Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau (UA)
Kammertheater
Ab Klasse 10
Dauer – ca. 2:10 Std., keine Pause
Uraufführung
Sa – 06. Jan 24
Sa – 06. Jan 24
Stuttgart im Treibhausklima: Christof ist Anfang zwanzig und unheilbar krank. Noch ein letztes Mal möchte seine Freundin Nicola mit ihm einen Tag verbringen – ganz so wie früher, als er noch gesund war. Sie nimmt ihn mit auf eine imaginäre Reise an jene Orte, die ihnen etwas bedeutet haben: ihre alte Schule, das Schwimmbad, den Fernsehturm … Die Intensität ihrer Erlebnisse ist eine letzte Feier tiefer Verbundenheit aus voller Lebensfreude. Schließlich verabschiedet sich Christof mit sarkastischem Humor: Er ist froh, den Planeten zu verlassen, weil er dessen Untergang nicht länger erträgt. Auf dieser Reise durch die Stadt begegnen wir auch Christofs Vater, einem erfolgreichen Automobilverkäufer, der gezeichnet von Schicksalsschlägen in Schwermut versinkt, und seinem Onkel, der im Gefängnis saß. Der liebeskranken Karolina, die sich der Hoffnung hingibt, dass das neugeborene Kind ihres Bruders die Welt retten wird, und Marie, einer Deutschlehrerin, die in dem 18-jährigen Studenten Tomas ihren verstorbenen Sohn erkennt.
In seinem psychologischen Beziehungsdrama erzählt Simon Stephens von familiären Tragödien vor dem Hintergrund des Klimawandels und generationsübergreifender Konflikte. Während die Jugend sich von ihren Eltern im Stich gelassen fühlt und in ihrem Suchen und Sehnen ins Leere läuft, zieht sich die Vätergeneration, zerrissen von ihren missglückten Lebensentwürfen und ihren veralteten Skripten, zurück in die Einsamkeit und verstummt. Sie alle erfahren sich als heimatlose Ausgesetzte in einer Welt, die ihnen fremd geworden ist.
In seinem psychologischen Beziehungsdrama erzählt Simon Stephens von familiären Tragödien vor dem Hintergrund des Klimawandels und generationsübergreifender Konflikte. Während die Jugend sich von ihren Eltern im Stich gelassen fühlt und in ihrem Suchen und Sehnen ins Leere läuft, zieht sich die Vätergeneration, zerrissen von ihren missglückten Lebensentwürfen und ihren veralteten Skripten, zurück in die Einsamkeit und verstummt. Sie alle erfahren sich als heimatlose Ausgesetzte in einer Welt, die ihnen fremd geworden ist.
Inszenierung
Kostüme
Video
Ulf Stengl
Licht
Dramaturgie
[Der Autor Simon Stephens hat] festgelegt, wie sein Stück aufgeführt werden soll: karges Bühnenbild, die Räume lieber metaphorisch als ausformuliert, keine Requisiten, bitte keine Pause. Goerden hat sich größtenteils daran gehalten. Die Bühne im Kammertheater ist karg, in der Mitte schwingt lediglich ein an der Decke befestigter Metallrahmen, der als Sitzgelegenheit dient. …
Hauptfigur ist der unheilbar kranke, erst zwanzigjährige Christof, um den herum sich die Geschichten der Figuren miteinander verweben. … Er ist gegen den Strich besetzt, Felix Jordan gibt ihn in der Phantasie seiner Freundin Nicola besonders vital und unbekümmert. Camille Dombrowsky spielt Nicola angenehm leise und unprätentiös. …
… Auch Therese Dörr und Simon Löcker haben als Marie und Tomas diese Traurigkeit und Leichtigkeit zugleich, die es für Stephens’ Figuren braucht. …
Stark ist der Abend, wenn es um den Tod geht, die wahre Stille, den eigenen Umgang mit Trauer. ... So wirkt der Tod in diesem Ensemble-stück nicht ganz schwarz, sondern wie etwas, das man gemeinsam begehen kann und wobei man, wenn man Lust darauf hat, auch eine verspiegelte Sonnenbrille tragen kann.
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Die Regie setzt Stephens’ philosophische Expeditionen durch die Stadt- und Seelenlandschaft kongenial um. Zwiegespräche über Liebe und Hass, Schmerz und Verlust, Schuld, Vergebung, Angst, Verzweiflung, Verbitterung und, nicht nur in Christofs Todesstunde, erneut Liebe und Freundschaft.
