Der große Wind der Zeit (UA)
Schauspielhaus
Ab Klasse 10
Dauer – ca. 2:30 Std., eine Pause
In deutscher Sprache mit englischen Übertiteln
Uraufführung
Sa – 24. Feb 24
Sa – 24. Feb 24
Libby hat gerade ihren Militärdienst beendet und arbeitet als Verhörspezialistin für die israelische Armee. Aber sie hat den Teufelskreis von Gewalt und Repressalien satt. Als sie dem palästinensischen Studenten Adib begegnet und ihm näher kommt, nimmt sie sich eine Auszeit. Sie besucht ihren Großvater Dave in seinem Kibbuz in der Wüste. Dort stößt sie auf die Tagebücher ihrer Urgroßmutter Eva, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Palästina kam. Hier gründete sie mit anderen jungen Leuten einen Kibbuz, in dem ihr Sohn Dave als Einziger immer noch lebt. Mit Evas Tagebüchern begibt Libby sich in die Vergangenheit einer mutigen Frau, die Mann und Kind zurücklässt, um in Deutschland Tänzerin zu werden. Im Berlin der 1930er-Jahre lernt sie die Theaterszene um Bertolt Brecht kennen und wird mit dem aufkommenden Nationalsozialismus konfrontiert. Der große Wind der Zeit erzählt eine Familiengeschichte über vier Generationen, verwoben mit den dramatischen Ereignissen der letzten 100 Jahre. Die Vergangenheit spiegelt sich in der Gegenwart und prägt schließlich die Zukunft.
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Musik
Choreografie
Licht
Dramaturgie
„Ihr Großvater hat meine Großmutter vertrieben. Ihr habt uns ab 1949 nach Jordanien verjagt“, wirft Adib Libby vor. Und schon ist man mittendrin in der Frage, wer das Recht wozu hatte, nachdem Juden aus aller Welt vor den Nationalsozialisten nach Palästina flohen und der Staat Israel gegründet wurde.
Mit Libby und Adib stehen sich in Stephan Kimmigs Inszenierung Figuren gegenüber, die schon in dritter Generation einen scheinbar unlösbaren Konflikt miteinander austragen. … Zwischen den beiden entsteht eine Nähe. Doch sein Vorwurf der Vertreibung wiegt schwer.
… insgesamt ein kraftvoller Abend, dem es gelingt, beispielhaft Schlaglichter auf die Geschichte Deutschlands, Israels und Palästinas zu werfen, auf der Bühne nicht zu viel und nicht zu wenig zu zeigen, und dabei immer wieder zu berühren.
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Das Theater hält [der Dramatiker und Regisseur Joshua Sobol] in seiner Möglichkeit, menschliches Dasein zu beleuchten und wichtige Fragen zu stellen, für die „ultimative Kunstform“ und das Publikum für ein „intelligentes Wesen“. Als solches hat er es mit seinen kritischen, meist faktenbasierten Stücken zur Geschichte und Gegenwart Israels immer wieder herausgefordert und sich die Feindschaft rechtskonservativer und orthodoxer Kreise zugezogen.
Der 84-Jährige hat [für die Zukunft] eine Vision: die Bildung einer „nahöstlichen Gemeinschaft“ nach dem Vorbild der EU, eine florierende Union der Länder Israel, Jordanien, Saudi-Arabien und Ägypten, mit der Option eines eigenen Palästinenserstaates. Zu utopisch? „Ich glaube daran“, sagt Sobol. „Die Alternative ist eine Katastrophe.“ Wie hat Adib zu Libby am Ende ihres Verhörs gesagt? „Alles ist möglich, und alles ist unmöglich.“
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Sobols Story verschränkt die Geschichte der jüdischen Familie Chaimson mit dem Weltgeschehen. ... Der rote Faden bei Sobol: Libby tritt mit ihrer Vorfahrin in einen inneren Dialog, erkundet Evas Biografie, ihre Affären, ihre Flucht aus NS-Deutschland, ihre Aufbauarbeit in Israel.
