Zeit wie im Fieber (UA)

Büchner-Schrapnell
von Björn SC Deigner
Kammertheater
Dauer – ca. 1:30 Std, keine Pause
Uraufführung
Sa – 11. Nov 23
Die Losung Georg Büchners „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ kommt uns heute allzu simpel vor. Doch wo beginnen, wenn man mit den Verhältnissen nicht einverstanden ist? Lena und Julie sitzen im Kessel fest und versuchen, auf den Hang zu gelangen, wo der Blick weit und die Luft frisch ist. Dort oben, wo man es sich „für unser Geld lustig macht“, ließen sich Spiegel aufstellen, die das Sonnenlicht selbst in die finstersten Keller im Tal bringen. Doch auf ihrem Weg dorthin begegnen die beiden einem eigenartigen Personal, das aus ihrer Unzufriedenheit ganz eigene Ableitungen getroffen hat – sei es ein König, ein eifriger Bäcker oder diese Ärztlerin, die mit ihren Gedanken zur Entfaltung des Menschen immer wieder auftaucht. „Eine revolutionsreife Wirklichkeit fällt nicht vom Himmel“, so Rudi Dutschke. Aber woher kommt sie dann? Skepsis der Demokratie gegenüber begegnet einem allerorten: Woher kommt diese Gemengelage, und was stimmt an ihr am Ende sogar?

Für seinen Text entleiht Deigner Motive und Figuren von Büchners Texten, dem Autor des Hessischen Landboten, der als Revolutionär schlechthin gilt. Dieser Bezug dient Deigner zur Aktualisierung der Frage, wie Revolution heute aussehen kann und ob man die Verhältnisse überhaupt noch ändern will, wenn sie bei einem selbst anfangen.
Inszenierung / Bühne
Kostüme
Musik
Dramaturgie

Pressestimmen

die tageszeitung
Björn Hayer, 13. Nov 23
Statt dem Geschichtsoptimismus mancher seiner Zeitgenossen zu folgen, schwor er (Büchner), der in seinen Pamphleten unermüdlich auch soziale Missstände anprangerte, letzthin auf die Ambivalenz. Auch die beiden Protagonistinnen in Björn SC Deigners „Büchner-Schrapnell“, das unter dem Titel „Zeit wie im Fieber“ am Stuttgarter Schauspiel uraufgeführt wurde, wollen sich nicht voreilig auf irgendeine Seite schlagen und fragen sich: Wie kann man heute für radikale Veränderungen eintreten, ohne populistischen Vereinfachun-gen zu unterliegen? Wie lassen sich die Menschen in der bräsigen Wohlstands- und Komfortzone zum Handeln bewegen?
Um Antworten zu finden, begeben sich die dem Drama „Leonce und Lena“ entsprungene Lena (Sylvana Krappatsch) sowie Julie (Paula Skorupa) aus „Dantons Tod“ auf eine imaginäre Reise. Sie treffen auf allerlei skurrile Typen mit jeweils geschlossener Weltsicht.

… gerade ihr (Lenas und Julies) zähes Ringen (zeugt) vom Bewusstsein, dass wir es eben mit einer komplexen Wirklichkeit zu tun haben. Sie gilt es zu verbessern, nur eben ohne Absolutheitsansprüche.
Zino Wey findet dafür in seiner Inszenierung stimmige Bilder. …

Philosophisch ambitioniert und unterhaltsam überspitzt in den Figurenzeichnungen, regt diese Inszenierung zum Innehalten an. Sie katapultiert uns heraus aus dem schnelllebigen Rausch der Posts und hastig zusammengezimmerter Meinungen. Sie wirbt für die Suche nach dem Guten, ohne auf Differenziertheit zu verzichten – ein Spagat, der dem intellektuellen Diskurs abseits der Freund-Feind-Logik Raum gibt. Was würde wohl Büchner dazu sagen? Ganz gewiss: Mehr davon!
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Die Deutsche Bühne
Thomas Morawitzky, 12. Nov 23
Aufrührerische Fantasien geistern durch Stuttgart und treffen dort, wer hätte das gedacht, auf Brezelbäcker, Wutbürger und solche, die sehr artig niemals ihre Kehrwoche versäumen. … Ein paradoxes Stück, mit schwerem Text beladen und doch von Leichtigkeit, ernst und heiter, von gestern und heute.

Zunächst einmal: Was darf man sich vorstellen, unter einem „Büchner-Schrapnell“? „Ein Schrapnell“ – das sagt das Lexikon – „ist eine Artilleriegranate, die mit Metallkugeln gefüllt ist. Diese werden kurz vor dem Ziel durch eine Treibladung nach vorn ausgestoßen und dem Ziel entgegengeschleudert.“ Björn SC Deigner, Hörspiel- und Theaterautor, sieht sein Stück also vielleicht als Waffe an, die er mit der Sprache Büchners aufgeladen hat und auf sein Publikum abfeuert. Ein Experiment, das zeigen soll, ob diese Munition 210 Jahre nach Georg Büchners Geburt noch zündet, trifft? Deigner hat seinem Büchner-Schrapnell allerdings auch Zitate von Rudi Dutschke, Ulrike Meinhof, Peter Schneider und Max Weber beigemischt – „und vielen anderen, die Unruhe umtreibt“. …

