Die Rache ist mein

von Marie NDiaye
Nach dem gleichnamigen Roman in der Übersetzung von Claudia Kalscheuer
Für die Bühne bearbeitet von Annalisa Engheben und Carolin Losch
Kammertheater
Dauer – ca. 1:45 Std., keine Pause
Uraufführung
Sa – 11. Mär 23
In Maître Susanes Anwaltskanzlei in Bordeaux taucht ein Mann mit einem ungewöhnlichen Anliegen auf: Er bittet sie, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen, die die drei gemeinsamen Kinder umgebracht hat. Noch beunruhigender als die scheinbar fehlenden Motive der Mutter ist jedoch die frappierende Teilnahmslosigkeit des Vaters. Die Anwältin sieht sich auf einmal mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. In ihrem Klienten glaubt sie den Jungen aus reicher Familie zu erkennen, der ihrem Leben eine unerwartete Wendung gab.
Eine alles erfassende Unsicherheit schleicht sich in Maître Susanes Leben. Was ist Wirklichkeit, was ist Täuschung? Auch das Verhältnis zu Sharon, ihrer illegal eingewanderten Haushaltshilfe aus Mauritius, gestaltet sich zunehmend schwierig. Ein fein gesponnenes Netz aus Abhängigkeiten bindet die Akteure aneinander, nach und nach lösen sich die Umrisse einer vertrauten Realität auf.
Drei Frauen im Gefängnis ihres Lebens: eine Mörderin, die an der Einsamkeit eines ereignislosen Vorstadtlebens zerbrochen ist, eine Einwanderin ohne Papiere im Dienste der französischen Mittelschicht und eine stets funktionierende Anwältin, die ihre latenten Minderwertigkeitsgefühle unter einer zunehmenden Kälte zu verbergen versucht.

Marie NDiaye entwirft ein raffiniertes Spiel mit unseren Erwartungen und Ängsten, eine Bestandsaufnahme moderner Lebenswelten, in der die soziale Herkunft das Leben stärker bestimmt, als wir uns eingestehen möchten. Die Rache ist mein seziert die französische Gesellschaft zwischen bürgerlicher Gefühlskälte, der Scham der Aufsteiger:innen und den Verwerfungen der kolonialen Geschichte.
Inszenierung
Bühne
Kostüm
Musik
Dramaturgie

Pressestimmen

Theater der Zeit
Otto Paul Burkhardt, 15. Mär 23
Hier ist alles in der Schwebe. Wir blicken auf ein Metallgestänge aus angedeuteten Türrahmen, Torbögen, Treppen – doch das alles ist nicht fest im Boden eingepflockt, sondern baumelt wie ein riesiges Mobile an Seilen hängend von der Decke herab. Nichts ist fix, alles schwankt ständig hin und her. Bei der geringsten Berührung gerät der ganze Stangenwald ins Schlingern. Nicht schlecht, dieses sprechende Bühnenbild von Andrej Rutar – denn die hier erzählte Geschichte ist voller Ungewissheiten, entführt uns in ein bizarres Labyrinth von Wünschen, Ängsten und Projektionen.

[…] Das, was die Autorin da entfaltet, ließe sich auch als raffinierter Schauerroman bezeichnen. Denn der Mandant, der in der Anwältin offenbar frühe Tabus und Phantasien wieder aufwühlt, braucht ihren Rechtsbeistand, weil seine Frau Marlyne Principaux die drei gemeinsamen Kinder ertränkt hat – eine Medea-Wiedergängerin, die das Ganze noch mit einer Prise archaischer Tragik auflädt. […]

Die auf knapp zwei Stunden eingedampfte Theaterfassung, die den Romantext auf vier Schauspielende verteilt, kann dies alles auf der Bühne nur punktuell anreißen. […] Doch andererseits trifft Annalisa Enghebens Inszenierung, als permanente Suche nach Halt in diesem unsicher schwebenden Sozialdschungel, den ständig zweifelnden, fragenden Tonfall des Romans atmosphärisch sehr genau. Auch in Enghebens Regie sprechen die Personen fast nie in direkter Rede miteinander. Stattdessen dominieren wie im Roman Projektionen, Vermutungen, Phantasien – im Grunde Monologe: Auch das ist ein vielsagender Befund des Romans, der in Stuttgart als soziale Pathologiestudie lesbar wird. Obwohl durch die Vagheiten des Textes auch erinnerte Fragmente von Gewalt, Missbrauch, Mord und Vernichtung geistern, macht Engheben nie den Fehler, um der Dramatik willen, die Schwebe dieses Netzes an gegenseitigen Mutmaßungen zugunsten scheinbarer Eindeutigkeiten aufzugeben.