Kimmig erzählt Sobols Jahrhundertepos eher leise, nachdenklich, unaufgeregt. Verzichtet auf illustrierende Klischees. Wie der Autor lässt er den Geschichten Zeit und viel Nachhall. Bezüge zu heute werden weder theatralisch verdoppelt noch besserwisserisch erklärt. Dass dennoch eine innere Spannung bleibt, ist auch ein Verdienst des Ensembles. Allen voran Paula Skorupas selbstbewusste Eva … Und Camille Dombrowskys coole, wache Libby, die zusammen mit dem palästinensischen Studenten Adib (Felix Strobel) die betonierten Narrative der Fronten hinterfragt und eine verborgene gemeinsame Familiengeschichte aufdeckt. Vielschichtig erzählt und ebenso inszeniert: starkes Theater, in dem kein einziger Tropfen Bühnenblut fließt – und das zum Überdenken selbstgewisser Positionen anregt. Viel Beifall für Autor, Ensemble und Regie.
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Sie fokussiert noch stärker auf die drei Hauptfiguren, deren wichtigste nur über ihre Tagebücher in die Geschichte schwappt. Von dem Moment an, als Camille Dombrowskys Libby die Aufzeichnungen ihrer Urgroßmutter Eva entdeckt, steht sie in Stephan Kimmigs Urauf-führung von Der große Wind der Zeit unter Strom. …
Eva ist ein Orkan, nicht sonderlich sympathisch, aber man kommt schwer gegen sie an. Weder „das Lederjackett“ Bert Brechts … noch Evas Nazi-Lover, mit dem sie am 30. Januar 1933 Hitler sprechen hört. Danach warnt sie ihre Eltern, die die Warnung für zionistische Propa-ganda halten, geht zurück nach Israel und bewaffnet sich. …
Als solle nichts von der Geschichte ablenken, verzichtet Kimmig auf Props. … Der Spielraum gehört ganz Skorupa, die ihn bereitwillig füllt: Inklusive einer Ausdruckstanzeinlage zwischen Persiflage und Abstrak-tion.
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Nervös, zweifelnd und suchend, so legt Camille Dombrowsky ihre Libby an, als eine Vertreterin der heutigen Generation. Sie geht in ein Zwiegespräch mit ihrer Urgroßmutter, als forsche und mutige Frau überzeugend gespielt von Paula Skorupa.
Eine Analyse der Situation, die auch die aktuelle Lage beschreibt, liefert schließlich Libbys Großvater: „Weißt du heute ist Verleugnung angesagt, man verleugnet die Realität und ist süchtig nach Betäubung, Infantilisierung, Gefühls- und Gehirnlähmung. Die Menschheit hat sich narkotisiert, die Alarmmechanismen sind blockiert. Man ist sediert und man wacht erst auf, wenn´s knallt.“
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Ein weit gespannter Erzählbogen, der den Nahost-Konflikt von seinen Ursprüngen her erzählen möchte, zugleich die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Geschichte einer starken weiblichen Protagonistin, die Geschichte einer konfliktbeladenen Gegenwart, all dies ineinander gespiegelt – jedes Theaterstück sollte unter einer solchen Last zusammenbrechen. … Genau das aber geschieht hier nicht. Regisseur Stephan Kimmig lässt die Handlung immer wieder zu klaren Schlüsselszenen kristallisieren; hinzu kommt ein vorzügliches Ensemble. …
Bis zur Schlussszene … ziehen sich Gesten der Annäherung motivisch durch die Inszenierung, versuchen Menschen, miteinander in Kontakt zu treten, über Grenzen hinweg, auch die der Zeit.
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… Auf der Bühne dominiert das Grau des Militärs und der Wüste, aber keineswegs das Schwarzweiß der Scharfmacher auf beiden Seiten. Die Inszenierung ist zeitlos – und kommt doch zur rechten Zeit.
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Die Eva der Paula Skorupa ist … ein kraftvoll zupackendes Energiebündel. Eine wie sie ist voll mit dabei, wenn die frühe israelische Kibbuz-Bewegung mit ihrem „Make love and state, not war and hate“ auf der Bühne so lustvoll abhebt, als sei das ein Prolog der Hippiebewegung aus den 1960er-Jahren.
… Auch in [der Berlin-]Passagen spielt Skorupa eine selbstbestimmte Frau, die einfach tut, was andere nie wagen würden: sich spielerisch vehement und intellektuell scharfzüngig ins Leben stürzen.
