatsdoktrin wandelt, fällt in der bravourös dargestellten, selbstkommentierenden Szene aus Erzählerperspektive zunächst Dawns geliebter Jonathan (Felix Jordan) zum Opfer. Bereits hier dominiert allgegenwärtiges Grau an Körpern, Gegenständen und Pflanzen, Bücher stecken im Ofen (Bühne: Lili Anschütz) und der in der ersten Szene noch fluffig daherkommende Popsong Take on me mutiert in unheilvoll dröhnende Elektro-Beats (Musik: Alen Sinkauz, Nenad Sinkauz).

Fazit: Fünf überaus starke, voneinander unabhängige und doch ineinandergreifende Szenen, die auch sprachlich gelungen differieren, lassen darüber hinwegsehen, dass Kellys düstere Zukunftsvisionen schon bedrückend nahe an die Realität herangerückt sind.
Zur vollständigen Kritik
Stuttgarter Zeitung
Nicole Golombek, 18. Sep 23
Ein Rundum-Vorhang … umweht die öde Spielfläche und das sinnlos gewordene Leben eines Mannes, gespielt von David Müller.
Der weiße Stoff wird zum Brautschleier, wenn er erzählt, was für eine klasse Frau seine Cassy ist. Dann zum Tuch, in das er das Baby wickelt, und später zum diagonal auf der Bühne ausgerollten Leichentuch. …
Ein anrührender Start ist David Müller mit seinem leisen, bei allen ironisch bitteren Zwischentönen verzweiflungsvoll wirkenden Monolog gelungen. …

So wie die Regression inhaltlich voranschreitet und sich das Leben der Figuren vereinfacht, verändert sich das Stück in seiner Machart … Es werden Thesen verkündet, Lebenszustände berichtet, aus dem Off ein Anti-Märchen erzählt, während das Ensemble maschinenartig monotone Bewegungsabfolgen wiederholt.
Die Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit spiegelt sich in der Unlust an Rede und Widerrede. Immer öder wird die Welt der Figuren … Umso schöner sind Details und verspielte Momente, die sich das Regieteam, die Bühnenbildnerin Lili Anschütz und das Ensemble erarbeiten. Wenn die Tochter Dawn (Celina Rongen) mit einem jungen Verehrer (Felix Jordan) turtelt und die Welt noch nicht ganz aus den Fugen ist …

… lässt, bei aller berechtigten Sorge um den desolaten Zustand der Welt, zumindest auf eine spannungsreich fortschreitende Saison hoffen.
Zur vollständigen Kritik
Südwest Presse
Otto Paul Burkhardt, 18. Sep 23
Regisseurin Selma Spahić … platziert das Ganze zuweilen in einer apokalyptischen Ruinenlandschaft. Selbst die Pflanzen werden grau, unheilschwangere Musik tönt aus dem Off. Ein „Regressionsrat“ verordnet aberwitzige Regeln: „Wissen ist Qual, Nichtwissen ist Segen.“ Die gesammelten Dystopien von Samjatin, Huxley und Orwell lassen grüßen. Am Ende, nach fünf Generationen Tyrannei, nach Wutreden und Gewaltberichten, wagt eine Urenkelin so etwas wie Widerstand …

… kluge Regie und … spielfreudige(s) Ensemble …
Zur vollständigen Kritik
Online Merker
Alexander Walther, 16. Sep 23
In der subtilen Inszenierung von Selma Spahic … (tritt) eine verunsicherte Gesellschaft … in ihrer ganzen Hilflosigkeit zutage. … Das 2019 vor der Corona-Pandemie entstandene Stück erzählt davon, dass der Kapitalismus schon weitgehend seinen Sinn verloren hat. Der skrupellose Fortschritt wird von den Protagonisten in Frage gestellt. … Im mit Sand bedeckten Bühnenbild von Lili Anschütz und den Kostümen von Selena Orb beweisen die Schauspieler immer wieder ihre Wandlungsfähigkeit: „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“.

Zwei große Monologe, eine Liebesszene, ein Zukunftsmanifest und ein Anti-Märchen werden dabei zu einer atemlosen szenischen Folge verbunden, wo jeder Teil eine Welt für sich bildet. …

Die Regisseurin Selma Spahic ist in Bosnien aufgewachsen und hat die Folgen des Krieges miterlebt. Das spürt man auch in ihrer Inszenierung. Die Sprache erscheint als ein riesiges Spielfeld der Macht, sie wird auch zensiert. … Der Sinn des Lebens ergibt sich vielleicht auch darin, die galoppierende Zerstörung unseres Planeten zu stoppen und den nicht durchdachten Fortschritt der Menschheit aufzuhalten.

Viel Applaus und „Bravo“-Rufe.
Zur vollständigen Kritik