Auf ihrem Abschiedstrip schlagen Christof und Nicola (Felix Jordan und Camille Dombrowsky) einen fast heiteren, unsentimentalen Plauderton an. Das Stück ist eine Feier des Lebens in Moll, egal, ob Gott eine Lüge ist oder nicht. Goerden und Stephens, Brüder im Geiste, können den Herrn zumindest im Theater ersetzen. Sie sind exzellente Zuhörer.
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Dabei gelingt es der Aufführung, große Momente der Schönheit herzu-stellen, ohne in den Kitsch abzudriften.
Elmar Goerden, der sich viel Zeit lässt, um die filigrane Entwicklung der Figuren darzustellen, setzt mit kurzen Fluchten aus dem Alltag … bemerkenswerte Akzente. Sie erzeugen Dynamik, wo allzu rasch eine lähmende Tragik triumphieren könnte.
Auf diese Weise schafft das Schauspiel Stuttgart für die Dauer der Aufführung eine Gesellschaft des empathischen Zuhörens. Und was wäre in Zeiten zunehmender Konfrontationen und sich abschottender Echokammern wertvoller?
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Ungeheuer traurig ist … die Ausgangslage: Nicola (Camille Dombrowsky) und Christof (Felix Jordan) sind ein glückliches junges Paar, doch Christof hat Krebs, er wird sterben. … Es finden bei aller Trauer ständig Menschen zueinander, hören sich zu, essen gemeinsam. … Stephens spielt mit Sentimentalität und unterläuft sie. … [Er] schätzt nicht nur gelegentlichen Gefühlsdusel, er kann auch Ironie.
... Fast alle Figuren haben Kranke und Tote zu beklagen. Das kann einen schon dazu bringen, die Existenz Gottes abzustreiten. Wie Marie (Therese Dörr), deren Kind bei einem Wohnungsbrand umkam und die seither gramgebeugt ihr Leben mit Kaffee, Zigaretten und Thomas-Mann-Lektüre bestreitet. Oder es kann dazu führen, erst recht nach Gott zu suchen. Wie der junge angehende Religionsphilosoph und Kartenzaubertrickser Tomas (Simon Löcker), dessen Vater an Corona starb. Maries verletzliche Ruppigkeit und Tomas’ offenes, anteil-nehmendes Wesen bilden einen reizvollen Gegensatz. Wie es mit ihrer Freundschaft, Liebe vielleicht, weitergehen könnte, das würde einen dann doch interessieren. Eine Paarung, die … durch Regie und Darsteller zu heiterem Leben erweckt wird, ist die zwischen dem Polizisten Lukas (Gábor Biedermann) und seinem Nachbarn Karl (Boris Burgstaller). … Wie Karl vor neugierig-hibbeligem Eifer, etwas über die Arbeit des Polizisten zu erfahren, den Teebeutel aus dessen Tasse fischt und ausdrückt und wie Lukas indigniert dreinschaut, das ist famoses Komödiantentum. Natürlich findet auch dieses seltsame Paar zusammen.
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… Goerden verlegt das Ganze in die Fantasie. Der todkranke Chris (Felix Jordan) ist ein Springinsfeld, der wild über die Bühne tigert. Das mag irritieren, doch es spiegelt die bereits einsetzende Erinnerung an ihn – zudem sein Selbstgefühl und seine Verzweiflung. …
Goerdens unaufgeregte Inszenierung gibt auch den Nebenfiguren mit ihren Träumen und Traumata viel Raum – etwa Marie (Therese Dörr), die den Tod ihres vierjährigen Sohnes zu verkraften hat und zarte Bande mit dem verhuschten „Zauberberg“-Leser Tomas (Simon Löcker) knüpft … Goerdens lebensweise, anrührende Regie belässt all diesen Verletzten ihre Würde. Und schafft es, aus einem Text über den Tod ein Mutmach-Stück übers Leben zu zaubern.
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Der Anfang gehört zu den stärksten Teilen des Stücks, weil die Gegenwart des Todes ständig mit lakonischen Witzen überspielt wird.