Immer sind da aber auch eine von ihrer Familiengeschichte verunsicherte Libby und ein nervös-neugieriger Adib, die sich näherkommen wollen, während Sobols herausfordernde Mehrgenera-tionentragödie von Stephan Kimmig so auf der Bühne verzahnt wird, dass auch die Zuschauer am Ball bleiben können, die den Roman nicht gelesen haben. Eine Herausforderung ist das schon, es sieht aber so aus, als sei es gelungen.
Spätestens im Berlin des heraufziehenden, bald allgegenwärtigen Nationalsozialismus, wo Eva sich – immer beobachtet von Libby –, erst mit „LJ“ alias „Leder-Jackett“ alias Berthold Brecht einlässt (Teresa Annina Korfmacher) und danach mit Nazi-Architekt Johann (wiederum David Müller), kommt die erstklassige Live-Musik von Max Braun – mal ein kaum hörbares Summen, mal harte Gitarrenriffs – in seiner offenen Chemise hoch oben im Betonbau voll zur Geltung.
… Der Weg ist also das Ziel – und dieser Weg, der große Wind der Zeit der zwei Lebensreisenden Libby und Eva, wird in Stuttgart stark in Szene gesetzt.
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[Eva] ist so klarsichtig und illusionslos, dass einem auch das in den Ohren schallt: die in dieser Rolle einfach wunderbare, rücksichtslos energiegeladene – und außerdem großartig hingebungsvoll tanzende – Paula Skorupa, wie sie die in Wien lebenden Eltern immer wieder anschreit, dass die Nazis Bestien seien. Die Eltern wollen aber nicht weg aus Wien, können sich nicht vorstellen, dass die Deutschen kommen werden, können sich nicht vorstellen, in ein Wüstenland ohne Kultur zu ziehen.
Die junge Eva im Kibbuz, in dem noch freie Liebe und totale Gemeinschaft praktiziert werden: Das sind auch lustige Szenen …
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Paula Skorupas Eva ist die dominante Figur in Kimmigs Inszenierung, lautstark, auch ironisch in durchaus komischen Nuancen. Etwa, wenn sie den drei Männern im Kibbuz eröffnet, dass sie schwanger sei, aber nicht wisse, von wem, und ihre verliebten Jungs wie begossene Pudel Eva alles Gute wünschen für Berlin. Erzählebenen und erzählte Zeit wechseln fließend … Die Episoden verdichten sich, zeigen auf, dass Liebe über Gräben Wege sucht, es viele individuelle Lügen, aber nur eine Wahrheit gibt. Apropos Brecht, den lernt Eva in Berlin kennen, nennt ihn kurz LJ – Lederjackett – und entlarvt ihn unerschrocken als bourgeoisen Macho, was sie nicht daran hindert, drei Tage später mit ihm zu schlafen.
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Mit keinem Wort wird die aktuelle Situation während der zweieinhalbstündigen Uraufführung erwähnt, sie schreibt sich aber ins Bühnenbild von Katja Haß ein. Ein Hybrid aus einem Betonskelettbau, Panzer und einer Kommandozentrale.
[Camille] Dombrowsky und Felix Strobel verhören gemeinsam ihre Vergangenheit. Und sie spielen dieses Paar überzeugend: zwei, die wie elektrisiert wirken, einander suchen, aber letztlich Solitäre bleiben…
Camille Dombrowskys Libby ist eine junge Frau auf der Suche nach einer eigenen Identität, die mit jugendlichem Trotz auf die allzu große Fürsorge ihres politisch rechtsgerichteten Vaters reagiert. … Felix Strobels Adib ist ein kultivierter junger Mann, der Wut und Rachegefühle hinter einer Maske höflicher Zurückhaltung nicht immer verbergen kann. Entsprechend emotionsgeladen sind ihre Dispute darüber, welche Seite mehr Schuld auf sich geladen hat.
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Der Regie gelingt es wunderbar, die Zeitebenen zu verschränken, mit historisierenden Kostümen (Anja Rabes) und live intonierter Begleitmusik (Max Braun) die komplexe Geschichte zu erzählen. …