Das Stück also ist ein Konstrukt aus zahlreichen Exzerpten. Die Teile sind eingebunden in einen Text, der den Duktus von Georg Büchners Sprache aufnimmt, weiterspinnt, die Grenzen verwischt – wobei der Autor selbst betont, dass es ihm nicht darum gehe, Büchner fortzuschreiben, sondern mit den Motiven seiner Werke zu spielen – „sie für das Heute abzuklopfen.“ …

Einfach machen will Björn SC Deigner es den Zuschauern nicht. „Zeit wie im Fieber“ ist ein Stück, das komplex mit Sprache und Motiven umgeht. Aber es ist ein Stück, das dabei erstaunlich gut funktioniert. Das verdankt es zu keinem geringen Teil Sylvana Krappatsch und Paula Skorupa, die mit fragenden, erstaunten, nachdenklichen Gesichtern durchs Stuttgarter Pandämonium schreiten. …
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Nachtkritik
Thomas Rothschild, 12. Nov 23
Es gehört heute zum guten bürgerlichen Ton, Sätze wie den von Büchner („Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“) oder Brechts "Und weil der Mensch ein Mensch ist, / drum hat er Stiefel ins Gesicht nicht gern./ Er will unter sich keinen Sklaven sehn / und über sich keinen Herrn" als "allzu simpel" oder gar überholt zu belächeln und somit zu entsorgen. Was aber ist an ihnen falsch? Verrostet sind nicht Büchner oder Brecht, sondern jene, die ihren Frieden mit dem Unrecht auf dieser Welt gemacht haben. …

"Zeit wie im Fieber" vermittelt einen guten Eindruck davon, was mit "Postdramatik" gemeint sein könnte. Zwar treten Figuren auf, aber, anders als bei Büchner, handeln sie nicht und erleiden keine Bühnenaktion, sondern reden nur. Anders wiederum als bei den Textflächen von Elfriede Jelinek und ihren Nachahmer*innen, ist hier die Rede Figuren zugeordnet. Worüber sie reden, enthält ein kunterbuntes Gemisch von Büchnerschen Motiven, die unaufdringlich in die Gegenwart transportiert werden, ist durchsetzt mit assoziationsträchtigen Begriffen, nicht nur von Büchner, wie "Natur", "Volk", "Revolution", wird aber zusammengehalten durch den Büchnerschen Ton. …

Deigner ist auch Musiker, und wie ein Musiker komponiert er seinen Text, rhythmisiert, stellenweise metrisch: "manchmal überkommt es mich und dann mit aller macht. und dann will auch ich eine kerbe in diese welt schlagen, auf dass sie zittert." Es ist diese fast archaische Sprache, ihre prosodische Schönheit und ihr Kontrast zur anhaltenden Aktualität der Motive, aber auch die gewagten Bilder sind es, was den ästhetischen Reiz von Deigners Stück ausmacht. …

Zino Wey überträgt das Visuelle den Nebenfiguren, die er jeweils verdreifacht. Gabriele Hintermaier, Marco Massafra und David Müller spielen oder tänzeln vielmehr, begleitet von einem mechanischen Klavier, alle Rollen von der Ärztlerin bis zum talentierten Pferd, mal in Arztkitteln mit bekränzten Perücken, mal als groteske Könige, mal mit Bäckermützen und Riesenbrezeln, mal als angedeutete Zirkuspferde. …
Sylvana Krappatsch als Lena und Paula Skorupa als Julie hingegen liefern ihre … Dialoge wie ein Zwillingspaar in schwarzen Rollkragenpullovern, engen Hosen und Stiefeletten. Sie sprechen teils zu einander, teils zum Publikum. Dabei fasziniert die wunderbare Sylvana Krappatsch einmal mehr mit Gesten, die zum Text eher quer liegen als ihn zu verdoppeln. …
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Stuttgarter Zeitung
Nicole Golombek, 13. Nov 23
Der Dramatiker … Björn SC Deigner, ein in Heidelberg geborener Musiker und Autor, sampelt und kombiniert Figuren und Themen auch anderer Autoren. Ein riesiges Banner, auf einem Gerüst aufgespannt, ist mit Zeilen aus einem expressionistischen Gedicht von Alfred Lichtenstein beschriftet: „Im Wind-Brand steht die Welt. Die Städte knistern“ (die Klimaerwärmung – Stürme, Hitze – wird der Dichter mit „Wind-Brand“ womöglich noch nicht gemeint haben, passt aber als Anspielung aufs Hier und Heute auch gut).

… Auch wenn sich Sylvana Krappatsch großartig in die Klagerede eingroovt, sich mit Kunstpausen über die maue Lust der Leute, gegen die da oben aufzustehen, wundert und eine spannungsreiche Distanz zum Text aufbaut. Einfache Antworten, so der an sich kluge Gedanke Deigners, kann es auf die Probleme der Gegenwart und auch auf die Frage des wenig bis nicht revoltierenden Volkes nicht geben …

… die Glitterhosen und Puschel an den Beinen, die orangeroten Mähnen, die Vollbärte und rot-weißen Mützen, die blumenumkränzten, zuckerwatteartigen Perücken der Nebenfiguren (Kostüme: Pascale Martin) sind durchaus effektvoll.
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