Ein brechtisch-kahles Arrangement, in dem die Personen zunächst wie Puppen in einem riesigen blechern-industriellen, bisweilen schwan-kenden Bilderrahmen ratlos umheragieren. Hinten läuft ein Durcheinander aus Schriftzügen, die sich bisweilen zu Textzeilen des Stücks konkretisieren. So geht auch die Regie vor. Erst ganz allmählich wird Goerden den Knoten zuziehen und das Publikum mit dem Untergang eines Lebens konfrontieren.“
Die Begabung des Autors Simon Stephens ist es, mit kargen Worten große Bedeutungsräume aufzumachen.
Matthias Leja macht aus der Rolle eine Studie völliger Vereinsamung.
All diese Familienaufstellungen sind natürlich auch eine Kultur-diagnose. Simon Stephens erzählt von einer hilflosen Elterngeneration, die nichts gegen die Ökokatastrophe getan hat, und von einer Jugend, die sich ganz gerne von dieser Welt verabschieden würde. „Man kann ja eh nichts machen“, sagt der Sterbende.
Der Regisseur Elmar Goerden dimmt das dann wieder herunter. Der Sterbende stirbt nicht, er geht einfach raus. Inmitten all des Text-flächentheaters ist das eine beeindruckende Arbeit.
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Klaus Rodewald gibt ihm die prägnanten Züge eines älteren Mannes, der seine Lebenswunden in einem erfolgreichen Berufsleben zu kompensieren versucht. Er trägt eine Maske, aber sie bekommt Risse, wenn der Schwager auftaucht. Dieser, Matheus, saß wegen Kinder-pornografie im Gefängnis und möchte nun seinen sterbenden Neffen besuchen. Matthias Leja spielt diese Figur als gekrümmten Menschen changierend zwischen demütigem Schuldbewusstsein und Nicht-Verstehen aus. Einfach grandios, wie er das macht.
Stephens stellt eine vereinsamte Elterngeneration jungen Menschen gegenüber, die Pläne haben, aber in und an der Gegenwart leiden. … So entsteht ein weites Feld von Geflechten, die mehr oder wenig weitläufig um die Beziehung zwischen Christof und Nicola kreisen.
Elmar Goerden hält sich eng an die Vorgaben von Stephens: es gibt keinen Bühnenrealismus. … Christof und Nicola … sind zugleich Akteure und Betrachter aus einer Distanz. Das lässt diese Aufführung eigentümlich schillern, weil in dieser Doppelung das Verhalten des Zusehens verhandelt wird: Schaue ich nur zu oder handele ich? Felix Jordan zeigt äußerlich als Christof keinerlei Symptome seiner tödlichen Krebserkrankung, aber er handelt passiv. Er leidet nicht, sondern lässt es mit sich geschehen.
Alle Energie geht in dieser Beziehung von Nicola aus, von der schauspielerischen Entdeckung dieser Inszenierung: Camille Dom-browsky. Sie reißt nicht nur Christof mit, sondern auch das Publikum …
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Regisseur Elmar Goerden … inszeniert Stephens‘ Figurengeflecht, als würden verstörte und verängstigte, aber auch gefährliche Einzelteil-chen eines Menschenstroms hin- und hergespült. Sie wollen alle zusammenfinden, können das aber nicht. Überforderte, im Strom der Zeit verlorene Menschen bewegen sich auf einer Bühne, die diese Verlorenheit unterstreicht. Silvia Merlo und Ulf Stengl haben einen zeichenhaften … Bühnenraum gebaut. … Mehr ist da nicht und auch nicht nötig, schließlich steht im Zentrum von Stück und Inszenierung dieser Christof, der das Unausweichliche akzeptiert und den Felix Jordan so spielt, dass die endzeitliche Lebenslust des Todeskandidaten niemals peinlich wirkt.
Camille Dombrowsky ist als Nicola eine zwischen Verzweiflung und dem Willen zum Durchhalten wechselnde Freundin des Todgeweihten. Beeindruckend, wie sie das Herantasten an das Unvermeidliche spielt und mit dafür sorgt, dass das Stuttgarter Premierenpublikum gebannt einem Theaterabend folgt, der die Zerrissenheit der 2020er-Jahre in Einzelschicksalen spiegelt.
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Nichts ist stabil! Requisiten gibt es nicht. Kochen, essen, trinken die Protagonisten, oder schweigen sich an, informiert darüber ein Schriftband mit Stuttgarter Bezügen auf der schwarzen Leinwand im Hintergrund. Hier regiert das Wort, sonst nichts.