[…] Intensität vermitteln die differenzierten, klischeefernen Selbstreflexionen des Paares Principaux, sowohl von Peer Oscar Musinowskis Gilles wie auch von Celina Rongens Marlyne, deren zwanghaftes Beziehungsglück zerbröselt. So gerät Rongens Marlyne beim Vergegenwärtigen ihrer Mordtat – das älteste Kind heißt, wie Medeas fremdgehender Gatte, Jason – in ein existenzielles, den ganzen Körper ergreifendes Zittern. […] Vielsagend […] setzt die Regie einen endlos langen roten Schal ein, der, je nachdem, als Blutspur des Kolonialismus, als erstickende Bürde, aber auch als solidarisch verbindendes Band zwischen den drei Frauen und als Ariadnefaden im Irrgarten der Ungewissheiten deutbar wird. […]

Zur vollständigen Kritik
Heilbronner Stimme
Claudia Ihlefeld, 15. Mär 23
[…] die Bühne von Andrej Rutar im Kammertheater [ist] ein kluger Hingucker. Ein raumgreifendes Mobile aus Metallstangen erinnert in seiner labilen Künstlichkeit an ein kinetisches Objekt des US-Bildhauers Alexander Calder. Und setzt die vier Protagonisten in wechselnde Bezüge, ohne Bodenhaftung. Mal fungiert das Konstrukt als Treppen-stufen, als Schaukel, als imaginierte Wand, zieht sich einer mit einem Klimmzug empor, lehnt eine zwischen zwei Stangen in einer Art Türrahmen. Zur geschmeidig eleganten Lichtgestaltung erklingen elektronische Beats […]

[…] Das sind starke Szenen, wenn Rongens frustrierte Ehefrau davon träumt, wie ihr Mann mit den Kindern einen Autounfall hat und sie endlich frei wäre. Und Musinowskis Gilles diese Frau, die er für gewöhnlich hielt, nach der Tat als düstere Heldin mehr als zuvor liebt. […]

Die Deutsche Bühne
Thomas Morawitzky, 12. Mär 23
[…] Bühnenbildner Andrej Rutar hat diese Innenwelt der Anhängigkeiten, Unwägbarkeiten, Symmetrien, der verschleierten sozialen Gewalt, als ein großes, frei schwebendes Mobile aus metallischem Gestänge über die Bühne des Kammertheaters gehängt. Man sieht weit geschwungene Bögen, Rahmen, die die Figuren voneinander absondern, zu Schaukeln werden können, die Umrisse eines Hauses bilden, und eine Treppe, die in diesem Gebilde aufwärts führt. […] All dies wirft lange Schatten in den sonst leeren Raum, den Jörg Schuchardt mit gleichmäßigem Licht füllt und Geza Cotard mit elektronischen Klängen. […]

Die Szenen, in denen Gilles und Marlyne Principaux zur Sprache kommen, sind die darstellerisch zentralen Momente der Inszenierung: Peer Oscar Musinowski gibt Principaux eine offene, einnehmende, aber zugleich wendige Körpersprache, zeigt ihn aufrichtig besorgt um das Wohl der Frau, die seine Kinder tötete. Als er aber aufblickt zu ihr, huscht doch ein kleines, schräges Lachen über sein Gesicht. Celina Rongen indes spielt die Marlyne zerrissen: Sie ist ganz die Mütterlichkeit, voller Zuneigung für ihre Kinder und doch auch ihre Mörderin. […] als Marlyne ist sie ein gespaltenes Wesen, kann sich aus der besitzergreifenden Liebe ihres Mannes nur befreien, indem sie ihr Liebstes zerstört, und ist sich dessen bitter bewusst. Sie verschließt die Augen nicht vor ihrer Tat.

„Die Rache ist mein“ ist kein einfaches Stück, obschon Annalisa Engheben Marie NDiayes fast schon kryptischen Roman gekonnt auf seinen Kern reduziert hat. Die Gewissheiten gibt es nicht, die Gesellschaft ist ein Mobile, die Wahrheit ein Vexierspiel, und überall stehen die Fragezeichen.

Zur vollständigen Kritik
Online Merker
Alexander Walther, 12. Mär 23
Die Inszenierung macht vor allem deutlich, dass die handelnden Personen in eine immer stärkere Abhängigkeit voneinander geraten und dass sie zuletzt in der Gruppe regelrecht gefangen sind. Das gilt auch für die von Larissa Aimee Breidbach facettenreich dargestellte Sharon, für die von Wahnvorstellungen befallene und von Celina Rongen subtil gespielte Marlyne Principaux sowie den zwischen verschiedenen Welten hin- und hergerissenen Gilles Principaux, der von Peer Oscar Musinowski glaubwürdig gemimt wird. Schatten der Vergangenheit legen sich wie ein dunkles Netz über die Gegenwart: „Sie spürt etwas an mir, aber was?“ […]

[…] Es gab begeisterten Schlussbeifall für das gesamte Team.

Zur vollständigen Kritik

Einblicke zu „Die Rache ist mein“

SCHLAGLICHT – Gesellschaftsthemen auf der Bühne

Eine Kooperation von SWR2 mit dem Schauspiel Stuttgart