… in ihren Monologen und Dialogen offenbaren alle bis auf dieses Paar ihre Abgründe, Sorgen und Nöte. Am bewegendsten Christofs Vater Walter. Wie Klaus Rodewald dessen Ängste und Obsessionen bekennt, ganz Haltung, ganz schonungslos, geht tief unter die Haut. Und dann diese Lebensbeichte mit der selbstgefälligen Feststellung bricht, „aber, ich glaube, ich bin bei Porsche ein guter Verkäufer“. Förmlich mitleiden muss man mit dem fantastischen Matthias Leja …
Der Tag geht zu Ende, der Tod naht. Zeit zu einem letzten wilden Tanz des ganzen Ensembles mit der zarten Camille Dombrowsky als mal kämpferische, mal verzagte, doch immer authentische Nicola und Felix Jordan, der den kranken Christof mit einer kräftigen Portion Sarkasmus als vitalen Typen gezeichnet hat. … Kurz verharrt das Ensemble noch wie zu einem stillen Gedenken; dann darf das Publikum seinem Jubel über diese rundum gelungene Uraufführung lautstark Luft verschaffen.
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Freilich sind weitere – reale – Akteure zugegen, die in episodenhaften Handlungssträngen mehr als nur Nebenrollen einnehmen, ohne dass die Geschichte dadurch jedoch nennenswert zerfasern würde: Christofs Onkel Matheus etwa, … den Matthias Leja beeindruckend dünnhäutig, ausgezehrt und stets nah am Wahnsinn mimt. Oder das zum Schmunzeln einladende Nachbarsduo aus grantigem Kommissar Lukas (Gábor Biedermann) und dauerquatschendem Bibliothekar Karl, … die sich allmählich anfreunden, genauso wie die kettenrauchend-desillusionierte Marie (stark: Therese Dörr), … und der junge, zer-brechlich wirkende Philosophiestudent Tomas (Simon Löcker).
Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau entwickelt sich … zu einer Art philosophischem Kaleidoskop der Sinnsuche, die sich in zuweilen verzaubernder und zugleich quicklebendiger Atmosphäre über Nicolas und Christofs schweres Schicksal legt. So kann Nicola ihren Christof am Ende womöglich getröstet, wenn auch traurig gehen lassen.
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Dass [die] Geschichten [der Figuren] und ihre Selbsterkenntnis … berühren, liegt an der geschlossen starken Leistung des Ensembles. Als einsamer Polizist Lukas, der sich seinen schrulligen Nachbarn Karl vom Leib halten will, überzeugt Gabór Biedermann mit seinem diffe-renzierten Blick auf die … Rolle.
Matthias Leja als Kriminellem … gelingt eine tragische Rollenstudie. Der Schmerz über seine Verbrechen spiegelt sich in verkrampften Gesten. Die tragische Dimension, die Stephens’ Figuren innewohnt, zeigt er stark. Großartig offenbart auch Therese Dörr Leid und Selbstvorwürfe einer Mutter, die sich für den Tod des eigenen Kindes verantwortlich fühlt. „Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau“ spiegelt die Verwirrtheit von Menschen, denen Pandemie und Klimakrise den Boden unter den Füßen weggezogen haben. …
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… [Camille] Dombrowsky hält den Abend zusammen. Spielt das rührend natürlich: die Verzweiflung und Wut über das bevorstehende viel zu frühe Ende ihres Geliebten, ihre von Schmerz und Angst erfüllte Ruppigkeit, ihre Fürsorge, ihre tiefe Traurigkeit, ihre Liebe. …
Leja spielt Matheus … wirklich gut: Zerrüttet von der Haft, dünnhäutig, unsicher, wirr, auch unberechenbar – und unbelehrbar. An ihn knüpft sich wiederum die Rolle des Kommissars Lukas (Gábor Biedermann), den der Kontaktabbruch seiner Tochter quält, der aber als Zielperson seines kommunikationsfreudigen Nachbarn Teil einer komödiantischen Glanzleistung werden wird: Boris Burgstaller – mit Kurzhaar-Minipli und in schickem fliederfarbenem Anzug – wanzt sich recht ordentlich an den brummeligen Polizeibeamten an, und das mit lustig-detaillierter Übergriffsfreude …
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